Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
6B_353/2024
Urteil vom 9. September 2024
I. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
Bundesrichter Denys,
Bundesrichter von Felten,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unentschuldigtes Fernbleiben von einer Einvernahme (Widerrufsverfahren); überspitzter Formalismus, Zugang zum Gericht etc.,
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 27. März 2024 (UH240042-O/U/HON).
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland widerrief am 15. November 2023 den von ihr mit Strafbefehl vom 22. Oktober 2019 gewährten bedingten Vollzug für eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je Fr. 150.--. Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 27. November 2023 Einsprache. In der Folge wurde er am 4. Dezember 2023, unter Hinweis auf die Säumnisfolgen, auf den 18. Januar 2024, um 14.00 Uhr, beim "Obertor 17, 8400 Winterthur" zur Einvernahme vorgeladen. Da er unentschuldigt nicht erschien, trat die Staatsanwaltschaft am 20. Januar 2024 auf die Einsprache nicht ein und stellte die Rechtskraft der Widerrufsverfügung vom 15. November 2023 infolge Einspracherückzugs fest. Eine dagegen gerichtete Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich am 27. März 2024 ab.
2.
Mit Beschwerde an das Bundesgericht beantragt der Beschwerdeführer, den Beschluss des Obergerichts vom 27. März 2024 aufzuheben, das Einspracheverfahren fortzuführen und ihn ordnungsgemäss zu einer Einvernahme vorzuladen. Er macht überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV) geltend und rügt den Anspruch auf Zugang zum Gericht (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) als verletzt. Auf der ihm zugestellten Vorladung sei oben rechts als Absender-Adresse "Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland, Hermann Götz-Strasse 24, 8401 Winterthur" gestanden. Er habe sich dort zur angegebenen Zeit eingefunden, allerdings nur eine Riesenbaustelle für das Bezirksgebäude Winterthur angetroffen. In der Folge sei er darauf hingewiesen worden, dass er sich an der in der Vorladung vermerkten Adresse der Anmeldung "Obertor 17, 8400 Winterthur" einfinden müsse. Als ortsunkundige Person sei ihm dies nicht möglich gewesen; der Kollege, der ihn chauffiert habe, sei bereits zurückgefahren und sein Mobiltelefon habe sich zum damaligen Zeitpunkt in Reparatur befunden. Auf einer Vorladung eine falsche Adresse anzugeben und eine rund einen Kilometer davon entfernte andere Adresse als "Anmeldung" zu vermerken, sei irreführend. Der ortsunkundige Betroffene dürfe davon ausgehen, dass sich die "Anmeldung" in unmittelbarer Nähe der "Absender-Adresse" befinde, die er als "Vorladungs-Adresse" begreife.
3.
Nach Art. 201 Abs. 1 StPO ergehen Vorladungen der Staatsanwaltschaft [...] schriftlich. Was sie zu enthalten haben, ergibt sich aus Abs. 2 der genannten Bestimmung: Sie müssen insbesondere die vorladende Behörde und die für sie handelnde Person, die Person und prozessuale Eigenschaft des Vorgeladenen, den Gegenstand der Prozesshandlung, Ort und Zeit der Verfahrenshandlung und die Folgen des Ausbleibens enthalten (JOSITSCH/SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, N. 5-11 zu Art. 201 StPO)
Wer von einer Strafbehörde vorgeladen wird, hat der Vorladung Folge zu leisten (Art. 205 Abs. 1 StPO).
Bleibt eine Einsprache erhebende Person trotz (ordnungsgemässer) Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen (Art. 355 Abs. 2 StPO).
Der Strafbefehl ist mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) bzw. dem konventionsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu einem Gericht mit voller Überprüfungskompetenz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) nur vereinbar, weil es letztlich vom Willen des Betroffenen abhängt, ob er diesen akzeptieren oder mit Einsprache vom Recht auf gerichtliche Überprüfung Gebrauch machen will (BGE 146 IV 30 E. 1.1.1; 142 IV 158 E. 3.1; 140 IV 82 E. 2.3). Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung des Einspracherechts setzt die gesetzliche Rückzugsfiktion nach der Rechtsprechung voraus, dass die beschuldigte Person effektiv Kenntnis von der Vorladung hat und dass sie hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihr verständlichen Weise belehrt wurde. Die Rückzugsfiktion kommt nur zum Tragen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (BGE 146 IV 286 E. 2.2, 30 E. 1.1.1; 142 IV 158 E. 3.1 und E. 3.3).
4.
4.1. Der Beschwerdeführer moniert eine nicht ordnungsgemässe Vorladung und damit einhergehend einen nicht effektiven Zugang zum Gericht und überspitzten Formalismus. Seiner Kritik kann indessen nicht gefolgt werden. Die fragliche Vorladung ist, worauf das Obergericht weder willkürlich noch rechtsfehlerhaft schliesst, unmissverständlich und klar. Sie ist mit einem Briefkopf, einem Mittelteil und einer Grussformel übersichtlich strukturiert. Die Absender-Adresse im Briefkopf der Vorladung oben rechts ist mit "Hermann Götz-Strasse 24, 8401 Winterthur" vermerkt und gibt (lediglich) darüber Auskunft, wo die Amtsstelle domiziliert ist und von wo aus diese ihre Post verschickt. Im Mittelteil der Vorladung werden unter dem Titel "Vorladung in Strafsachen (Art. 201 ff. StPO) " sämtliche Bestandteile der eigentlichen Vorladung im Sinne von Art. 201 Abs. 1 StPO, teilweise im Fettdruck, Punkt für Punkt genannt, darunter namentlich auch das Datum, die Zeit und der Ort des Erscheinens und damit die Information, wann und wo sich der Beschwerdeführer zur Vornahme der Verfahrenshandlung anzumelden bzw. einzufinden hat, nämlich konkret beim "Obertor 17, 8400 Winterthur". Was an der Vorladung vom 4. Dezember 2023 unklar sein sollte bzw. weshalb sie diesbezüglich Anlass zu einem Irrtum gegeben haben könnte, erschliesst sich damit nicht ansatzweise. Dass sich der Beschwerdeführer an die Absender-Adresse der Amtsstelle und nicht an den Anmeldungsort "Obertor 17, 8400 Winterthur" begab, hat er sich selbst zuzuschreiben. Der Vorwurf, die Vorladung enthalte eine falsche Adresse bzw. sei irreführend, entbehrt ebenso wie die in der Beschwerde vertretene Auffassung, die Absender-Adresse dürfe (vorliegend) als Vorladungs-Adresse begriffen werden, jeglicher Grundlage.
4.2. Der Beschwerdeführer wurde bei der Amtsstelle durch eine Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland darauf hingewiesen, er müsse sich - wie es auf der Vorladung stehe - zum "Obertor 17, 8400 Winterthur" begeben. Dort erschien er trotz dieses Hinweises unbestrittenermassen allerdings weder zur Einvernahme noch meldete er sich telefonisch. Als Grund für sein Nichterscheinen macht der Beschwerdeführer auch vor Bundesgericht lapidar geltend, ortsunkundig zu sein, und bringt zudem vor, der Kollege, der ihn zur Amtsstelle chauffiert habe, sei bereits weggefahren bzw. nicht mehr vor Ort gewesen und sein Mobiltelefon habe sich zu der Zeit in Reparatur befunden. Seine Vorbringen, soweit novenrechtlich überhaupt zulässig (Art. 99 BGG), erschöpfen sich in unbelegten Behauptungen, aus denen sich - selbst wenn sie zuträfen - nichts zu seinen Gunsten ableiten liesse. Weder aus den Akten noch aus dem angefochtenen Beschluss oder der Beschwerde ergibt sich, dass sich der Beschwerdeführer auch nur im Ansatz ernsthaft darum bemüht hätte, um von der Amtsstelle an den - wie verbindlich festgestellt - lediglich 10 Gehminuten entfernten Anmeldungsort zur Einvernahme zu gelangen, und dies, obwohl ihm geradezu augenfällig eine Vielzahl von gangbaren Möglichkeiten/Massnahmen zur Verfügung gestanden hätten. Unter diesen Umständen verletzt es folglich kein Bundesrecht, wenn vorliegend auf ein Desinteresse am weiteren Verfahren geschlossen wird und das Obergericht die Einsprache gestützt auf Art. 355 Abs. 2 StPO mit der Staatsanwaltschaft als zurückgezogen betrachtet. Selbst bei der erforderlichen restriktiven Anwendung der genannten Bestimmung rechtfertigt sich die entsprechende Rechtsfolge. Eine Verletzung der Verfahrensrechte liegt nicht vor.
4.3. Wie die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland bei einem allfällig verspäteten Eintreffen des Beschwerdeführers verfahren wäre, muss offenbleiben. Das Obergericht weist richtig darauf hin, dass die StPO keine "Respektstunde" kenne (s. BGE 145 I 201 E. 4.2.1 S. 205; s.a. CHRISTOF RIEDO, in: Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 8, 9 und 10 zu Art. 93 StPO; JOSITSCH/SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2023, N. 1 zu Art. 93 StPO), das Verbot des überspitzten Formalismus dennoch zu beachten und nach der Rechtsprechung unter Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der auf dem Spiel stehenden Interessen zu prüfen wäre, ob die strikte Anwendung der prozessualen Regeln verhältnismässig wäre und sich die Säumnisfolgen rechtfertigen liessen (BGE, a.a.O., E. 4.2.1 S. 205). Dass dem Beschwerdeführer, wie das Obergericht weiter ausführt, entsprechende Anstrengungen "wahrscheinlich ermöglicht" hätten, "mit relativ wenig Verspätung und damit im Sinne der erwähnten Bundesgerichtspraxis wohl noch ausreichend zeitnah zum Einvernahmetermin zu erscheinen, sodass die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland möglicherweise noch keine Säumnis angenommen hätte", mag zwar so sein, bleibt aber für die Beurteilung des vorliegenden Falles angesichts des Nichterscheinens des Beschwerdeführers unerheblich. Weitere Ausführungen hierzu erübrigen sich.
5.
Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109 BGG abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Aufgrund des verhältnismässig geringen Aufwands sind ihm reduzierte Kosten aufzuerlegen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 9. September 2024
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill