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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1231/2022  
 
 
Urteil vom 10. März 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Rüedi, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Angelina Grossenbacher, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Entschädigung der amtlichen Verteidigung, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 26. September 2022 (SK 21 141). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Rechtsanwältin A.________ vertrat B.________ als amtliche Verteidigerin vor dem Regionalgericht Emmental-Oberaargau. Dieses erliess sein Urteil am 7. Januar 2021. 
 
B.  
Dagegen ging B.________ beim Obergericht des Kantons Bern in Berufung, während Rechtsanwältin A.________ gegen die Festsetzung der amtlichen Entschädigung Beschwerde führte. Das Beschwerdeverfahren wurde sistiert und schliesslich als gegenstandslos abgeschrieben. 
Mit Beschluss vom 26. September 2022 kürzte das Obergericht die amtliche Entschädigung für das erstinstanzliche Verfahren um 16.5 Stunden. Es sprach Rechtsanwältin A.________ Fr. 21'286.80 zu und setzte die Differenz zwischen der amtlichen Entschädigung und dem vollen Honorar auf Fr. 4'577.25 fest. 
 
C.  
Rechtsanwältin A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der obergerichtliche Beschluss sei teilweise aufzuheben. Ihr sei für das regionalgerichtliche Verfahren eine amtliche Entschädigung von Fr. 24'160.25 zuzusprechen. Die Differenz zwischen der amtlichen Entschädigung und dem vollen Honorar sei auf Fr. 5'443.70 festzusetzen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. 
Das Obergericht verzichtet auf Gegenbemerkungen. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern liess sich nicht vernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein Beschluss, in dem ein oberes Gericht als Rechtsmittelinstanz über die amtliche Entschädigung entschieden hat, die für das erstinstanzliche Verfahren zugesprochen worden war. Die für das Rechtsmittelverfahren festgesetzte Entschädigung blieb unangefochten. In dieser Konstellation liegt kein Anwendungsfall von Art. 135 Abs. 3 lit. b StPO vor (BGE 140 IV 213 E. 1.7 mit Hinweisen; Urteil 6B_769/2016 vom 11. Januar 2017 E. 1), sodass die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist. 
 
2.  
Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass die Vorinstanz die amtliche Entschädigung für das erstinstanzliche Verfahren gekürzt hat. Sie rügt eine Verletzung von Art. 404 Abs. 1 und 2 StPO und einen Verstoss gegen das Willkürverbot gemäss Art. 9 BV
 
2.1. Die Parteien haben in ihrer schriftlichen Berufungserklärung verbindlich anzugeben, ob sie das Urteil vollumfänglich oder nur in Teilen anfechten (Art. 399 Abs. 3 lit. a StPO) und auf welche Teile sich die Berufung allenfalls beschränkt (Art. 399 Abs. 4 StPO).  
Das Berufungsgericht überprüft das erstinstanzliche Urteil nur in den angefochtenen Punkten (Art. 404 Abs. 1 StPO). Es kann zugunsten der beschuldigten Person auch nicht angefochtene Punkte überprüfen, um gesetzwidrige oder unbillige Entscheidungen zu verhindern (Art. 404 Abs. 2 StPO). Das Berufungsgericht muss die Einschränkung der Berufung respektieren, soweit die Beschränkung auf einzelne Punkte eindeutig und der Grundsatz der Untrennbarkeit oder inneren Einheit nicht verletzt ist. In die Dispositionsfreiheit der beschuldigten Person ist nur zurückhaltend einzugreifen. Ein solcher Eingriff ist auf die Verhinderung von gesetzeswidrigen oder unbilligen Entscheidungen beschränkt. Eine umfassende, freie Überprüfung (blosse Unangemessenheit) ist damit ausgeschlossen. Es soll verhindert werden, dass das Berufungsgericht auf einer materiell unrichtigen Grundlage urteilen muss. Art. 404 Abs. 2 StPO kommt vorwiegend bei einer qualifiziert unrichtigen Rechtsanwendung durch die Erstinstanz bei gleichzeitiger Beschränkung der Berufung auf die Sanktion zur Anwendung. Beschränkt etwa die beschuldigte Person die Berufung auf den Strafpunkt, kann es dem Gericht nicht verwehrt sein, auch den Schuldpunkt neu zu beurteilen. Dabei kann das Gericht die beschuldigte Person nicht nur milder bestrafen, sondern das Verfahren auch einstellen oder ein weniger schweres Delikt sanktionieren. Gesetzwidrig wäre eine Entscheidung auch dann, wenn die Erstinstanz eine unzulässige Sanktion ausgesprochen hätte. In erstinstanzliche Ermessensentscheide kann hingegen in keinem Fall eingegriffen werden; eine Beschränkung der Dispositionsmaxime rechtfertigt sich nur bei Willkür (Urteil 6B_769/2016 vom 11. Januar 2017 E. 2.3 mit Hinweisen). Macht das Berufungsgericht von Art. 404 Abs. 2 StPO Gebrauch, hat es den Verfahrensbeteiligten vorab Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Urteile 6B_769/2016 vom 11. Januar 2017 E. 2.3; 6B_634/2012 vom 11. April 2013 E. 2.3.1 mit Hinweisen). 
Wird die erstinstanzlich zugesprochene amtliche Entschädigung weder von der beschuldigten Person noch von der Staatsanwaltschaft angefochten, erwächst sie in Rechtskraft. Eine Korrektur der amtlichen Entschädigung von Amtes wegen nach Art. 404 Abs. 2 StPO ist nur noch denkbar, wenn die Erstinstanz das ihr zustehende Ermessen in unhaltbarer Weise ausgeübt hat, selbst wenn das genehmigte Honorar recht hoch erscheint. Für die Überprüfung der amtlichen Entschädigung von Amtes wegen besteht kein Anlass, wenn die erstinstanzliche Festlegung der amtlichen Entschädigung nicht geradezu gesetzeswidrig oder unbillig ist (Urteil 6B_769/2016 vom 11. Januar 2017 E. 2.3 mit Hinweis auf Urteil 6B_349/2016 vom 13. Dezember 2016 E. 2.4.2). 
 
2.2. Die Rüge der Beschwerdeführerin ist begründet.  
 
2.2.1. Mit Berufungserklärung vom 12. April 2021 wurde das erstinstanzliche Urteil vom 7. Januar 2021 in Teilen angefochten, und zwar in Bezug auf einzelne Schuldsprüche, die Strafzumessung und die "Kosten-, Entschädigungs- und Genugtuungsfolgen".  
Mit Beschwerde vom 6. April 2021 hatte die Beschwerdeführerin bereits beantragt, ihre amtliche Entschädigung sei auf Fr. 24'840.90 festzulegen. Das Beschwerdeverfahren wurde am 7. April 2021 sistiert und am 31. Mai 2021 als gegenstandslos abgeschrieben. Am 26. Juli 2022 teilte die Vorinstanz mit, sie ziehe in Erwägung, die amtliche Entschädigung zu kürzen. Sie gab der Beschwerdeführerin Gelegenheit zur Stellungnahme. 
Am 16. August 2022 erklärte die Beschwerdeführerin, die Erstinstanz habe ihr als amtliche Entschädigung 101.09 Stunden zu Fr. 200.-- zugesprochen, also Fr. 20'218.--. Dazu seien ein Reisezuschlag von Fr. 1'050.--, MwSt-pflichtige Auslagen von Fr. 1'022.10 und MwSt von Fr. 1'716.35 hinzugekommen, was eine Gesamtsumme von Fr. 24'006.45 ergebe. In Abänderung der bisher gestellten Anträge verlangte die Beschwerdeführerin, dass ihre MwSt-pflichtigen Auslagen von Fr. 1'022.10 auf Fr. 1'164.90 erhöht werden, was auch zu einer Erhöhung der MwSt von Fr. 1'716.35 auf Fr. 1'727.35 führe und eine neue Gesamtsumme von Fr. 24'160.25 ergebe. Die Beschwerdeführerin begründete die beantragte Erhöhung damit, dass die Erstinstanz fälschlicherweise Zugbillette der 2. Klasse statt der 1. Klasse entschädigt habe. Das erstinstanzliche Urteil sei daher so anzupassen, dass die Auslagen um Fr. 142.80 und die MwSt um Fr. 11.-- erhöht werden. Abschliessend hielt die Beschwerdeführerin ausdrücklich fest, im Übrigen werde die Festsetzung der amtlichen Entschädigung "nicht weiter angefochten". Dies betreffe namentlich den Zeitaufwand von 101.09 Stunden. 
 
2.2.2. Damit beschränkte die Beschwerdeführerin ihre Anträge unmissverständlich. Sie brachte in ihrer Stellungnahme vom 16. August 2022 klar zum Ausdruck, dass sie die erstinstanzliche Kürzung des Zeitaufwands auf 101.09 Stunden akzeptiert und nur noch eine Erhöhung der MwSt-pflichtigen Auslagen um Fr. 142.80 verlangt. Die Vorinstanz gewährt diese Erhöhung. Sie kürzt aber auch den Zeitaufwand um weitere 16.5 Stunden. Dies, obwohl die Beschwerdeführerin erklärt hat, der Zeitaufwand werde nicht mehr angefochten. Damit hat die Beschwerdeführerin angegeben, auf welchen Teil sich ihr Rechtsmittel beschränkt. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend vorträgt, können die Auslagen klar vom Stundenaufwand abgegrenzt werden. Die Vorinstanz konnte die MwSt-pflichtigen Auslagen korrigieren, ohne die gesamte amtliche Entschädigung zu überprüfen. Der Grundsatz der Untrennbarkeit oder inneren Einheit wird dadurch nicht verletzt.  
 
2.2.3. Die Vorinstanz erachtet die amtliche Entschädigung als unbillig hoch. Sie lasse sich "nicht mehr mit dem Ermessensspielraum rechtfertigen". Konkret beanstandet die Vorinstanz die Telefongespräche der Beschwerdeführerin mit der Ehefrau des Beschuldigten und kürzt diese Position um 5 Stunden. Eine weitere Kürzung um 1.5 Stunden nimmt sie vor, weil klassische Kanzleiarbeiten verrechnet worden seien, die bereits im Stundensatz einer Rechtsanwältin enthalten seien. Zudem erachtet die Vorinstanz den Aufwand von 8 Stunden für die Replik vor dem Zwangsmassnahmengericht als übersetzt und nimmt eine Kürzung um 4 Stunden vor. Schliesslich kürzt sie den Aufwand für Besprechungen mit dem Beschuldigten um 6 Stunden. Eine weitergehende Kürzung unterlässt die Vorinstanz, weil die amtliche Entschädigung nicht angefochten worden sei und die weiteren Positionen innerhalb des erstinstanzlichen Ermessensspielraums liegen würden.  
 
2.2.4. Die Vorinstanz hält selbst fest, dass sie die amtliche Entschädigung in Anwendung von Art. 404 Abs. 2 StPO kürzt. Dazu war sie nicht berechtigt. Zwar können nach dieser Bestimmung zugunsten der beschuldigten Person auch nicht angefochtene Punkte überprüft werden, um gesetzeswidrige oder unbillige Entscheidungen zu verhindern. Doch ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine umfassende, freie Überprüfung auf blosse Unangemessenheit ausgeschlossen. Art. 404 Abs. 2 StPO erlaubt keinen Eingriff in Ermessensentscheide. Eine Beschränkung der Dispositionsmaxime rechtfertigt sich nur bei Willkür (vgl. E. 2.1 hiervor).  
Die Beurteilung des Zeitaufwands der amtlichen Verteidigung ist aber gerade ein solcher Ermessensentscheid. Auch wenn die Vorinstanz den Aufwand von 101.09 Stunden als zu hoch erachtet, rechtfertigt dies keine Korrektur von Amtes wegen. Es bleibt anzufügen, dass bereits die Erstinstanz die Honorarnote der Beschwerdeführerin kürzte. Es kann also nicht gesagt werden, die Erstinstanz habe keine Überprüfung vorgenommen. Damit bestand auch keine Veranlassung, dass die Vorinstanz dies von Amtes wegen nachholt. Dass die erstinstanzliche Festsetzung der amtlichen Entschädigung geradezu gesetzeswidrig oder krass unbillig ist, erwägt die Vorinstanz nicht. 
 
2.2.5. Im Übrigen verstösst die Reduktion der amtlichen Entschädigung durch die Vorinstanz angesichts der Anfechtung des erstinstanzlichen Kostenentscheids durch die Beschwerdeführerin alleine gegen das Verbot der reformatio in peius. Die Anwendung dieses Grundprinzips rechtfertigt sich gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung über den Wortlaut von Art. 391 StPO hinaus auch mit Bezug auf Kürzungen der amtlichen Entschädigung (vgl. Urteil 6B_1362/2021 vom 26. Januar 2023 E. 4.1.4 f., zur Publ. bestimmt, mit Hinweisen).  
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Dispositiv-Ziffer 2 des angefochtenen Beschlusses ist aufzuheben. Die Sache ist zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Bei diesem Ausgang sind für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Bern hat der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 2 des Beschlusses des Obergerichts des Kantons Bern vom 26. September 2022 wird aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Bern hat der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 10. März 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt