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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_526/2021  
 
 
Urteil vom 10. November 2021  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Abrecht, 
Gerichtsschreiberin N. Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Linda Keller, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 7. Juni 2021 (IV 2019/178). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1982 geborene A.________ arbeitet auf Stundenlohnbasis in Teilzeit als freie Mitarbeiterin eines regionalen Fernsehsenders. Im Januar 2017 (Eingang) meldete sie sich wegen chronischer Migräne, Gleichgewichtsmigräne, Tinnitus und schwerer Fatigue bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen tätigte daraufhin verschiedene Abklärungen, unter anderem nahm sie einen Bericht des Hausarztes Dr. med. B.________ vom 7. März 2017 samt verschiedener beigelegter Facharztberichte zu den Akten. Anschliessend holte sie eine Stellungnahme beim Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) ein und veranlasste eine polydisziplinäre Begutachtung durch die estimed AG, Medas Zug. In der am 14. April 2018 erstatteten Expertise bescheinigten die neurologischen, internistischen, psychiatrischen und oto-rhino-laryngologischen Sachverständigen keine Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Aufgrund neuropsychologischer Einschränkungen bestehe jedoch eine Arbeitsunfähigkeit von 40 %. Auf Nachfrage nahm die estimed AG am 17. März 2019 nochmals Stellung zur Arbeitsfähigkeit, wozu sich der RAD am 23. April 2019 geäusserte. In der Folge verneinte die IV-Stelle nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 3. Juni 2019 einen Anspruch auf berufliche Massnahmen und auf eine Rente. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen unter Berücksichtigung der eingeholten Stellungnahme der neuropsychologischen Gutachterin der estimed AG vom 20. März 2021 ab (Entscheid vom 7. Juni 2021). 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihr eine Invalidenrente basierend auf einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % auszurichten. Eventualiter sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zur Durchführung weiterer Abklärungen und zu neuer Entscheidung zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 141 V 234 E. 1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie in Bestätigung der Verfügung vom 3. Juni 2019 einen Rentenanspruch der Beschwerdeführerin verneinte.  
 
2.2. Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG) und zur Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Hinsichtlich des Valideneinkommens ist anzufügen, dass diesbezüglich rechtsprechungsgemäss massgebend ist, was die versicherte Person im Zeitpunkt des frühestmöglichen Rentenbeginns nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich verdienen würde, und nicht, was sie bestenfalls verdienen könnte (BGE 135 V 58 E. 3.1). Ferner ist zu ergänzen, dass es zur Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche verlässlicher medizinischer Entscheidgrundlagen bedarf und hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes entscheidend ist, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis).  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz stellte zusammengefasst fest, im Gutachten der estimed AG seien von fachärztlicher Seite keine Diagnosen erhoben worden, die sich auf die Arbeitsfähigkeit in einer leidensadaptierten Tätigkeit auswirkten, und die neuropsychologisch attestierte Arbeitsunfähigkeit sei bei der Invaliditätsbemessung nicht zu berücksichtigen, da die zunehmende Erschöpfung objektiv nicht nachgewiesen sei.  
 
3.2. Die Beschwerdeführerin bringt dagegen im Wesentlichen vor, der angefochtene Entscheid setze sich über die klare, nachvollziehbare und gestützt auf die Akten erfolgte Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit durch die neuropsychologische Gutachterin hinweg. Es lägen, wie sich aus dem Zusatzbericht dieser Gutachterin vom 20. März 2021 ergäbe, offensichtlich objektive Defizite vor. Der vorinstanzliche Entscheid basiere damit auf aktenwidrigen Feststellungen und sei willkürlich. Bei Zweifeln an den gutachterlichen Ausführungen hätte die Vorinstanz aufgrund des Untersuchungsgrundsatzes zumindest weitere Abklärungen in die Wege leiten müssen. Die vorinstanzliche antizipierte Beweiswürdigung verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör.  
 
4.  
 
4.1.  
 
4.1.1. Im Gutachten der estimed AG vom 14. April 2018 wurden mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit leichte bis mittelschwere neuropsychologische Störungen beim Lernen und bei der Konzentration festgestellt. Die anderen Diagnosen (phobischer Schwindel, chronische migräniforme Kopfschmerzen [DD: vestibuläre Migräne], beidseitiger Tinnitus) wirkten sich hingegen gemäss den neurologischen und oto-rhino-laryngologischen Einschätzungen nicht auf die Arbeitsfähigkeit aus. Dem Gutachten ist zu entnehmen, dass sich in der neurologischen Untersuchung teilweise groteske, funktionell/psychogen imponierende Befunde zeigten, welche eine Verdeutlichung widerspiegelten, und weiter wurde im oto-rhino-laryngologischen Teilgutachten festgehalten, der Tinnitus beeinträchtige weder die Konzentrationsfähigkeit noch den Schlaf in wesentlichem Ausmass. Ferner seien von Seiten der vestibulären Migräne seit über einem Jahr keine Symptome mehr aufgetreten. Aufgrund dessen liege keine längerfristige funktionelle Einschränkung vor. Bei gehäuften Episoden müsste zunächst die medikamentöse Therapie ausgebaut werden.  
Auf Nachfrage hin waren die Gutachter med. pract. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Prof. Dr. med. D.________, Facharzt für Neurologie, nicht in der Lage, die neuropsychologischen Defizite mit den neurologischen oder psychiatrischen Diagnosen zu erklären. Sie begründeten, auf psychiatrischem Fachgebiet seien keine eigentlich greifbaren Diagnosen gestellt. Es sei aber gleichwohl - wie im Fall der Beschwerdeführerin - vorstellbar, dass auch ohne das Bestehen einer klassischen psychiatrischen Erkrankung neuropsychologische Defizite ausgeprägter Art mit Einschränkung auf die Leistungs- und Belastungsfähigkeit bestünden (Stellungnahme der estimed AG vom 17. März 2019). 
 
4.1.2. Das kantonale Gericht erachtete die fachärztlichen Einschätzungen der Gutachter als überzeugend und schloss gestützt darauf, aus neurologischer, internistischer, psychiatrischer sowie oto-rhino-laryngologischer Sicht bestünden keine Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Inwiefern diese vorinstanzliche Erwägung gegen Bundesrecht verstossen soll, zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf. Dies ist zudem auch nicht ersichtlich, denn damit übereinstimmend ergibt sich etwa aus dem Bericht des Hausarztes Dr. med. B.________ vom 7. März 2017, der in Kenntnis umfangreicher fachärztlicher Berichte erstellt wurde, dass auch dieser die geklagten Beschwerden (weitgehend) nicht einordnen konnte. Er hielt fest, diese seien "unklarer Ätiologie, DD funktionell seit 2007".  
 
4.1.3. Das kantonale Gericht hielt weiter fest, die Beschwerdeführerin sei durch die Gutachter der estimed AG umfassend persönlich untersucht worden. Die Beschwerdeführerin verlangt nun zwar in ihrer Beschwerde weitere Abklärungen, sie legt aber nicht dar, inwiefern von solchen mit Blick auf die umfassenden gutachterlichen Untersuchungen noch neue Erkenntnisse zu erwarten wären. Die willkürfreie antizipierte Beweiswürdigung der Vorinstanz hinsichtlich weiterer fachärztlicher Abklärungen verletzt somit weder den Untersuchungsgrundsatz noch den Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 144 V 361 E. 6.5; Urteil 9C_216/2020 vom 8. Juli 2020 E. 3.2).  
 
4.2.  
 
4.2.1. Hinsichtlich der neuropsychologischen Abklärung ist in Erinnerung zu rufen, dass eine solche rechtsprechungsgemäss lediglich - aber immerhin - eine Zusatzuntersuchung darstellt (Urteile 8C_11/2021 vom 16. April 2021 E. 4.2; 9C_752/2018 vom 12. April 2019 E. 5.1; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, N. 75 zu Art. 44 ATSG). Zeigen sich im Rahmen dieser Untersuchung Auffälligkeiten, ist das nicht hinreichend, um von einem invalidisierenden Gesundheitsschaden ausgehen zu können. Vielmehr ist es alsdann die Aufgabe des Arztes, den Gesundheitszustand - unter Berücksichtigung der neuropsychologischen Defizite - zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist (vgl. BGE 132 V 93 E. 4; Urteil 8C_11/2021 vom 16. April 2021 E. 4.2). Neuropsychologische Untersuchungsergebnisse können somit, soweit sie sich in die anderen (interdisziplinären) Abklärungsergebnisse einfügen, im Rahmen einer gesamthaften Beweiswürdigung bedeutsam sein (vgl. BGE 119 V 335 E. 2b/bb).  
Die medizinische Gesamteinschätzung der Arbeitsfähigkeit ist alsdann, wenn es um psychische Erkrankungen wie etwa eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder ein damit vergleichbares psychosomatisches Leiden (dazu gehören u.a. das Chronic Fatigue Syndrome und die Neurasthenie; vgl. BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3) geht, eine wichtige Grundlage für die anschliessende juristische Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistung der versicherten Person noch zumutbar ist (BGE 145 V 361 E. 3.2.1). Der Rechtsanwender hat zu prüfen, ob sich die Mediziner an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen gehalten haben (BGE 145 V 361 E. 3.2.2). Von juristischer Seite ist in diesem Zusammenhang insbesondere zu beachten, dass eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit immer nur dann anspruchserheblich sein kann, wenn sie Folge einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist, die fachärztlich einwandfrei diagnostiziert worden ist (vgl. Art. 6 Abs. 1 ATSG; BGE 145 V 222 E. 5.1; 141 V 281 E. 2 mit Hinweisen). Dies ist Ausgangspunkt der Beurteilung der Folgenabschätzung (BGE 143 V 418 E. 6), in deren Rahmen zu fragen ist, ob die funktionellen Auswirkungen medizinisch im Lichte der normativen Vorgaben widerspruchsfrei und schlüssig mit (zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind (BGE 145 V 361 E. 3.2.2). 
 
4.2.2. Diese Voraussetzungen sind vorliegend bezüglich der aus neuropsychologischer und schlussendlich interdisziplinärer Sicht attestierten Arbeitsunfähigkeit nicht erfüllt. Wie aufgezeigt, schränken nämlich die von den Gutachtern erhobenen Diagnosen nach den verbindlichen vorinstanzlichen Feststellungen aus fachärztlich neurologischer, internistischer, psychiatrischer und oto-rhino-laryngologischer Sicht die Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin nicht ein. Die neuropsychologischen Befunde sind somit nicht Folge einer fachärztlich einwandfrei diagnostizierten Gesundheitsbeeinträchtigung (vgl. Stellungnahme der estimed AG vom 17. März 2019; E. 4.1.1 hiervor). Eine anspruchserhebliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit ist bei der Beschwerdeführerin daher nicht ausgewiesen. Das kantonale Gericht verletzte dementsprechend im Ergebnis kein Bundesrecht, indem es auf die aus neuropsychologischer Sicht attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht abstellte.  
 
4.3. Die Beschwerde ist nach dem Dargelegten unbegründet.  
 
5.  
Die Gerichtskosten hat nach dem Ausgang des Verfahrens die Beschwerdeführerin zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 10. November 2021 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli