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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_263/2021  
 
 
Urteil vom 11. Oktober 2021  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Wirthlin, Abrecht, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, vertreten durch Advokat André Baur, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Basel-Stadt, Aeschengraben 9, 4051 Basel, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 10. November 2020 (IV.2020.55). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1967 geborene A.________ war ab 1. Januar 2011 als Maler und Gipser bei der B.________ GmbH angestellt. Am 14. Juni 2011 stürzte er von einer Bockleiter und verletzte sich am Gesicht und an beiden Unterarmen. Am 25. November 2011 meldete er sich zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle Basel-Stadt gewährte berufliche Massnahmen, die sie mit Verfügung vom 13. November 2013 abschloss.  
 
A.b. Am 5. Oktober 2017 ersuchte der Versicherte die IV-Stelle erneut um Gewährung beruflicher Massnahmen. Die Verwaltung leistete Arbeitsvermittlung (Verfügung vom 6. Februar 2018) und sprach ein externes Coaching zu (Verfügung vom 7. Februar 2018). Mit Vorbescheid vom 23. Mai 2018 eröffnete sie dem Versicherten, es bestehe kein Anspruch auf weitere Eingliederungsmassnahmen oder auf eine Invalidenrente. Auf Einwand hin teilte sie dem Versicherten am 18. Juli 2018 mit, die Frühintervention sei abgeschlossen und es bestehe kein Anspruch auf weitere Eingliederungsmassnahmen. Betreffend Rente werde später eine separate Verfügung erlassen. Diese Mitteilung ersetzte den Vorbescheid vom 23. Mai 2018.  
 
A.c. Nach Eingang weiterer medizinischer und erwerblicher Unterlagen forderte die IV-Stelle den Versicherten mit Schreiben vom 18. März 2019 auf, das damit zugestellte Formular für Versicherte, die um eine Zusprechung einer Rente ersuchen, auszufüllen und einzureichen. Mit Schreiben vom 4. April 2019 teilte der Versicherte mit, er könne nicht nachvollziehen, weshalb er erneut ein Gesuch einreichen solle. Die Verwaltung habe am 28. Juni und 18. Juli 2018 den Erlass einer Verfügung beziehungsweise eines neuen angepassten Vorbescheids in Aussicht gestellt. Mit Schreiben vom 9. April 2019 hielt die IV-Stelle an der Eingabe eines neuen Rentengesuchs fest, wozu sich der Versicherte am 26. April 2019 vernehmen liess. Nach einer weiteren Aufforderung der Verwaltung vom 6. Mai 2019 liess der Versicherte ihr mit Schreiben vom 14. Mai 2019 die gewünschten Auskünfte zugehen.  
 
A.d. Die IV-Stelle holte daraufhin die Gutachten des PD Dr. med. C.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 7. November 2019, sowie des Dr. med. D.________, Facharzt FMH für Rheumatologie, Facharzt FMH für Innere Medizin, vom 8. November 2019 ein. Aus rheumatologischer Sicht leide der Explorand an einem chronischen Schmerzsyndrom im Bereich beider Vorderarme, links mehr als rechts, nach Sturz von einer Leiter am 14. Juni 2011. Als Maler und Gipser sei er seit dem Unfall nicht mehr arbeitsfähig. Hinsichtlich körperlich leicht belastender Tätigkeiten (Gewichtslimite am rechten Arm maximal 10 kg, am linken maximal 5 kg) vermöge er seither keine Verrichtungen mit repetitiver manueller Kraftanwendung und auch keine feinmotorischen Arbeiten mehr auszuüben. Handumwendungen seien links nicht, rechts nur langsam möglich. Tätigkeiten, bei welchen der Explorand Vibrationen sowie Nässe, Kälte oder Zugluft ausgesetzt sei, seien zu vermeiden. Aus Sicherheitsgründen seien auch Arbeiten auf Leitern und Gerüsten zu vermeiden. Für Beschäftigungen, bei welchen diese Einschränkungen berücksichtigt werden könnten, sei der Explorand ab 1. Juli 2013 (mit Ausnahme der Monate April/Mai 2018) bis auf Weiteres vollständig arbeitsfähig gewesen. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle einen Anspruch auf Invalidenrente mangels eines den Schwellenwert von 40 % erreichenden Invaliditätsgrades (Verfügung vom 27. März 2020).  
 
B.  
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Urteil vom 10. November 2020 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm ab 1. Juni 2012 eine ganze und ab 30. September 2013 wenigstens eine Viertelsrente auszurichten. Die Forderungen habe sie ab 1. Juni 2014 mit 5 % pro Jahr zu verzinsen. Eventualiter seien gerichtliche Gutachten aus dem Fachbereich der Handchirurgie sowie zur Klärung der beruflichen Leistungsfähigkeit bei der BEFAS einzuholen. Zudem sei ihm eventualiter das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren zu bewilligen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1.  
 
2.1.1. Das kantonale Gericht hat zunächst erwogen, der Beschwerdeführer bringe vor, er sei irrtümlich davon ausgegangen, dass er sein Leistungsbegehren um Ausrichtung einer Invalidenrente erst am 5. Oktober 2017 gestellt habe. Das sei jedoch offensichtlich falsch, da er dieses bereits am 25. November 2011 der Verwaltung unterbreitet habe. Sie habe darüber erst mit der Verfügung vom 27. März 2020 befunden. Ein allfälliger Anspruch bestehe daher ab dem 1. Juni 2012 (ein Jahr nach Beginn der durch den Unfall vom 14. Juni 2011 verursachten vollständigen Arbeitsunfähigkeit als Maler und Gipser). Die IV-Stelle bestreite dies. Die Frage könne indes offen gelassen werden, da ein Rentenanspruch ohnehin verneint werden müsse.  
 
2.1.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz übersehe, dass er gemäss dem rheumatologischen Gutachten des Dr. med. D.________ vom 8. November 2019 bis am 30. Juni 2013 in jeglicher Erwerbstätigkeit vollständig arbeitsunfähig gewesen sei. Daher hätte sie darüber befinden müssen, ob ihm ab dem 1. Juni 2012 eine Invalidenrente zuzusprechen sei. Laut Expertise des Dr. med. D.________ und den darin erwähnten medizinischen Berichten sei er bis wenigstens am 30. Juni 2013 vollständig arbeitsunfähig gewesen. Das angefochtene Urteil sei willkürlich begründet und verletze den Anspruch auf das rechtliche Gehör.  
 
2.1.3. Die IV-Stelle verweist auf ihre Ausführungen in der kantonalen Vernehmlassung und hält fest, ein möglicher Rentenanspruch hätte frühestens am 1. April 2018 (Gesuch vom 5. Oktober 2017) entstanden sein können. Damit vermag sie den Begründungsanforderungen im Rahmen bundesgerichtlicher Verfahren nicht zu genügen (Art. 42 BGG; BGE 133 II 396 E. 3.1; Urteil 4A_24/2021 vom 24. Juni 2021 E. 2 betreffend Beschwerdeantwort).  
 
2.2.  
 
2.2.1. In einem vom Bundesgericht mit BGE 135 V 148 E. 5.2 beurteilten Fall ging es darum, dass das kantonale Gericht ab einem bestimmten Zeitpunkt den Rentenanspruch prüfte, für die vorangehende Zeit die Sache jedoch zur erneuten Prüfung an die Verwaltung zurückwies. Mithin hatte das kantonale Gericht für die davor liegende Zeitspanne keinen materiellen Entscheid gefällt. Aus spezifischen sozialversicherungsrechtlichen Gründen ist ein abschliessender materieller Entscheid über die Rentenfrage für die künftigen Phasen nicht zulässig, weil der Streitgegenstand den Rentenanspruch als Ganzes betrifft (mit Hinweisen auf BGE 131 V 164 E. 2.2, 125 V 413 E. 2). In zeitlicher Hinsicht ergab sich freilich zwangsläufig eine Staffelung der Beurteilung, indem die Rentenzusprache jeweils (nur) bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (in der Regel bis zum Zeitpunkt des jeweiligen Verfügungserlasses) verbindlich festgelegt werden konnte, weshalb ein solcher Entscheid selbstständig rechtskräftig werden kann und als End- oder Teilentscheid selbstständig anfechtbar ist. Diese einmal rechtskräftig festgelegte Rente blieb (unter Vorbehalt der prozessualen Revision oder der Wiedererwägung; Art. 53 Abs. 1 oder 2 ATSG) auch für die Zukunft verbindlich, bis sie gegebenenfalls in einem neuen Verfahren wegen erheblicher Änderung des Invaliditätsgrades erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben wird (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Daraus folgt, dass die Rente für eine folgende Teilperiode nicht endgültig festgelegt werden kann, solange sie für die vorangehende Teilperiode nicht rechtskräftig beurteilt ist, da die Rentenrevision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG eine Änderung (in medizinischer oder erwerblicher Hinsicht) voraussetzt. Im Lichte der Einheit des Rentenverhältnisses (BGE 125 V 413) ist deshalb grundsätzlich davon abzusehen, eine spätere Periode materiell zu beurteilen, solange in Bezug auf einen vorangehenden Anspruchszeitraum die Sache noch zu näheren Abklärungen zurückgewiesen wird. Geschieht dies trotzdem, so liegt in Bezug auf die materiell beurteilte spätere Phase ebenfalls ein Zwischenentscheid vor. Es sind zwar durchaus Konstellationen denkbar, in denen das Vorliegen der Revisionsvoraussetzungen auf der Hand liegt oder es sonst wie möglich wäre, die folgende Phase zu beurteilen, auch wenn die vorangehende noch nicht endgültig beurteilt ist. Es würde jedoch zu unpraktikablen Differenzierungen und entsprechender Rechtsunsicherheit führen, die Anfechtbarkeit von der Konstellation im Einzelfall abhängig zu machen. Im Hinblick auf die erhebliche Auswirkung der Unterscheidung (selbständiges Rechtskräftigwerden bei Unterlassung der Anfechtung bei Teilentscheiden; spätere Anfechtbarkeit bei Zwischenentscheiden) ist eine möglichst klare Regelung erforderlich, weshalb von derartigen Differenzierungen abzusehen ist.  
 
2.2.2. Die Vorinstanz hat einen Rentenanspruch ab Juni 2012 verworfen, ohne zu prüfen, ob die IV-Stelle darüber bereits mit Verfügung vom 13. November 2013 befunden hatte, die im Falle der Bejahung zwischenzeitlich rechtskräftig geworden wäre. Diesem Vorgehen kann nicht beigepflichtet werden. Wäre damals bereits rechtskräftig über den Rentenanspruch verfügt worden, hätte das kantonale Gericht mangels eines diesbezüglichen Anfechtungsgegenstandes auf das Begehren des Beschwerdeführers, ihm sei ab Juni 2012 eine Rente zuzusprechen, nicht eintreten dürfen. Das vorinstanzliche Vorgehen ist aufgrund der Vorbringen des Beschwerdeführers auch in der Sache nicht ohne Weiteres zu halten. Denn gestützt worauf das kantonale Gericht zur Annahme gelangt ist, dass ein Rentenanspruch auch für die Zeit nach der früheren Anmeldung vom 25. November 2011 verneint werden kann, lässt sich aus dem angefochtenen Urteil nicht ersehen. Das im Sachverhalt A.d hievor zitierte orthopädische Gutachten des Dr. med. D.________ vom 8. November 2019 scheint jedenfalls in eine andere Richtung zu weisen, wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt. In Nachachtung der in vorstehender Erwägung zitierten Rechtsprechung kann über den Rentenanspruch für die Phase ab der späteren Anmeldung vom 5. Oktober 2017 nicht gesondert befunden werden. Das angefochtene Urteil ist in teilweiser Gutheissung der Beschwerde aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es prüfe, ob der Beschwerdeführer aufgrund der An meldung vom 25. November 2011 noch einen Rentenanspruch erheben kann und gegebenenfalls ob bzw. inwieweit ein solcher besteht.  
 
3.  
Die IV-Stelle hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Sie hat den Beschwerdeführer angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist demnach gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 10. November 2020 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 11. Oktober 2021 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Grunder