Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_820/2023
Urteil vom 10. Januar 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichterin Koch, Bundesrichter Kölz,
Gerichtsschreiberin Kern.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hugo Werren,
Beschwerdeführerin,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, II. Abteilung, An der Aa 4, 6300 Zug.
Gegenstand
Widerruf des bedingten Strafvollzugs,
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts
des Kantons Zug, I. Beschwerdeabteilung,
vom 19. September 2023 (BS 2023 20).
Sachverhalt:
A.
Das Obergericht des Kantons Zug sprach A.________ mit Urteil vom 4. Mai 2017 der Gehilfenschaft zum gewerbsmässigen Betrug und der mehrfachen Gehilfenschaft zur ungetreuen Geschäftsbesorgung schuldig und verurteilte sie zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 29 Monaten. Am 13. Oktober 2017 verurteilte sie das Obergericht wegen Betrugs und Gehilfenschaft zum gewerbsmässigen Betrug - als Zusatzstrafe zum Urteil vom 4. Mai 2017 - zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten. Am 4. Februar 2021 sprach sie das Amtsgericht Konstanz (Deutschland) der gewerbsmässigen Hehlerei und des Betrugs schuldig und bestrafte sie mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 22 Monaten. In der Folge widerrief das Strafgericht des Kantons Zug mit Beschluss vom 24. Januar 2023 den bedingten Vollzug der beiden vom Obergericht ausgesprochenen Freiheitsstrafen und ordnete deren Vollzug im Umfang von 24 Monaten an.
B.
Dagegen erhob A.________ Beschwerde beim Obergericht des Kantons Zug. Dessen I. Beschwerdeabteilung entschied mit Beschluss vom 19. September 2023 was folgt:
"1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
1.1. Der A.________ mit Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 4. Mai 2017 gewährte bedingte Vollzug der Freiheitsstrafe von 17 Monaten wird widerrufen und der Vollzug angeordnet.
1.2. Der A.________ mit Urteil des Obergerichts des Kantons Zug vom 13. Oktober 2017 gewährte bedingte Vollzug der Freiheitsstrafe von 7 Monaten wird nicht widerrufen, jedoch wird die Probezeit um zwei Jahre verlängert. [...]"
C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ vor Bundesgericht, es sei die Dispositiv-Ziffer 2.1 des Beschlusses vom 19. September 2023 aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen "oder in der Sache selber ein neues Urteil zu fällen". Zudem sei der mit Urteil vom 13. Oktober 2017 gewährte bedingte Strafvollzug der Freiheitsstrafe von 17 Monaten nicht zu widerrufen. Die Probezeit sei um weitere zwei Jahre zu verlängern. Allenfalls sei ihr für die Dauer der verlängerten Probezeit eine Bewährungshilfe mit jährlicher Berichterstattung beizustellen.
Die kantonalen Akten wurden beigezogen. Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt.
Erwägungen:
1.
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer strafrechtlichen Angelegenheit. Dagegen steht die Beschwerde nach Art. 78 ff. BGG offen. Die Beschwerdeführerin ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist - vorbehältlich der nachfolgenden Erwägungen - grundsätzlich auf die Beschwerde einzutreten.
1.2. Nicht zu hören ist die Kritik der Beschwerdeführerin an den vom Obergericht mit Urteilen vom 4. Mai und 13. Oktober 2017 ausgesprochenen Strafen, da diese Urteile bereits in Rechtskraft erwachsen sind.
1.3. Auch soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, das Urteil vom 4. Februar 2021 des Amtsgerichts Konstanz verstosse gegen den schweizerischen "Ordre public" kann darauf nicht eingegangen werden. Da sie diese Rüge im kantonalen Beschwerdeverfahren nicht mehr vorgebracht hat, fehlt es insoweit an der Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs (Art. 80 Abs. 1 BGG).
2.
2.1. Beschwerden an das Bundesgericht sind hinreichend zu begründen, ansonsten kann darauf nicht eingetreten werden. Unerlässlich ist nach Art. 42 Abs. 2 BGG, dass auf die Begründung des angefochtenen Entscheids eingegangen und im Einzelnen aufgezeigt wird, worin eine vom Bundesgericht überprüfbare Rechtsverletzung liegt. Die beschwerdeführende Partei soll in der Beschwerde an das Bundesgericht nicht bloss die Rechtsstandpunkte, die sie im kantonalen Verfahren eingenommen hat, erneut bekräftigen, sondern mit ihrer Kritik an den als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägungen der Vorinstanz ansetzen (BGE 148 IV 205 E. 2.6; 146 IV 297 E. 1.2; 140 III 115 E. 2, 86 E. 2). Das bedeutet, dass die Rechtsschrift auf den angefochtenen Entscheid und seine Begründung Bezug nehmen und sich damit auseinandersetzen muss (BGE 140 III 86 E. 2 mit Hinweisen).
2.2. Die Beschwerdeführerin gibt in ihrer Beschwerdeschrift über mehrere Seiten ihre "kurzgefasste Leidensgeschichte" wieder. Da sie sich in diesen Ausführungen nicht mit der Begründung des angefochtenen Entscheids auseinandersetzt, ist darauf nicht weiter einzugehen.
3.
3.1. Begeht die verurteilte Person während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und ist deshalb zu erwarten, dass sie weitere Straftaten verüben wird, so widerruft das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe (Art. 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Ist nicht zu erwarten, dass die verurteilte Person weitere Straftaten begehen wird, so verzichtet das Gericht auf einen Widerruf. Es kann die verurteilte Person verwarnen oder die Probezeit um höchstens die Hälfte der im Urteil festgesetzten Dauer verlängern (Art. 46 Abs. 2 Sätze 1 und 2 StGB).
Ein während der Probezeit begangenes Verbrechen oder Vergehen führt folglich nicht zwingend zum Widerruf des bedingten Strafaufschubs. Dieser soll nur erfolgen, wenn wegen der erneuten Straffälligkeit eine eigentliche "Schlechtprognose" besteht (BGE 134 IV 140 E. 4.3; Urteile 6B_1520/2022 vom 5. September 2023 E. 5.2; 6B_355/2021 vom 22. März 2023 E. 2.3.1 mit Hinweisen). Die mit der Gewährung des bedingten Vollzugs abgegebene Prognose über das zukünftige Verhalten des Täters oder der Täterin ist somit unter Berücksichtigung der neuen Straftat frisch zu formulieren. Das Nebeneinander von zwei Sanktionen erfordert eine Beurteilung in Varianten: Möglich ist, dass der Vollzug der neuen Strafe erwarten lässt, die verurteilte Person werde dadurch von weiterer Straffälligkeit abgehalten, weshalb es nicht notwendig erscheint, den bedingten Vollzug der früheren Strafe zu widerrufen. Umgekehrt kann der nachträgliche Vollzug der früheren Strafe dazu führen, dass eine "Schlechtprognose" für die neue Strafe im Sinne von Art. 42 Abs. 1 StGB verneint und diese folglich bedingt ausgesprochen wird (BGE 134 IV 140 E. 4.5; Urteil 6B_501/2022 vom 16. November 2022 E. 4.1; je mit Hinweisen). Die Bewährungsaussichten sind anhand einer Gesamtwürdigung der Tatumstände, des Vorlebens, des Leumunds sowie aller weiteren Tatsachen zu beurteilen, die gültige Schlüsse etwa auf den Charakter der verurteilten Person sowie Entwicklungen in ihrer Sozialisation und im Arbeitsverhalten bis zum Zeitpunkt des Widerrufsentscheids zulassen (BGE 134 IV 140 E. 4.4; Urteile 6B_1520/2022 vom 5. September 2023 E. 5.2; 6B_355/2021 vom 22. März 2023 E. 2.3.1; je mit Hinweisen).
Dem Sachgericht steht bei der Beurteilung der Legalprognose ein Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht greift nur korrigierend ein, wenn das Sachgericht sein Ermessen über- bzw. unterschreitet oder missbraucht und damit Bundesrecht verletzt (BGE 134 IV 140 E. 4.2; Urteil 6B_355/2021 vom 22. März 2023 E. 2.3.1; je mit Hinweis).
3.2. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Willkürverbots nach Art. 9 BV und von Art. 46 StGB. Sie macht geltend, entgegen der Auffassung der Vorinstanz lägen bei ihr "besonders günstige Umstände" vor: Sie lebe in stabilen Verhältnissen, sei in der Familie ihres Partners voll eingebunden und bewähre sich in einer Vertrauensstellung am Arbeitsplatz. Die Vorinstanz habe diese "persönlichen Verhältnisse und Umstände" im angefochtenen Entscheid nicht genügend berücksichtigt und äussere sich insbesondere nicht zu für die Erstellung der Prognose massgebenden Faktoren wie "Sozialisierungsbiographie und Arbeitsverhalten". Diese Kriterien, sowie auch "das Bestehen sozialer Bindungen", seien aber bei ihr alle "sehr positiv" zu bewerten. Zudem habe die über fünfmonatige Haft in Deutschland ihre Spuren und eine abschreckende Wirkung hinterlassen. S ie habe seit zweieinhalb Jahren nicht mehr delinquiert, was ein unwiderlegbares Indiz für eine erfolgreiche Bewährung darstelle. Die Vorinstanz verfalle in Willkür, wenn sie dies anders sehe. Sie verkenne auch, dass das Bundesgericht seine Praxis gelockert habe und nunmehr keine günstige Prognose, sondern lediglich das "Fehlen einer ungünstigen Prognose" verlangt werde, damit von einem Widerruf abgesehen werden könne. Erneute Delinquenz führe somit nicht zwingend zu einem Widerruf. Ausserdem stelle sich die Frage, ob das Amtsgericht Konstanz mit seinem Urteil vom 4. Februar 2021 bereits im Sinne einer "res iudicata" über ihre Rückfälligkeit entschieden habe und der Widerruf des bedingten Strafvollzugs gegen das "ne bis in idem"-Verbot verstosse. Da besonders günstige Umstände vorlägen, hätte die Vorinstanz den "Strafaufschub" gewähren und die Probezeit um zwei Jahre verlängern müssen.
3.3. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden: Die Vorinstanz prüfte in ihrem Entscheid der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts entsprechend, ob von einer ungünstigen Prognose auszugehen ist. Bei dieser Prüfung durfte sie berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin seit 2013 wiederholt verurteilt worden und dass sie während der Probezeit und kurz nach ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug erneut in schwerer Weise straffällig geworden war. Die Vorinstanz erwägt, die in der Probezeit begangenen Straftaten erstreckten sich über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren und liessen insbesondere aufgrund des planmässigen Vorgehens eine hohe kriminelle Energie erkennen. Dies wird von der Beschwerdeführerin nicht substanziiert bestritten. Ferner ist der Vorinstanz zuzustimmen, dass es sich beim zweieinhalbjährigen Wohlverhalten um eine relativ kurze Dauer handelt und andererseits die Probezeit der vom Amtsgericht Konstanz ausgesprochenen bedingten Freiheitsstrafe die Beschwerdeführerin aktuell verstärkt zu einem Wohlverhalten anhalten dürfte. Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin zieht die Vorinstanz auch deren "aktuell grundsätzlich geordneten Verhältnisse" in Erwägung, hält dazu aber nachvollziehbar fest, dass die Beschwerdeführerin - die geltend macht, sie sei in der Vergangenheit aufgrund von Abhängigkeitsverhältnissen straffällig geworden - sich immer noch in einem solchen Abhängigkeitsverhältnis befinde, da ihr neuer Partner sowohl ihr Arbeitgeber als auch ihr Vermieter sei. Auch darauf geht die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdeschrift nicht erkennbar ein. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid eine ungünstige Prognose bejaht. Eine Verletzung des Verbots der doppelten Strafverfolgung (Art. 11 StPO) ist ebenfalls nicht ersichtlich.
4.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Die Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es sind keine Parteientschädigungen zuzusprechen (Art. 68 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, II. Abteilung, und dem Obergericht des Kantons Zug, I. Beschwerdeabteilung, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 10. Januar 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Die Gerichtsschreiberin: Kern