Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_411/2024
Urteil vom 11. August 2025
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Viscione, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterinnen Heine, Scherrer Reber, Bundesrichter Métral,
Gerichtsschreiber Nabold.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
handelnd durch seine Eltern, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Sabine Baumann Wey und Romina Zumbühl,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 30. Mai 2024 (5V 23 267).
Sachverhalt:
A.
Der 2012 geborene A.________ meldete sich im Jahre 2014 erstmals unter Hinweis auf Zahnbeschwerden (angeborene Dysplasie der Zähne) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Luzern wies dieses Leistungsbegehren mit Verfügungen vom 23. März bzw. vom 15. Juni 2015 ab, was vom Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 10. Februar 2016 bestätigt wurde. In der Folge einer Neuanmeldung lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 23. Mai 2018 einen Leistungsanspruch erneut ab. Auf eine erneute Neuanmeldung trat die IV-Stelle wiederum ein und wies das Leistungsbegehren nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 21. Juli 2023 ab.
B.
Die von A.________ hiergegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 30. Mai 2024 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, es sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsurteils die angeborene Dysplasie der Zähne als Geburtsgebrechen anzuerkennen und entsprechend Kostengutsprache für medizinische Massnahmen zu erteilen, eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen und anschliessender Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG ).
2.
Streitig sind medizinische Massnahmen zur Behandlung der Zahnbeschwerden des minderjährigen Versicherten. Zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Recht im Sinne von Art. 95 f. BGG verletzte, als es in Bestätigung der Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 21. Juli 2023 das Vorliegen eines Geburtsgebrechens verneinte.
3.
3.1. Versicherte haben nach Art. 13 Abs. 1 IVG bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf medizinische Massnahmen zur Behandlung von Geburtsgebrechen. Als Geburtsgebrechen gelten gemäss Art. 3 Abs. 2 ATSG diejenigen Krankheiten, die bei vollendeter Geburt bestehen. Grundsätzlich werden medizinische Massnahmen nach Art. 13 Abs. 1 IVG gewährt für die Behandlung angeborener Missbildungen, genetischer Krankheiten sowie prä- und perinatal aufgetretener Leiden (Art. 13 Abs. 2 IVG), die fachärztlich diagnostiziert sind (lit. a), die Gesundheit beeinträchtigen (lit. b), einen bestimmten Schweregrad aufweisen (lit. c), eine langdauernde oder komplexe Behandlung erfordern (lit. d) und mit medizinischen Massnahmen nach Art. 14 IVG behandelbar sind (lit. e). Gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. e IVV ist ein Leiden mit einem bestimmten Schweregrad im Sinne von Art. 13 Abs. 2 lit. c IVG ein Leiden, das ohne Behandlung eine anhaltende und nicht mehr vollständig korrigierbare funktionelle Einschränkung zur Folge hat.
3.2. Nach Art. 14ter Abs. 1 lit. b IVG bestimmt der Bundesrat die Geburtsgebrechen, für die medizinische Massnahmen nach Art. 13 IVG gewährt werden; der Bundesrat hat diese Kompetenz in Art. 3bis Abs. 1 IVV an das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) subdelegiert. Gestützt auf diese Subdelegation hat das Departement die Verordnung des EDI vom 3. November 2021 über Geburtsgebrechen (GgV-EDI; SR 831.232.211) erlassen; die Liste der Geburtsgebrechen befindet sich im Anhang dieser Verordnung.
3.3. Angeführt in Ziff. 205 Anhang GgV-EDI ist die angeborene Dysplasie der Zähne, sofern mindestens 12 Zähne der zweiten Dentition nach Durchbruch hochgradig befallen sind; bei der Odontodysplasie (Ghost Teeth) genügt der Befall von zwei Zähnen in einem Quadranten. Die Diagnose muss durch eine Vertreterin oder einen Vertreter der Schweizerischen Zahnärztegesellschaft (SSO), die oder der von der IV für diese spezifische Abklärung anerkannt ist, überprüft werden.
Gemäss Rz. 205.2 des Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV (KSME) fallen unter Ziff. 205 Anhang GgV-EDI beispielsweise die Amelogenesis imperfecta, die Dentinogenesis imperfecta und die Dentindysplasie. Fehlende Zahnanlagen der zweiten Dentition sind nach Rz. 205.5 KSME wie befallene Zähne zu rechnen.
4.
4.1. Gemäss den grundsätzlich verbindlichen vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen leidet der Beschwerdeführer (unter anderem) an einer durch eine homozygoten Mutation im LTBP3 Gen verursachten Amelogenesis imperfecta und damit an einem Zahnleiden, welches sich grundsätzlich unter den Begriff der angeborenen Dysplasie der Zähne im Sinne von Ziff. 205 Anhang GgV-EDI subsumieren lässt. Aufgrund seiner Genmutation weist er zudem einen stark verzögerten Zahndurchbruch auf; im Zeitpunkt der Verfügung waren erst sechs Zähne der zweiten Dentition durchgebrochen. Wie die Vorinstanz festhält, ist auf den orthopantographischen Aufnahmen jedoch nunmehr ersichtlich, dass auch die retinierten Zähne hypoplastische Veränderungen aufweisen. Die durchbrechenden Zähne müssten jeweils kurz nach dem Durchbruch konservierend behandelt werden, um eine Devitalisierung zu vermeiden.
Gemäss Rz. 205 Anhang GgV-EDI ist eine angeborene Dysplasie der Zähne nur dann als Geburtsgebrechen, welches Anspruch auf medizinische Massnahmen im Sinne von Art. 13 Abs. 1 IVG verleiht, anzuerkennen, sofern mindestens zwölf Zähne der zweiten Dentition nach Durchbruch hochgradig befallen sind. Da im Zeitpunkt der Verfügung beim Beschwerdeführer erst sechs Zähne durchgebrochen waren, verneinten Vorinstanz und Verwaltung einen entsprechenden Anspruch.
4.2. Sinn und Zweck der Einschränkung gemäss Rz. 205 Anhang GgV-EDI, wonach mindestens zwölf Zähne der zweiten Dentition nach Durchbruch hochgradig befallen sein müssen, besteht darin, einen gewissen Mindestschweregrad des Geburtsgebrechens festzulegen, ab welchem erst Leistungen der Invalidenversicherung geschuldet sind (vgl. auch Urteil I 173/97 vom 6. November 1998 E. 3c). Geburtsgebrechen, welche - auch ohne Behandlung - nicht zu anhaltenden oder nicht mehr vollständig korrigierbaren funktionellen Einschränkungen führen, verleihen keinen Anspruch auf medizinische Massnahmen im Sinne von Art. 13 IVG (vgl. Art. 13 Abs. 2 lit. c IVG i.V.m. Art. 3bis Abs. 1 IVV e contrario; vgl. auch Erwin Murer, Invalidenversicherungsgesetz [ Art. 1-27 bis IVG ], 2014, N. 130 f. zu Art. 13 IVG). Demgegenüber ist nicht Sinn und Zweck dieser Einschränkung, den Anspruch bei Geburtsgebrechen, welche den geforderten Mindestschweregrad aufweisen, zeitlich aufzuschieben. So ist anerkannt, dass auch sog. "latente" Geburtsgebrechen, mithin solche, die bei der vollendeten Geburt bereits vorhanden, hingegen nach aussen noch nicht sichtbar waren, einen Anspruch begründen können. Entsprechend ist der Zeitpunkt, in dem ein Geburtsgebrechen als solches anerkannt wird, grundsätzlich unerheblich (vgl. Ulrich Meyer/Marco Reichmuth, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 4. Aufl. 2022, N. 5 zu Art. 13 IVG; Michel Valterio, Commentaire de la loi fédérale sur l'assurance-invalidité [LAI], 2018, N. 7 zu Art. 13 IVG). Weder die Invalidenversicherung noch die versicherte Person haben ein Interesse daran, die Behandlung eines schweren Geburtsgebrechens zu verzögern und so die spätere Behandlung zu erschweren oder gar den Erfolg derselben zu gefährden. Daraus folgt, dass entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen ein Anspruch auf medizinische Massnahmen nicht erst dann entsteht, wenn mindestens zwölf Zähne der zweiten Dentition durchgebrochen und hochgradig befallen sind. Vielmehr besteht der Anspruch bereits ab jenem Zeitpunkt, in dem mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. BGE 150 II 321 E. 3.6.3; 144 V 427 E. 3.2; 139 V 176 E. 5.3; 126 V 353 E. 5b) feststeht, dass mindestens zwölf Zähne der zweiten Dentition nach ihrem Durchbruch hochgradig befallen sein werden.
4.3. Gemäss den grundsätzlich verbindlichen vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen waren im Zeitpunkt der Verfügung erst sechs Zähne der zweiten Dentition durchgebrochen und hochgradig befallen; allerdings war nunmehr orthopantographisch nachgewiesen, dass auch die retinierten Zähne hypoplastische Veränderungen aufweisen. Damit war im Verfügungszeitpunkt ein Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 205 Anhang GgV-EDI nachgewiesen. Entsprechend ist die Beschwerde gutzuheissen, das angefochtene Urteil und die Verfügung der IV-Stelle sind aufzuheben, und die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese nach Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen über den Anspruch des Beschwerdeführers auf medizinische Massnahmen neu verfüge.
5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat dem Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Die eingereichte Kostennote gibt zu keinen Bemerkungen Anlass, so dass die Entschädigung entsprechend festzusetzen ist. Die Sache ist zudem zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern zurückzuweisen (Art. 68 Abs. 5 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 30. Mai 2024 und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 21. Juli 2023 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 4'208.75 zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 11. August 2025
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Viscione
Der Gerichtsschreiber: Nabold