Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
[AZA 7] 
I 326/00 Gb 
 
III. Kammer 
 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter 
Ursprung; Gerichtsschreiberin Keel Baumann 
 
Urteil vom 9. November 2001 
 
in Sachen 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
R.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch ihre Mutter und diese vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Dorrit Freund, Susenbergstrasse 150, 8027 Zürich, 
 
und 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
A.- Die 1983 geborene R.________ wurde von ihren Eltern im September 1998 unter Hinweis auf im Jahre 1994 aufgetretene Wachstumsstörungen im Knie bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen holte bei der Orthopädischen Klinik X.________ einen Bericht vom 6. Oktober 1998 ein, in welchem als Diagnose aufgeführt wird: Status nach Medialisierung der Tuberositas tibiae und Spaltung des lateralen Retinaculum links bei rezidivierender habitueller Patellasubluxation beidseits bei Trochleadysplasie und Patelladysplasie beidseits am 30. Juli 1998, Status nach Ali Krogius Goldwaith Kniegelenk links am 17. Oktober 1995, generelle Hyperlaxitität. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 4. Dezember 1998 einen Anspruch auf medizinische Massnahmen mit der Begründung, gemäss dem Bericht der Klinik X.________ vom 6. Oktober 1998 liege eine Fehlhaltung der Kniescheibe und des Oberschenkelknochens vor, womit die Voraussetzungen für die Zusprechung von Leistungen nicht erfüllt seien. In einem an den Vertrauensarzt der IV-Stelle gerichteten Schreiben vom 18. Dezember 1998 hielt Prof. Dr. med. Y.________, Leitender Arzt der Abteilungen Kinder- und Tumororthopädie an der Orthopädischen Klinik X.________, in Ergänzung zum Arztbericht vom 6. Oktober 1998 fest, dass das Leiden der Versicherten als Geburtsgebrechen unter Ziff. 177 GgV-Anhang falle. 
 
 
B.- Die von der durch ihren Vater vertretenen Versicherten hiegegen erhobene Beschwerde mit dem sinngemässen Antrag auf Anerkennung der Knieprobleme als Geburtsgebrechen (Ziff. 177 GgV-Anhang) und Zusprechung medizinischer Massnahmen hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 28. April 2000 gut. 
 
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Entscheides. 
R.________, vertreten durch ihre Mutter, welche letztinstanzlich anwaltlich vertreten ist, lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während die IV-Stelle deren Gutheissung beantragt. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Gemäss Art. 13 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 
20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden. Er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2). 
Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GgV). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang (zur GgV) aufgeführt; das Eidgenössische Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen, die nicht in der Liste im Anhang enthalten sind, als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG bezeichnen (Art. 1 Abs. 2 GgV). 
In Ziff. 177 GgV-Anhang werden als Geburtsgebrechen übrige angeborene Defekte und Missbildungen der Extremitäten, sofern Operation, Apparateversorgung oder Gipsverband notwendig sind, erwähnt. 
Gemäss Rz 177. 4 Satz 1 des bundesamtlichen Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME) in der vorliegend anwendbaren, vom 1. Januar 1994 bis 31. Oktober 2000 geltenden Fassung ist die habituelle Patellaluxation bei Minderjährigen infolge Hypoplasie der Patella oder des Condylus femoris lateralis unter Ziff. 177 GgV-Anhang zu subsumieren, nicht aber eine Patelladysplasie (Typus Wyberg usw.) oder eine Patella alta und andere Lageanomalien der Kniescheibe bzw. eine Dysplasie des Condylus femoris lateralis. 
 
2.- a) Die Vorinstanz hat erwogen, bei der Beschwerdegegnerin habe eine beidseitige Patellaluxation operiert werden müssen, die infolge einer angeborenen Dysplasie (Fehlentwicklung bzw. Fehlbildung) ihrer Kniescheiben entstanden sei. Die Behandlung derartiger Folgeerscheinungen sei bei einer angeborenen Hypoplasie (Unterentwicklung) der Kniescheibe nach Rz 177. 4 KSME ausdrücklich als Geburtsgebrechen zu übernehmen. Mit der IV-Stelle sei zwar davon auszugehen, dass eine Patelladysplasie, wenn sie keine Funktionsstörung bewirke, nicht als Geburtsgebrechen anerkannt werden könne. Wenn die Fehlentwicklung indessen, wie bei der Beschwerdegegnerin, zu einer Luxation im Kniegelenk führe, deren Behebung eine Operation erforderlich mache, gehöre dieses Leiden - ebenso wie dasjenige einer Patellaluxation infolge einer angeborenen Unterentwicklung - zu den Geburtsgebrechen, deren Behandlung die Invalidenversicherung zu übernehmen habe. Es sei nicht einzusehen, weshalb die gleiche Funktionsstörung bei angeborener Unterentwicklung der Kniescheibe, nicht aber wenn eine Fehlentwicklung des gleichen Skelettteils deren Ursache sei, ein Geburtsgebrechen darstelle. Die bei der Versicherten aufgetretene Patellaluxation sei somit als Geburtsgebrechen anzuerkennen, weil sie als Folge einer angeborenen Missbildung der Kniescheibe entstanden sei. Diese Schlussfolgerung dränge sich umso mehr auf, als auf den 1. Januar 1999 auch die angeborene Luxation des Kniegelenks, sofern Operation, Apparateversorgung oder Gipsverband notwendig sind, in den GgV-Anhang (Ziff. 194) aufgenommen worden sei und das BSV in seinem Kreisschreiben Nr. 149 vom 28. Juli 1999 die Liste der Geburtsgebrechen mit Wirkung auf den 1. Oktober 1999 in Ziff. 195 mit der angeborenen Patellaluxation, sofern eine Operation notwendig ist, ergänzt habe, ohne dabei eine Einschränkung nach den einzelnen Ursachen einzufügen. 
 
b) Diesen Erwägungen kann nicht beigepflichtet werden. 
Wie das BSV in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend geltend macht, kann eine habituelle Patellaluxation - wie sie bei der Versicherten unbestrittenermassen vorliegt - gemäss der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht (ZAK 1975 S. 161 und 1977 S. 538) nicht beanstandeten Verwaltungspraxis (vgl. damalige Rz 213 (177) KSME und Rz 177. 4 KSME in der vorliegend massgebenden, vom 1. Januar 1994 bis 31. Oktober 2000 geltenden Fassung) unter Ziff. 177 GgV-Anhang subsumiert werden, wenn sie auf einer Hypoplasie der Patella oder des Condylus femoris lateralis beruht, worunter die unvollkommene Ausbildung (Volumenverminderung) der Kniescheibe bzw. des lateralen Oberschenkelknochens zu verstehen ist. Nicht als Geburtsgebrechen anerkannt werden kann hingegen eine Patelladysplasie (Typus Wiberg usw. ; vgl. Rz 177. 4 KSME), welche - anders als die Hypoplasie - keine knöcherne Missbildung darstellt. 
Da bei der Beschwerdegegnerin gemäss den medizinischen Akten (Bericht der Orthopädischen Klinik X.________ vom 6. Oktober 1998, Schreiben des Prof. Dr. med. Y.________ vom 18. Dezember 1998) nicht eine Hypoplasie, sondern eine Dysplasie der Patella vorliegt, welche nach dem Gesagten nicht als Geburtsgebrechen zu qualifizieren ist, steht der Versicherten kein Anspruch auf Leistungen gemäss Art. 13 IVG zu. Daran vermag nichts zu ändern, dass - worauf die Vorinstanz zur Stützung ihres Standpunktes hinweist - die angeborene und operativ zu behandelnde Patellaluxation unabhängig von deren Ursache mit Wirkung auf den 1. Oktober 1999 in die Liste der Geburtsgebrechen aufgenommen worden ist, weil diese Ergänzung nach Erlass der Verfügung vom 4. Dezember 1998 erfolgt ist. 
 
 
 
3.- Zu prüfen bleibt, ob eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung gemäss Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG in Betracht fällt. 
 
a) Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat ein Versicherter Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Um Behandlung des Leidens an sich geht es in der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen pathologischen Geschehens. Die Invalidenversicherung übernimmt in der Regel nur solche medizinische Vorkehren, die unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler oder wenigstens relativ stabilisierter Defektzustände oder Funktionsausfälle hinzielen und welche die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (BGE 120 V 279 Erw. 3a mit Hinweisen; AHI 2000 S. 64 Erw. 1). 
Bei nichterwerbstätigen minderjährigen Versicherten ist zu beachten, dass diese als invalid gelten, wenn ihr Gesundheitsschaden künftig wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung können daher medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden (BGE 105 V 20; AHI 2000 S. 64 Erw. 1). 
 
b) Als stabile oder mindestens relativ stabilisierte Defektzustände oder Funktionsausfälle bei Gelenkschäden gelten nach ständiger, auch auf Minderjährige anwendbarer Rechtsprechung nur solche im knöchernen Bereich, d.h. im Bereich des Skeletts selbst unter Ausschluss der Knorpelpartien sowie des Bänder- und Muskelsystems. Mit anderen Worten werden Operationen im Kniegelenk dann als medizinische Eingliederungsmassnahmen anerkannt, wenn sie der Beseitigung oder Korrektur eines stabilen Skelettdefektes und dessen unmittelbaren mechanischen Folgen gelten. Als medizinische Massnahmen übernimmt die Invalidenversicherung deshalb die Korrektur von Skelettdeformitäten als Ursache der Patellaluxation, nicht aber die Behebung von Störungen an den Knorpelpartien oder am Zug- und Haltesystem des Knies. Sind diese Ursachen (Formveränderungen am Skelett einerseits, Störungen am aktiven oder passiven Streckapparat andererseits) kombiniert, d.h. liegt eine Mischform vor, ist jeweils zu prüfen, ob die Luxation vorwiegend auf die Knochenmissbildung oder auf andere Ursache zurückgeführt werden muss, was sich gewöhnlich anhand der angewandten Operationsmethode zuverlässig beurteilen lässt (BGE 101 V 60; ZAK 1977 S. 539 Erw. 1b, 1975 S. 163 Erw. 2, je mit Hinweisen). 
 
c) Die bei der Beschwerdegegnerin diagnostizierte Patelladysplasie, welche im Oktober 1995 mit einer Weichteiloperation nach Ali Krogius Goldwaith (Bericht der Orthopädischen Klinik X.________ vom 10. April 1996) und im Juli 1998 mit einer Operation zur besseren Zentrierung der Patella und des Streckapparates (Berichte der Orthopädischen Klinik X.________ vom 27. März und 5. August 1998) angegangen wurde, stellt, wie bereits in Erw. 2b hievor dargelegt, keine knöcherne Missbildung dar. Somit steht im Falle der Beschwerdegegnerin nicht die Korrektur eines gegenwärtigen oder künftigen Skelettdefektes im Sinne der Rechtsprechung in Frage. Auch unter diesem Blickwinkel lässt sich die ablehnende Verfügung der IV-Stelle somit nicht beanstanden (vgl. in diesem Sinne auch Rz 177. 4 KSME in der ab 1. November 2000 geltenden Fassung, wonach "eine Patelladysplasie [...] auch nicht gestützt auf Art. 12 IVG übernommen werden" kann). Vielmehr muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass die anbegehrte Massnahme in den Bereich der Krankenversicherung gehört. 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird 
der Entscheid des Versicherungsgerichtes des Kantons 
St. Gallen vom 28. April 2000 aufgehoben. 
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der IV-Stelle des Kantons St. Gallen und der Ausgleichskasse des Kantons 
 
 
St. Gallen zugestellt. 
Luzern, 9. November 2001 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: 
 
Die Gerichtsschreiberin: