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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9F_7/2008 
 
Urteil vom 9. September 2008 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Parteien 
B.________, 
Gesuchstellerin, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen, 
 
gegen 
 
Helsana Versicherungen AG, Versicherungsrecht, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf, 
Gesuchsgegnerin. 
 
Gegenstand 
Krankenversicherung, 
 
Revisionsgesuch gegen das Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts K 90/03 vom 4. November 2005. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Das Eidgenössische Versicherungsgericht verneinte am 4. November 2005 letztinstanzlich einen Anspruch der 1989 geborenen B.________ auf Leistungen der obligatorischen Krankenpflege- und Unfallversicherung für die Folgen eines Ereignisses vom 7. Juli 2000. Zur Begründung führte es aus, die beim Aufschlagen des Kiefers am Lenkrad eines - auf ein weiteres Fahrzeug aufprallenden - Auto-Scooters eingetretene Verletzung eines Zahnnervs (Obliteration des Frontzahns 11) sei nicht Folge eines Unfalls im Rechtssinne (Urteil K 90/03). 
 
B. 
B.________ lässt - unter Hinweis auf das zwischenzeitlich ergangene bundesgerichtliche Urteil K 136/06 vom 18. Januar 2008 (BGE 134 V 72) - ein Revisionsgesuch einreichen mit dem Rechtsbegehren, das Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 4. November 2005 sei aufzuheben und die Helsana Versicherungen AG sei zu verpflichten, für die Folgen des Unfallereignisses vom 7. Juli 2000 die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Das Revisionsgesuch bezieht sich auf ein Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, welches bis Ende 2006 als organisatorisch selbständige Sozialversicherungsabteilung des Bundesgerichts fungierte (Art. 122 OG). Auf den 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG) in Kraft getreten (AS 2006 1069). An die Stelle des Eidgenössischen Versicherungsgerichts sind zwei sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts getreten. Auf die nach dem Inkrafttreten des BGG eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts ist die neue Prozessordnung anwendbar (Art. 132 Abs. 1 erster Halbsatz BGG). Die Behandlung des Revisionsgesuchs aus dem Bereich der Krankenversicherung fällt (in Anlehnung an Art. 35 [lit. d] des Reglements vom 20. November 2006 für das Bundesgericht [BGerR; SR 173.110.131]; vgl. Art. 22 BGG) in die Zuständigkeit der II. sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. 
 
1.2 Die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts kann in Zivilsachen und öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unter anderem verlangt werden, wenn die ersuchende Partei nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht beibringen konnte, unter Ausschluss der Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem Entscheid entstanden sind (Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG). Die Gesuchstellerin macht geltend, dieser Revisionsgrund erfasse auch eine nachträgliche bundesgerichtliche Praxisänderung. 
 
2. 
2.1 
2.1.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht erwog im angefochtenen Urteil vom 4. November 2005 (auszugsweise publiziert in RKUV 2006 Nr. KV 351 S. 3), der Zusammenstoss von Auto-Scootern stelle nichts Ungewöhnliches dar. Da sich die Ungewöhnlichkeit (als Vorgabe des Unfallbegriffs nach Art. 4 ATSG) nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf diesen selber beziehen könne, ändere sich daran nichts, wenn sich eine Person den Mund anschlage. Eine äussere Einwirkung liege zwar vor; doch sei die Verletzung durch eine heftige Körperbewegung verursacht worden, die ihrerseits Folge des gewollten Zusammenstosses sei. Zweck der Vergnügungsfahrt sei es, sich einem unkoordinierten, unprogrammierten und damit auch von vornherein unkontrollierbaren Bewegungsablauf auszusetzen. Der gesamte Bewegungsablauf bilde eine Einheit. Daher könne auch die Störung der - durch den Aufprall ausgelösten - unkontrollierbaren Bewegung des Körpers durch das Hindernis Lenkrad nicht als Programmwidrigkeit angesehen werden, welche eine Ungewöhnlichkeit begründen würde (E. 3.3). 
2.1.2 Mit Urteil K 136/06 vom 18. Januar 2008 (BGE 134 V 72) erkannte das Bundesgericht, dass die rechtliche Bestimmung des Kriteriums der Ungewöhnlichkeit vorab darin besteht, Unfälle von krankheitsbedingten Schädigungen der körperlichen oder psychischen Integrität abzugrenzen. Die Zahnverletzung infolge eines Zusammenstosses während einer Auto-Scooter-Fahrt lässt sich - anders als ein Zervikalsyndrom aus gleicher Ursache - ihrer Natur nach zweifelsfrei einem äusseren Faktor zuordnen. Zudem ist mit dem Anschlagen des Kopfes am Lenkrad ein sinnfälliges und nicht regelmässig bei Auto-Scooter-Fahrten vorkommendes Zusatzereignis gegeben, das für sich allein die Ungewöhnlichkeit des Geschehens begründet. An der Praxis, wonach das Unfallbegriffsmerkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors bei Zahnschäden verneint wurde, die durch die Benützung von Auto-Scooter-Anlagen entstanden sind, konnte daher zufolge besserer Erkenntnis der Ratio legis nicht länger festgehalten werden (E. 4.3.3 und 5.1). 
 
2.2 Diese Änderung der Rechtsprechung bildet keinen Revisionsgrund im Sinne von Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG. Unter diesem Titel sind nur Tatsachen und Beweise bedeutsam, die im früheren Verfahren vorhanden waren, also nicht neu sind (unechte Noven; Elisabeth Escher, Basler Kommentar zum BGG, 2008, N 5 und 7 zu Art. 123). Die Geltendmachung echter Noven, das heisst von Tatsachen, die sich erst nach Abschluss des zu revidierenden Urteils zugetragen haben, ist ausgeschlossen (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007, N 7 zu Art. 123). Ohnehin ist der einschlägige Revisionsgrund immer nur dann gegeben, wenn das angefochtene Urteil auf einem falschen oder unvollständigen Sachverhalt beruht, welcher durch die Berücksichtigung nunmehr vorgebrachter Tatsachen oder Beweise korrigiert werden kann, was zu einem andern rechtlichen Ergebnis führt (Escher, a.a.O., N 6 zu Art. 123). Eine Praxisänderung entspricht hingegen einer rechtlichen Neubewertung. Eine geänderte oder präzisierte Rechtsprechung bildet denn auch regelmässig keinen Grund, revisionsweise auf eine formell rechtskräftige Verwaltungsverfügung zurückzukommen, weil es sich dabei nicht um neue oder geänderte Tatsachen handelt (BGE 120 V 128 E. 3b S. 131; 115 V 308 E. 4a/bb S. 313; Urteil 2P.216/1997 vom 1. Dezember 1997, E. 3c, und Urteil U 114/90 vom 16. März 1992, E. 3d, je mit Hinweisen). Dementsprechend galt vor dem Inkrafttreten des BGG eine Praxisänderung in einer Rechtsfrage nicht als neue Tatsache oder neues Beweismittel im Sinne von Art. 137 lit. b OG (Urteil 2A.274/2004 vom 1. Juni 2004, E. 3 mit Hinweisen). Die altrechtliche Praxis zu Art. 137 lit. b OG, welcher Bestimmung Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG entspricht (BGE 134 III 45 E. 2.1 S. 47 mit Hinweisen), ist unter der Geltung des BGG weiterzuführen. 
 
2.3 Die Rechtsprechung schliesslich, wonach eine ursprünglich fehlerfreie, aufgrund einer Rechtsprechungsänderung fehlerhaft gewordene Verfügung - aus Gründen der Rechtssicherheit freilich nur ausnahmsweise und unter engen Voraussetzungen - an die neue Praxis angepasst werden kann (BGE 115 V 308 E. 4a/dd S. 314; 112 V 387 E. 3c S. 394; SVR 1995 IV Nr. 60 S. 171 [I 382/94]), bezieht sich naturgemäss nur auf Verfügungen über Dauerrechtsverhältnisse (hier: Dauerleistungen; Alexandra Rumo-Jungo, Die Instrumente zur Korrektur der Sozialversicherungsverfügung, in: Schaffhauser/Schlauri (Hrsg.), Verfahrensfragen in der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 277 ff.; Ulrich Meyer-Blaser, Die Abänderung formell rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen in der Sozialversicherung, in: ZBl 1994, S. 350; vgl. auch Andreas Brunner/Noah Birkhäuser, Somatoforme Schmerzstörung - Gedanken zur Rechtsprechung und deren Folgen für die Praxis, insbesondere mit Blick auf die Rentenrevision, in: BJM 2007, S. 200 ff.). Der hier interessierende Leistungsanspruch fällt mithin von vornherein nicht in das Anwendungsfeld des Rechtsinstituts der Anpassung. 
 
3. 
3.1 Das Revisionsgesuch ist nach dem Gesagten unbegründet. Ein Schriftenwechsel ist nicht erforderlich (Art. 127 BGG). 
 
3.2 Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 BGG). Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Gesuchstellerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Das Revisionsgesuch wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Gesuchstellerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 9. September 2008 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Meyer Traub