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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.557/2002 /bie 
 
Urteil vom 9. Dezember 2002 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesrichter Nay, Féraud, 
Gerichtsschreiber Forster. 
 
X.________, Beschwerdeführer, handelnd durch Vormund Günther Stahl, Amtsvormund, Badstrasse 15, 5400 Baden, 
und dieser vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter F. Siegen, Postfach 7337, 8023 Zürich, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau, 
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, 
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Art. 29 Abs. 2 und Art. 9 BV (Strafverfahren), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, vom 5. September 2002. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am 3. Mai 2001 verurteilte das Bezirksgericht Baden X.________ wegen bandenmässigen Diebstahls, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Drohung, mehrfachen Hausfriedensbruches, mehrfacher Entwendung eines Motorfahrrades zum Gebrauch und weiteren Delikten zu acht Monaten Gefängnis (unbedingt) und einer Busse von Fr. 100.--. Gleichzeitig wurde eine vollzugsbegleitende ambulante (persönlichkeitsbezogene, psycho- und arbeitstherapeutische) Massnahme angeordnet. Eine am 26. Mai 2000 durch das Jugendgericht Baden ausgefällte und (zugunsten einer Massnahme i.S.v. Art. 92 Abs. 1 StGB) aufgeschobene Strafe von zwei Wochen Gefängnis wurde für vollziehbar und (nach hälftiger Anrechnung der im Jugendheim Aarburg vollzogenen jugendstrafrechtlichen Massnahme) als bereits verbüsst erklärt. 
B. 
Gegen das Urteil des Bezirksgerichtes Baden erhob der Verurteilte (im Sanktionspunkt) Berufung. Mit Erkenntnis vom 5. September 2002 hiess das Obergericht (1. Strafkammer) des Kantons Aargau die Berufung teilweise gut. Es verurteilte X.________ zu fünf Monaten Gefängnis (unbedingt) und einer Busse von Fr. 100.--. Gleichzeitig ordnete es eine vollzugsbegleitend durchzuführende ambulante (medizinisch-pharmakologische, psychotherapeutische und sozialpädagogische) Massnahme an. Im Übrigen wies das Obergericht die Berufung ab. 
C. 
X.________ erhob gegen das Urteil des Obergerichtes am 21. Oktober 2002 staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Er rügt eine Verletzung von Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. 
 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Aargau beantragen mit Vernehmlassungen vom 29. bzw. 30. Oktober 2002 je die Abweisung der Beschwerde. Mit prozessleitender Verfügung vom 15. November 2002 erteilte der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes der Beschwerde die aufschiebende Wirkung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid erscheine "mit Bezug auf die Frage, ob die Strafe zugunsten der ambulanten Massnahme aufzuschieben sei, nicht hinreichend begründet". Es genüge nicht, dass der Richter die rechtlichen Voraussetzungen des Strafvollzuges nenne; er müsse zudem prüfen, ob diese Voraussetzungen im konkreten Fall effektiv erfüllt sind oder nicht. Im angefochtenen Entscheid würden diesbezüglich die wesentlichen Fragen offen gelassen. Das Obergericht führe lediglich aus, die Heilungsaussichten seien im Falle des Beschwerdeführers nicht derart, dass sich ein Aufschub rechtfertigen würde; es erkläre jedoch nicht, "welcher Art" die Heilungschancen seien. 
 
Es sei "offensichtlich, dass die Begründung einen Gedankensprung" aufweise. Nach Ansicht des Beschwerdeführers "hätte das Obergericht zuerst die Erfolgsaussichten einer ambulanten Behandlung erörtern" und "Feststellungen treffen müssen, was der Gutachter erklärt hat". Dazu fehle es im angefochtenen Entscheid jedoch an konkreten Aussagen. "Von welchem Sachverhalt das Obergericht ausgeht", sei ungewiss. Mangels ausreichender Begründung sei der Beschwerdeführer "nicht in der Lage, eine Nichtigkeitsbeschwerde zu verfassen". Dadurch würden sein in Art. 29 Abs. 2 BV verankerter Anspruch auf rechtliches Gehör und das Willkürverbot von Art. 9 BV verletzt. 
2. 
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) verlangt, dass der Entscheid so begründet wird, dass der Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann. Dies ist nur möglich, wenn sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheides ein ausreichendes Bild machen können. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde leiten liess und auf welche sich ihr Entscheid stützt. Dabei muss sich die Begründung nicht mit jeder tatsächlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand ausdrücklich auseinander setzen. Es genügt vielmehr, wenn die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte genannt werden (BGE 126 I 97 E. 2b S. 102 f.; 124 II 146 E. 2a S. 149; 123 I 31 E. 2c S. 34; 122 IV 8 E. 2c S. 14 f., je mit Hinweisen). 
3. 
Die Begründung des angefochtenen Entscheides ist wie folgt aufgebaut: 
3.1 Zunächst werden die Erwägungen dargelegt, von denen sich die kantonale Vorinstanz leiten liess. Das Bezirksgericht Baden habe festgestellt, dass im Falle des Beschwerdeführers eine besondere Behandlungsbedürftigkeit zu bejahen sei. Gemäss dem damals vorliegenden Gutachten bestünden beim Beschwerdeführer nur (aber immerhin) geringe Chancen, dass er "mit entsprechender Betreuung charakterlich stabilisiert und eventuell arbeitsfähig gemacht werden könne". Zwar seien die Voraussetzungen für die Anordnung einer Massnahme gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB grundsätzlich gegeben. Anlässlich der Hauptverhandlung habe der Beschwerdeführer jedoch geltend gemacht, er brauche keine Therapie. Zu einer intensiven psychiatrischen Behandlung habe er sich nicht bereit erklärt, und er weigere sich, für eine ambulante Behandlung die Psychiatrische Klinik Königsfelden (PKK) aufzusuchen. Mangels Massnahmewilligkeit erscheine daher eine stationäre Massnahme nicht erfolgsversprechend. Ein Aufschub des Strafvollzuges sei aber nur dann angezeigt, wenn eine tatsächliche Aussicht auf erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde. Bei dieser Sachlage erscheine es gerechtfertigt, eine vollzugsbegleitende ambulante Massnahme anzuordnen, zumal Aussichten bestünden, dass sich der Beschwerdeführer unter dem Eindruck des Strafvollzuges einsichtig bzw. massnahmewillig zeigen werde. 
3.2 Anschliessend wird im angefochtenen Entscheid der wesentliche Sachverhalt zusammengefasst. Der Beschwerdeführer habe über Jahre hinweg trotz strafrechtlicher Verurteilungen und diverser Therapiebemühungen weiter einschlägig delinquiert. Das Obergericht habe ein zusätzliches Gutachten bei der PKK eingeholt. Darin werde festgestellt, dass der Beschwerdeführer an einer krankheitswertigen Störung des Sozialverhaltens mit aggressiven Durchbrüchen sowie an Minderintelligenz leide. Vom Beschwerdeführer gehe zweifelsohne eine Gefährdung für Dritte aus, die aber (hinsichtlich ihrer Intensität) "eher als gering" einzuschätzen sei. Laut Gutachten könne eine ambulante Behandlung "für sich allein" die Rückfallsgefahr "nur in geringem Ausmass" vermindern. Wenn es gelinge, für den Beschwerdeführer "eine Tagesstruktur im Sinne eines geschützten oder beschützten Arbeitsplatzes auf Dauer sicherzustellen und darüber hinaus eine gute Sozialbetreuung zu gewährleisten", bessere sich die Prognose. Er bedürfe einer "kombinierten medizinisch-pharmakologischen, psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Behandlung". Bezüglich der Massnahmewilligkeit stelle das Gutachten fest, dass sich der Beschwerdeführer "derzeit, wenn auch nur widerwillig", einer ambulanten Therapie unterziehe. Eine stationäre Massnahme habe demgegenüber laut Meinung des Experten wenig Erfolgsaussichten (vgl. angefochtener Entscheid, S.11-13 sowie S.21 f.). 
3.3 Das Obergericht geht sodann von folgenden rechtlichen Erwägungen aus: Angesichts des Vorlebens des Verurteilten und des Umstandes, dass der Beschwerdeführer trotz früherer Verurteilungen (vom 26.Mai 2000 sowie vom 27.Juli und 23.Oktober 2001) erneut einschlägig habe bestraft werden müssen, könne für ihn keine günstige Prognose ausgesprochen werden, weshalb die Freiheitsstrafe von fünf Monaten Gefängnis unbedingt auszufällen und zu vollziehen sei (angefochtener Entscheid, S.18 E.4d). Zwar könne der Richter die Freiheitsstrafe auch zugunsten einer ambulanten Massnahme aufschieben, sofern der Täter für Dritte nicht gefährlich ist (Art.43 Ziff.2 Abs.2 i.V.m. Ziff.1 StGB). Der Strafaufschub sei jedoch nur anzuordnen, wenn der sofortige Vollzug der Strafe mit einer vordringlichen (und wirkliche Aussicht auf Erfolg eröffnenden) Behandlung unvereinbar wäre oder diese erheblich beeinträchtigen würde. Die Therapie gehe demnach nur vor, falls eine sofortige Behandlung gute Resozialisierungschancen bietet, welche der Vollzug der Freiheitsstrafe klarerweise verhindern oder vermindern würde. Falls der Richter von der Möglichkeit des Strafaufschubes keinen Gebrauch macht, werde die ausgefällte Freiheitsstrafe vollstreckt und es werde versucht, die ambulante Massnahme während des Strafvollzuges zumindest einzuleiten. Bei kürzeren Strafen könne die Vollzugsbehörde im Rahmen der Entlassungsvorbereitung die Fortsetzung der Massnahme mittels Weisungen anordnen (vgl. angefochtener Entscheid, S.18f. E.5b/aa). 
3.4 Ausgehend von diesen Erwägungen, kommt das Obergericht zu folgendem Schluss: "Angesichts des Umstandes, dass die Erfolgsaussichten einer stationären Massnahme gemäss Gutachten gering sind und bis anhin sämtliche Versuche, den Angeklagten in eine geeignete Institution zu integrieren, gescheitert sind, kommt eine stationäre Massnahme vorliegend nicht in Betracht. Es ist deshalb gestützt auf das Gutachten eine ambulante kombinierte medizinisch-pharmakologische, psychotherapeutische und sozialpädagogische Betreuung anzuordnen. Die Heilungsaussichten der Therapie im Externen Psychiatrischen Dienst sind nicht derart, dass sich ein Aufschub der Strafe rechtfertigen würde. Auch der Gutachter ist der Auffassung, dass die Massnahme vollzugsbegleitend durchgeführt werden kann. Daran vermag der Umstand, dass der Angeklagte seit April 2002 im 'Wendepunkt' arbeitet und es dort bisher gut gelaufen ist, nichts zu ändern. Die ambulante Massnahme kann nicht dazu dienen, trotz ständiger Delinquenz den Strafvollzug ohne Not zu umgehen. Die ambulante Massnahme ist daher vollzugsbegleitend durchzuführen" (angefochtener Entscheid, S.22 E.5d/bb-cc). 
4. 
Aus den dargelegten Erwägungen des angefochtenen Entscheides ergibt sich, dass sowohl die Verweigerung des bedingten Strafvollzuges als auch die Verweigerung des Strafaufschubes zugunsten einer ambulanten Massnahme unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs ausreichend begründet wurde. Es lassen sich ihnen die wesentlichen Gründe entnehmen, weshalb das Obergericht den Vollzug der Freiheitsstrafe anordnete und keinen Strafaufschub zugunsten der ambulanten Massnahme gewährte. 
 
Daran ändert auch das Vorbringen des Beschwerdeführers nichts, die Begründung enthalte seiner Ansicht nach einen "Gedankensprung". Soweit er ausführlich darlegt, wie die Urteilsmotive seiner Ansicht nach aufzubauen gewesen wären, enthält die Beschwerde unzulässige appellatorische Kritik an den Erwägungen des Obergerichtes (vgl. Art.90 Abs.1 lit.b OG), indem nicht dargelegt wird, inwiefern diese das rechtliche Gehör verletzten bzw. den Verurteilten am Beschreiten des Rechtsweges behinderten. Dabei verkennt der Beschwerdeführer, dass dem Richter bei der Strukturierung seiner Erwägungen ein weit gehendes Ermessen zukommt und die Urteilsbegründung sich nach der dargelegten Praxis des Bundesgerichtes nicht ausnahmslos mit sämtlichen Vorbringen der Parteien ausdrücklich und im einzelnen auseinander zu setzen braucht. Der Vorwurf, das Obergericht habe die relevanten Feststellungen des Gutachters nicht wiedergegeben und sich zu den gutachterlich festgestellten bzw. für einen Strafaufschub notwendigen Therapieaussichten nicht geäussert, erschiene im Übrigen offensichtlich unzutreffend (vgl. oben, E.3.2-3.4). 
5. 
Damit erweist sich die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs als unbegründet, soweit sie ausreichend substanziiert erscheint. Das ebenfalls angerufene Willkürverbot (Art.9 BV) hat in diesem Zusammenhang keine über das bereits Dargelegte hinausgehende selbstständige Bedeutung. 
 
Soweit der Beschwerdeführer die Erwägungen des Obergerichtes beiläufig auch noch in materieller Hinsicht kritisiert bzw. vorbringt, das Obergericht habe beim Verzicht auf einen Strafaufschub nach Art.43 Ziff.2 Abs.2 StGB sein "Ermessen nicht richtig ausgeübt", ist auf die Beschwerde nicht einzutreten, zumal eine Rüge der Verletzung von materiellem Bundesstrafrecht mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde zu erheben gewesen wäre (Art.84 Abs.2 OG i.V.m. Art.269 Abs.1 BStP; vgl. auch BGE 120 IV 1 ff.). 
 
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art.156 Abs.1 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie eingetreten werden kann. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht, 1. Strafkammer, des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 9. Dezember 2002 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: