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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
K 143/04 
 
Urteil vom 11. April 2005 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Schmutz 
 
Parteien 
I.________, 1978, Beschwerdeführerin, vertreten 
durch ihren Vater W.________ 
 
gegen 
 
Concordia Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung, Bundesplatz 15, 6003 Luzern, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
(Entscheid vom 21. September 2004) 
 
Sachverhalt: 
A. 
I.________, geboren 1978, bei der Concordia Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung (nachfolgend: Concordia) u.a. obligatorisch krankenpflegeversichert, litt seit früher Kindheit an einer Redeflussstörung (Stottern). Die Concordia erbrachte zunächst Leistungen für ärztlich verordnete logopädische Behandlungen. Mit Verfügung vom 15. November 2002 lehnte sie für die Zeit nach dem 27. März 2002 die Übernahme weiterer solcher Kosten ab, was sie mit Einspracheentscheid vom 3. Februar 2003 bestätigte. Die von I.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 12. August 2003 teilweise gut. Es hob den Einspracheentscheid auf und wies die Sache zur Durchführung von medizinischen Abklärungen im Sinne der Erwägungen und zum neuen Entscheid an die Concordia zurück. 
B. 
Dr. med. E.________, Spezialarzt FMH für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten, erstattete am 25. November 2003 das von der Concordia in Umsetzung des kantonalen Entscheides bei ihm in Auftrag gegebene Gutachten. Er kam darin zum Schluss, die Redeflussstörung der Versicherten müsse als genetisch resp. hereditär angesehen werden. Mit Verfügung vom 23. Dezember 2003 hielt die Concordia an der Ablehnung weiterer Leistungen für logopädische Behandlungen fest und bestätigte diesen Standpunkt mit Einspracheentscheid vom 24. Februar 2004. 
C. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 21. September 2004 ab. 
D. 
I.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, die Concordia sei zur Vergütung ärztlich angeordneter logopädischer Behandlungen ab 27. März 2002 bis zu ihrem Abschluss zu verpflichten. 
Die Concordia und das Bundesamt für Gesundheit schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Bei der Prüfung eines allfälligen schon vor dem In-Kraft-Treten des ATSG auf den 1. Januar 2003 entstandenen Anspruchs auf eine Leistung der Krankenversicherung sind die allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln heranzuziehen, gemäss welchen - auch bei einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen - grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten. Demzufolge ist der Anspruch für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf Grund der bisherigen und ab diesem Zeitpunkt nach den neuen Normen zu prüfen (BGE 130 V 445 Erw. 1 mit Hinweisen). Da der in Art. 3 Abs. 1 ATSG definierte Begriff der Krankheit im Wesentlichen gleich ist wie derjenige von Art. 2 Abs. 1 KVG in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung und im Übrigen die vorliegend massgebenden Bestimmungen keine Änderung erfahren haben, ist der Leistungsanspruch jedoch inhaltlich gleich zu beurteilen. 
2. 
Krankenkassen betreiben die obligatorische Krankenversicherung gemäss den Bestimmungen des KVG (Art. 11 lit. a und Art. 12 Abs. 1 KVG). Zusatzversicherungen, welche die Krankenkassen neben der sozialen Krankenversicherung gemäss KVG anbieten dürfen, unterliegen dem Versicherungsvertragsgesetz (Art. 12 Abs. 2 und 3 KVG). Streitigkeiten darüber sind privatrechtlicher Natur und im Verfahren gemäss Art. 47 des Versicherungsaufsichtsgesetzes zu beurteilen (BGE 123 V 328 Erw. 3a mit Hinweisen). Wenngleich die Beschwerdeführerin bei der Beschwerdegegnerin eine Krankenpflege-Zusatzversicherung abgeschlossen hat, ist Gegenstand des vorliegenden Streitverfahrens nur der Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. 
3. 
Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich von Sinn und Zweck sowie der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 130 II 71 Erw. 4.2, 130 V 232 Erw. 2.2, 295 Erw. 5.3.1, 428 Erw. 3.2, 475 Erw. 6.5.1, 484 Erw. 5.2, 129 V 284 Erw. 4.2, je mit Hinweisen). 
4. 
Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über den Umfang der Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Art. 25 - 31 KVG) und die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit als allgemeine Voraussetzung zu deren Übernahme (Art. 32 Abs. 1 KVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
5. 
Nach Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung u.a. die Kosten der Behandlungen, die ambulant durchgeführt werden von Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen. Gemäss Art. 33 Abs. 2 KVG bezeichnet der Bundesrat die Leistungen nach Art. 25 Abs. 2 KVG näher. Der Bundesrat, der die Ausführungsbestimmungen zu erlassen hat (Art. 96 KVG), delegierte die Kompetenz, soweit sie die Leistungen nach Art. 25 Abs. 2 KVG betrifft, in der Vollziehungsverordnung an das Eidgenössische Departement des Innern (Art. 33 lit. b KVV). Dieses erliess am 29. September 1995 die KLV. Darin sind die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin erbrachten Leistungen in den Art. 5 - 11 geregelt. Nach Art. 10 KLV führt der Logopäde oder die Logopädin auf ärztliche Anordnung hin Behandlungen von Patienten und Patientinnen mit Störungen der Sprache, der Artikulation, der Stimme oder des Redeflusses durch, die zurückzuführen sind auf: (lit. a) organische Hirnschädigungen mit infektiöser, traumatischer, chirurgisch-postoperativer, toxischer, tumoraler oder vaskulärer Ursache oder (lit. b) phoniatrische Leiden (z. B. partielle oder totale Missbildung der Lippen, des Gaumens und des Kiefers; Störungen der Beweglichkeit der Zunge und der Mundmuskulatur oder des Gaumensegels mit infektiöser, traumatischer oder chirurgisch-postoperativer Ursache; hypokinetische oder hyperkinetische funktionelle Dysphonie; Störungen der Larynxfunktion mit infektiöser, traumatischer oder chirurgisch-postoperativer Ursache). 
6. 
Anlass dafür, dass das kantonale Versicherungsgericht mit Entscheid vom 12. August 2003 die Sache zur Durchführung von medizinischen Abklärungen und zum neuen Entscheid an die Beschwerdegegnerin zurückwies, war der Umstand, dass Dr. med. B.________, Spezialarzt FMH für Innere Medizin und Rheumatologie, wie auch Dr. med. N.________, Spezialarzt FMH für Allgemeine Medizin, bei der Beschwerdeführerin eine Redeflussstörung diagnostiziert hatten, bei der es sich um eine funktionelle hypokinetische Dysphonie handle (Berichte vom 14. Oktober bzw. 21. November 2002). Im von der Beschwerdegegnerin in Umsetzung des ersten vorinstanzlichen Entscheides am 13. November 2003 erteilten Auftrag zur Begutachtung wurde dem Experten Dr. med. E.________, Spezialarzt FMH für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten, konkret die Frage unterbreitet, ob bei der Beschwerdeführerin eine hypokinetische oder eine hyperkinetische funktionelle Dysphonie bestehe oder bestanden habe. Beides hat er im Gutachten vom 25. November 2003 klar verneint. Nach Dr. med. E.________ bestand weder gegenwärtig noch anamnestisch ein Anhaltspunkt für eine solche Störung. Er kam zum Schluss, die Redeflussstörung der Versicherten müsse als genetisch resp. hereditär angesehen werden. Wenn Dr. med. B.________ und Dr. med. N.________ hier eine andere Meinung vertraten, kann ihnen nicht gefolgt werden, weil sie keine HNO-Spezialärzte sind. Damit steht fest, dass die Beschwerdeführerin an einer Störung des Redeflusses leidet, die weder auf eine organische Hirnschädigung mit einer der in Art. 10 lit. a KLV genannten Ursachen noch auf ein phoniatrisches Leiden in einer der in lit. b angegebenen Formen, insbesondere auch nicht auf eine hypokinetische oder hyperkinetische funktionelle Dysphonie zurückzuführen ist. Vielmehr soll es sich dabei laut dem Experten um eine Störung handeln, die "als hereditär resp. genetisch" anzusehen ist. 
7. 
Ob es sich beim Leiden der Beschwerdeführerin um eine Störung handelt, die als hereditär resp. genetisch anzusehen ist, kann aber aus den folgenden Gründen offen bleiben: Massgebend ist einzig, dass dafür keine der in Art. 10 KLV genannten Ursachen in Frage kommt. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung ist bei der logopädischen Behandlung einer Redeflussstörung (Stottern, Poltern) ("troubles du débit" in der französischen bzw. "turbe della dizione" in der italienischen Fassung) nur dann leistungspflichtig, wenn diese auf eines der in Art. 10 lit. a und b KLV abschliessend kategorisierten Leiden zurückzuführen ist. Nach dem klaren Wortlaut der Regelung kommen dafür nur eine organische Hirnschädigung oder ein phoniatrisches Leiden in Betracht ("atteinte cérébrale organique" oder "affections phoniatriques" bzw. "danno cerebrale" oder "affezioni foniatriche"). Zur Veranschaulichung sind in Art. 10 lit. b KLV phoniatrische Leiden in verschiedenster Ausprägung aufgeführt. Diese Liste ist nicht erschöpfend, kann aber eine Redeflussstörung darum nicht mit einschliessen, weil diese nach dem Sinn und Zweck der Regelung nicht Ursache eines phoniatrischen Leidens sein kann, sondern selber auf ein solches muss zurückgeführt werden können. Anders würde der Norm im Kontext kein Sinn zukommen. So verstanden ist der Text klar und verschiedene Auslegungen sind nicht möglich. Darum ist er nach seinem Wortlaut auszulegen und damit ist der angefochtene Entscheid rechtens. 
8. 
Daran ändert der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobene Einwand nichts, dass die obligatorische Krankenpflegeversicherung auch bei vererbten Leiden leistungspflichtig sei, wie beispielsweise bei Chorea Huntington. Dem ist sicher so, denn sofern es sich um ein Leiden mit Krankheitswert handelt, kommt die Krankenversicherung grundsätzlich immer zum Zuge. Auch die Arztrechnungen der Beschwerdeführerin für die Behandlung ihres möglicherweise genetisch erworbenen Leidens wurden stets vergütet. Die Einschränkung der Leistungspflicht erstreckt sich gemäss Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG lediglich auf die Übernahme der Kosten der Behandlungen, die von Personen durchgeführt werden, die nicht als Ärztin oder Arzt, sondern wie die Logopädin oder der Logopäde nur auf Anordnung einer Ärztin oder eines Arztes zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung Leistungen erbringen dürfen. Für die Behandlung durch solche Leistungserbringer in den Bereichen Physiotherapie, Ergotherapie, Krankenpflege/Spitex, Logopädie, Ernährungsberatung (vgl. Art. 46 - 52 KVV) hat der Bundesrat die Leistungen näher zu bezeichnen, was nicht ohne eine Abgrenzung der Bereiche mit Leistungsanspruch und damit einer Ausgrenzung anderer Bereiche möglich ist. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt. 
Luzern, 11. April 2005 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: