Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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9C_460/2016 {T 0/2}
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Urteil vom 10. Januar 2017
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Dormann.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Nadeshna Ley,
Beschwerdeführerin,
gegen
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 12. Mai 2016.
Sachverhalt:
A.
Die 1960 geborene A.________ meldete sich im Februar 2014 bei der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (nachfolgend: SVA) zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Am 18. September 2014 teilte Rechtsanwältin Nadeshna Ley der SVA unter Hinweis auf die Anwaltsvollmacht vom 7. März 2008 mit, dass sie fortan die Versicherte in Bezug auf Ergänzungsleistungen anwaltlich unterstütze. In der Folge gelangten sowohl die Versicherte als auch die Rechtsanwältin mit verschiedenen Eingaben an die SVA. Mit Verfügung vom 30. Januar 2015, adressiert an die Versicherte, verneinte die SVA einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen. A.________ erhob dagegen Einsprache und reichte weitere Eingaben ein. Mit Schreiben vom 17. Juli 2015 teilte die Rechtsanwältin der SVA mit, dass ihr Mandat Fragen im Zusammenhang mit Ergänzungsleistungen nicht umfasse. Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana teilte der SVA mit Schreiben vom 18. August 2015 mit, dass er die Versicherte in den auf der beigelegten Anwaltsvollmacht vom 13. August 2015 aufgeführten Angelegenheiten vertrete. Mit Einspracheentscheid vom 20. August 2015, adressiert an Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana, bestätigte die SVA ihre Verfügung vom 30. Januar 2015. Mit Schreiben vom 24. August 2015 teilte die SVA Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana insbesondere mit, dass bei ihr am 19. August ein (mit dem 21. Juli und 14. August 2015 datiertes) Schreiben der Versicherten eingetroffen sei.
B.
Gegen den Einspracheentscheid vom 20. August 2015 liess A.________, vertreten durch Rechtsanwältin Nadeshna Ley, am 23. September 2015 Beschwerde erheben. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen trat darauf mit Entscheid vom 12. Mai 2016 nicht ein.
C.
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der Entscheid vom 12. Mai 2016 sei aufzuheben und die Angelegenheit sei zur materiellen Beurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
Die SVA und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG).
2.
2.1. Gemäss Art. 60 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) ist die Beschwerde innerhalb von 30 Tagen nach der Eröffnung des Einspracheentscheides oder der Verfügung, gegen welche eine Einsprache ausgeschlossen ist, einzureichen. Diese Frist kann nicht erstreckt werden (Art. 40 Abs. 1 ATSG). Nach Art. 39 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 60 Abs. 2 ATSG ist die 30-tägige Frist nur gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim erstinstanzlichen Versicherungsgericht eingereicht oder zu dessen Handen u.a. der Schweizerischen Post übergeben wird. Läuft die Frist unbenützt ab, so erwächst der Verwaltungsentscheid in (formelle) Rechtskraft mit der Wirkung, dass das erstinstanzliche Gericht auf eine verspätet eingereichte Beschwerde nicht eintreten darf (vgl. BGE 134 V 49 E. 2 S. 51; SVR 2011 IV Nr. 32 S. 93, 9C_791/2010 E. 2.1).
2.2. Eine Partei kann sich, wenn sie nicht persönlich zu handeln hat, jederzeit vertreten oder, soweit die Dringlichkeit einer Untersuchung es nicht ausschliesst, verbeiständen lassen (Art. 37 Abs. 1 ATSG). Im Sozialversicherungsrecht des Bundes gilt der in Art. 37 Abs. 3 ATSG ausdrücklich verankerte Grundsatz, dass der Versicherungsträger seine Mitteilungen an den Vertreter einer Partei zu richten hat, solange diese ihre Vollmacht nicht widerrufen hat. Dieser Grundsatz dient im Interesse der Rechtssicherheit dazu, allfällige Zweifel darüber zum Vornherein zu beseitigen, ob die Mitteilungen an die Partei selber oder an ihre Vertretung zu erfolgen haben, sowie um klarzustellen, welches die für einen Fristenlauf massgebenden Mitteilungen sein sollen (BGE 99 V 177 E. 3 S. 182; SVR 2011 IV Nr. 32 S. 93, 9C_791/2010 E. 2.2; 2009 UV Nr. 16 S. 63, 8C_210/2008 E. 3.2 mit Hinweisen).
2.3. Nach Art. 33 Abs. 2 OR beurteilt sich der Umfang einer durch Rechtsgeschäft eingeräumten Ermächtigung nach dessen Inhalt. Wird die Ermächtigung vom Vollmachtgeber einem Dritten mitgeteilt, so beurteilt sich ihr Umfang diesem gegenüber nach Massgabe der erfolgten Kundgebung (Art. 33 Abs. 3 OR). Der Vollmachtgeber kann nach Abschluss eines Vertretungsgeschäfts, an das er entgegen Art. 32 Abs. 1 OR nicht gebunden sein will, dem Dritten nicht entgegenhalten, er habe tatsächlich keine Vollmacht bzw. keine Vollmacht im kundgegebenen Umfang erteilt, es sei denn, der Dritte habe oder müsste davon Kenntnis haben, sei mithin nicht gutgläubig im Sinne von Art. 3 Abs. 2 ZGB. Massgebend für den Umfang der Vollmacht im Verhältnis zum gutgläubigen Dritten ist demnach, wie der Dritte die Mitteilung über den Umfang der Vollmacht nach dem Vertrauensprinzip, d.h. ihrem Wortlaut und Zusammenhang und den gesamten Umständen verstehen durfte und musste (vgl. zum Ganzen BGE 131 III 511 E. 3.1 und 3.2 S. 517 f.; 120 II 197 E. 2 S. 198 ff.). Dabei steht dem Vertretenen der Nachweis offen, dass der Dritte nicht mit dem gehörigen Mass an Sorgfalt gehandelt hat, das nach den Umständen von diesem zu verlangen gewesen wäre, und damit nicht gutgläubig war. Zerstört wird der gute Glaube vor allem dann, wenn der Dritte erkannte oder hätte erkennen sollen, dass das abgeschlossene Geschäft den Interessen des Vertretenen widerspricht, wobei aber keine generelle Erkundungs- oder Nachforschungspflicht besteht (Urteil 4A_536/2008 vom 10. Februar 2009 E. 5.3 mit Hinweisen).
3.
Die Vorinstanz hat (verbindlich; E. 1) festgestellt, der angefochtene Einspracheentscheid sei am Samstag, dem 22. August 2015 ins Postfach und damit in den Machtbereich des Rechtsanwalts Dr. Ronald Pedergnana gelangt. Dieser habe darauf als "Frist" den "23.9.15" vermerkt. Sie ist der Auffassung, dass der Einspracheentscheid ordnungsgemäss dem (damaligen) Rechtsvertreter der Versicherten zugestellt worden sei. Die Beschwerdefrist gemäss Art. 38 Abs. 1 ATSG habe demnach am 23. August 2015 zu laufen begonnen und am Montag, dem 21. September 2015 geendet. Die Beschwerde vom 23. September 2015 sei verspätet, weshalb darauf nicht eingetreten werden könne.
Die Beschwerdeführerin hält die Zustellung des Einspracheentscheids an Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana für unzulässig und daher nicht für fristauslösend.
4.
4.1. Das kantonale Gericht hat festgestellt, die Versicherte habe am 13. August 2015 einen Auftrag und eine Vollmacht an Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana unterzeichnet, welche unter anderem die Interessenwahrung betreffend Ergänzungsleistungen umfasst habe. Auf eine sachliche oder zeitliche Beschränkung der Vollmacht oder einen Willensmangel bei deren Erteilung gebe es keinen Hinweis. Der Rechtsanwalt habe der SVA mit Schreiben vom 18. August 2015 sein Mandat angezeigt. Eine Beschränkung der Vollmacht sei der SVA nicht mitgeteilt worden. Namentlich enthalte das mit dem 21. Juli und 14. August 2015 datierte Schreiben der Versicherten keine Ausführungen dieses Inhalts.
Dass diese Feststellungen offensichtlich unrichtig (d.h. willkürlich, unhaltbar; vgl. BGE 135 II 145 E. 8.1 S. 153; Urteil 9C_735/2013 vom 17. April 2014 E. 3.2 mit weiteren Hinweisen) sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht substanziert geltend gemacht. Sie bleiben für das Bundesgericht verbindlich (E. 1). Aus dem Vorbringen, Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana hätte im Zusammenhang mit Ergänzungsleistungen (noch) nicht aktiv werden sollen, kann die Versicherte daher nichts für sich ableiten. Hinzu kommt, dass die Versicherte im Schreiben vom 22. August 2015 ausdrücklich darauf verwies, "nun" einen Anwalt zu haben.
4.2. Das Schreiben der SVA vom 21. August 2015 an Rechtsanwältin Nadeshna Ley, worin ein Mitarbeiter der IV-Stelle des Kantons St. Gallen auf die Vollmacht des Rechtsanwalts Dr. Ronald Pedergnana und dessen Gesuch um Einsicht in Akten betreffend Hilfsmittel verwies und um Klärung der Vertretungsverhältnisse bat, betrifft lediglich die Invalidenversicherung. In Bezug auf Ergänzungsleistungen herrschte diesbezüglich Klarheit, nachdem die Rechtsanwältin der SVA mit Schreiben vom 17. Juli 2015 mitgeteilt hatte, dass ihr Mandat Fragen im Zusammenhang mit Ergänzungsleistungen nicht umfasse. Im Übrigen schliesst der Umstand, dass bereits ein Vertretungsverhältnis besteht, nicht aus, zusätzlich einen weiteren Rechtsvertreter beizuziehen.
4.3. In Bezug auf das Schreiben der SVA vom 24. August 2015 an Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana hat die Vorinstanz festgestellt, es enthalte kein Eingeständnis einer Fehlzustellung des Einsprache-entscheids, sondern die ausdrückliche Ankündigung, angesichts des Vertretungsverhältnisses auch künftige Schreiben an ihn zu richten.
Dieser Feststellung setzt die Versicherte lediglich eine eigene Interpretation des fraglichen Schreibens entgegen. Sie ist indessen nicht offensichtlich unrichtig und bleibt daher ebenfalls verbindlich (E. 1).
4.4. Nach dem Gesagten durfte die SVA von einem gültigen Vertretungsverhältnis zwischen der Versicherten und Rechtsanwalt Dr. Ronald Pedergnana ausgehen, als sie ihm den Einspracheentscheid vom 20. August 2015 zustellte. Die Vorinstanz hat demnach zu Recht den Beginn der Beschwerdefrist auf den 23. August 2015 festgelegt. Die Beschwerde ist unbegründet.
5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung II, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 10. Januar 2017
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Die Gerichtsschreiberin: Dormann