Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_365/2022
Urteil vom 11. November 2022
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Traub.
Verfahrensbeteiligte
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, EL-Durchführungsstelle, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Regionales Beratungszentrum
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22. Juli 2022 (EL 2022/12).
Sachverhalt:
A.
A.________ bezieht eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Im September 2013 meldete sie sich bei der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (EL-Durchführungsstelle) zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Der Anmeldung legte sie ein Scheidungsurteil vom 20. März 2013 bei, mit dem ihr ehemaliger Ehemann verpflichtet worden war, ihr ab November 2012 einen monatlichen Unterhaltsbeitrag in Höhe der Differenz zwischen Fr. 2800.- (ihr Bedarf) und der Invalidenrente zu bezahlen, "höchstens jedoch Fr. 1350.- pro Monat, zahlbar je monatlich im Voraus jeweils auf den Ersten eines jeden Monats bis zum Erreichen des ordentlichen Pensionierungsalters (Beginn der AHV-Rentenberechtigung) " des geschiedenen Ehemanns. Mit Wirkung seit September 2013 werden A.________ Ergänzungsleistungen ausgerichtet.
Am 29. September 2021 beantragte A.________ über ihren Beistand eine Erhöhung der Ergänzungsleistung wegen Wegfalls der Unterhaltszahlungen. Diese seien letztmals für den Monat März 2021 geschuldet gewesen und bezahlt worden. Die Sozialversicherungsanstalt erhöhte mit Wirkung ab September 2021 die Ergänzungsleistung um Fr. 1350.- auf Fr. 2215.- (Verfügung vom 19. Oktober 2021). Auf Einsprache von A.________ hin stellte die Sozialversicherungsanstalt eine verspätete Meldung des anspruchserhöhenden Umstandes fest, verwarf den Einwand, die Terminierung des Unterhaltsanspruchs sei bereits 2013 angezeigt worden, und wies die Einsprache ab (Entscheid vom 10. März 2022).
B.
A.________ reichte Beschwerde ein. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hob den Einspracheentscheid auf und sprach A.________ die erhöhte Ergänzungsleistung bereits mit Wirkung ab April 2021 zu (Entscheid vom 22. Juli 2022).
C.
Die Sozialversicherungsanstalt führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid zu bestätigen. Ausserdem sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Das Regionale Beratungszentrum verzichtet namens von A.________ auf eine Vernehmlassung. Die Vorinstanz reicht eine Stellungnahme ein.
Erwägungen:
1.
1.1. Strittig ist einzig der Zeitpunkt, zu welchem die laufende Ergänzungsleistung von A.________ zu erhöhen ist, nachdem ihr seit April 2021 kein nachehelicher Unterhaltsbeitrag mehr zufliesst.
1.2. Tritt eine voraussichtlich längere Zeit dauernde Verminderung oder Erhöhung der vom Ergänzungsleistungsgesetz anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen sowie des Vermögens ein, so ist die jährliche Ergänzungsleistung zu erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben (Art. 25 Abs. 1 lit. c erster Halbsatz der Verordnung vom 15. Januar 1971 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [ELV, SR 831.301]). Bei einer Erhöhung des Ausgabenüberschusses ist die jährliche Ergänzungsleistung auf den Beginn des Monats, in dem die Änderung gemeldet wurde, frühestens aber des Monats, in dem diese eingetreten ist, neu zu verfügen (Art. 25 Abs. 2 lit. b ELV).
Von jeder Änderung der persönlichen und von jeder ins Gewicht fallenden Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten hat dieser, sein gesetzlicher Vertreter oder gegebenenfalls die Drittperson oder die Behörde, welcher eine Ergänzungsleistung ausbezahlt wird, der kantonalen Durchführungsstelle unverzüglich Mitteilung zu machen (Art. 24 erster Satz ELV).
1.3. Das kantonale Gericht stellt fest, der geschiedene Ehemann habe im März 2021 das ordentliche Rentenalter erreicht; für diesen Monat sei, wie im Scheidungsurteil vorgesehen, die letzte Unterhaltszahlung erfolgt. Im Herbst 2013 habe die Versicherte ein Scheidungsurteil eingereicht, das die Unterhaltspflicht und deren Beendigung per April 2021 belege. Den Akten sei zu entnehmen, dass die EL-Durchführungsstelle das Scheidungsurteil archiviert habe. Die Verwaltung sei ohne Weiteres in der Lage gewesen, die leistungserhebliche Änderung des Sachverhalts auf den gegebenen Termin hin elektronisch vorzumerken. Es bestehe keine rechtliche Vorgabe, wonach die Meldepflicht nur unmittelbar vor oder nach Eintritt der betreffenden Sachverhaltsänderung erfüllt werden könne. Die Versicherte sei ihrer Meldepflicht schon im Herbst 2013 gültig nachgekommen. Zu Unrecht gehe die Sozialversicherungsanstalt davon aus, massgebend sei erst die im September 2021 gemachte Mitteilung. Deswegen sei die Ergänzungsleistung bereits per 1. April 2021 zu erhöhen.
Die beschwerdeführende EL-Durchführungsstelle hält entgegen, die Versicherte habe im September 2013 das Scheidungsurteil eingereicht, um die für die EL-Berechnung zu berücksichtigende Höhe der Unterhaltsbeiträge nachzuweisen. Deren Einstellung über sieben Jahre später sei nicht gültig angezeigt worden. Aus damaliger Sicht sei die Dauer der Unterhaltszahlung ohnehin nicht gesichert gewesen. Wirtschaftliche oder persönliche Veränderungen beim Unterhaltsverpflichteten oder bei der Unterhaltsberechtigten (Art. 129 ZGB) hätten schon vorher zu einer Reduzierung oder Beendigung der Zahlungen führen können; gar eine freiwillige Weiterzahlung über März 2021 hinaus wäre möglich gewesen. Eine bloss hypothetische zukünftige Sachverhaltsänderung, deren effektiver Eintritt nicht vorhersehbar sei, könne nicht Gegenstand einer Mitteilung nach Art. 24 ELV sein. Die Meldung müsse zudem zeitnah erstattet werden. Die Verpflichtung der Versicherten, bei der Ermittlung des Sachverhalts für die Neubeurteilung des EL-Anspruchs aktiv mitzuwirken (vgl. Art. 28, 31 und 43 ATSG ), würde obsolet und die Untersuchungsmaxime überdehnt, wenn EL-Bezüger alle möglichen künftigen Änderungen lange Zeit im Voraus vorsorglich deponieren könnten.
2.
2.1. Die Beschwerdegegnerin hat mit ihrer Anmeldung zum Bezug von Ergänzungsleistung im September 2013 ein Scheidungsurteil vom 20. März 2013 eingereicht. Aus diesem geht die Unterhaltsverpflichtung des geschiedenen Ehemanns und deren Befristung bis zu seiner ordentlichen Pensionierung im März 2021 hervor. Der Wegfall der Unterhaltszahlungen begründet eine Erhöhung der jährlichen Ergänzungsleistung (Art. 25 ELV). Der massgebende Zeitpunkt war zwar insofern bedingt, als die Verpflichtung aus einem anderen Grund schon früher hätte wegfallen können. Die anspruchserhöhende Tatsache musste sich aber spätestens zum im Scheidungsurteil festgelegten Endtermin realisieren. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist der Vorinstanz nicht vorzuwerfen, sie habe die vorsorgliche Meldung einer bloss hypothetischen künftigen Änderung des Sachverhalts genügen lassen. Der anspruchserhebliche Umstand ist an sich stets aktenkundig gewesen. Aus dem mit der erstmaligen Anmeldung zum Leistungsbezug eingereichten Scheidungsurteil lässt sich das Datum entnehmen, an dem der unterhaltsverpflichtete geschiedene Ehemann das Rentenalter erreicht und die Alimentenpflicht erlöscht. Daraus allein folgt aber nicht, dass die Einreichung des Scheidungsurteils einer Mitteilung im Sinn von Art. 24 ELV entsprach und die Verwaltung schon damals die (maximale) Dauer der Unterhaltspflicht - beispielsweise im Rahmen einer Fristenkontrolle - hätte vormerken müssen.
2.2.
2.2.1. Die Antwort auf diese Streitfrage richtet sich zunächst nach dem Verhältnis zwischen der periodischen (jährlichen) Neuberechnung und der ausserordentlichen, im Lauf des Kalenderjahrs stattfindenden Anpassung: Zum einen ist die jährliche Ergänzungsleistung periodisch zu überprüfen (Art. 25 Abs. 1 lit. d und Art. 30 ELV ). Dabei können die Berechnungsgrundlagen ohne Bindung an die früher verwendeten Faktoren von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden (BGE 141 V 255 E. 1.3; Urteil 9C_480/2018 vom 30. Januar 2019 E. 2.3 mit Hinweisen). Insofern sind die Verfügungen über Ergänzungsleistungen unter dem Jahr grundsätzlich rechtsbeständig. Zum andern ist eine Anpassung (Erhöhung, Herabsetzung oder Aufhebung) im Laufe des Kalenderjahres (abgesehen von den Rückkommensgründen der prozessualen Revision und Wiedererwägung [ Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG ]) jedoch im Rahmen von Art. 17 Abs. 2 ATSG (materielle Revision der Dauerleistung bei erheblich verändertem Sachverhalt) oder Art. 25 Abs. 1 ELV (bei einer Veränderung in den persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen) zulässig (Urteile 9C_52/2015 vom 3. Juli 2015 E. 2.2.2; 8C_94/2007 vom 15. April 2008 E. 4.2).
Die periodische Neuberechnung ermöglicht eine Gesamtbeurteilung auf aktualisierter Basis, die Anpassung nach Art. 25 ELV fokussiert auf eine bestimmte anspruchserhebliche Sachverhaltsänderung. Bei der nächsten periodischen Neuberechnung wird grundsätzlich jede voraussichtlich längere Zeit dauernde wesentliche Verminderung oder Erhöhung der anerkannten Ausgaben oder anrechenbaren Einnahmen erfasst (Art. 25 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 lit. d ELV). Die Meldeobliegenheit steht folglich im Hinblick auf eine unterjährige Anpassung (Art. 25 Abs. 2 lit. b ELV) in einem - auch zeitlich - betont engen Zusammenhang mit der umzusetzenden Sachverhaltsänderung. Dies kommt denn auch in der Auflage zum Ausdruck, die anspruchserhebliche Änderung sei "unverzüglich" zu melden (Art. 24 ELV).
Bereits die Normsystematik legt somit nahe, die Meldepflicht (resp. -obliegenheit) nach Art. 24 ELV so zu verstehen, dass die anspruchsberechtigte Person gehalten ist, eine absehbare anspruchserhebliche Tatsachenänderung
als solche zeitgerecht zu melden.
2.2.2. Die Bedingungen einer rationellen (Massen-) Verwaltung (vgl. BGE 148 V 217 E. 5.2.1) führen zum gleichen Ergebnis. Zwar stehen der - vorinstanzlich bejahten - Annahme einer bereits im Jahr 2013 erfüllten Meldepflicht keine technischen Gründe entgegen; mit der Vorinstanz ist nicht einzusehen, weshalb es unpraktikabel sein sollte, eine zu einem definierten Zeitpunkt eintretende - bekannte - Änderung in den leistungserheblichen Verhältnissen längere Zeit im Voraus vorzumerken. Indessen wäre es unverhältnismässig, wenn die Verwaltung stets alle eingereichten Unterlagen auch auf Tatsachen hin prüfen müsste, die ausserhalb des aktuellen Prüfungsgegenstands - hier die erstmalige Beurteilung des Anspruchs auf Ergänzungsleistung im Jahr 2013 - liegen und erst bei einer allfälligen späteren Neubeurteilung relevant werden. Die vorinstanzliche Auffassung, wonach die zu einem späteren Zeitpunkt voraussichtlich eintretende Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse ein für allemal als gemeldet gilt, wenn sie in den mit der Anmeldung eingereichten Unterlagen latent vermerkt ist, führte zu Abgrenzungsproblemen dahin, wie weit die Pflicht der Verwaltung gehen soll, eingereichte Unterlagen auch auf Umstände hin auszuwerten, die im gegebenen Prüfungszusammenhang noch keine Rolle spielen. Gerade am Beispiel des Scheidungsurteils zeigt sich, dass später eintretende Gründe für eine Leistungsanpassung häufig nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind, ihre Erfassung vielmehr eine aufwendige Auswertung der Unterlagen voraussetzte. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass der Zeitpunkt der Pensionierung des geschiedenen Ehemanns der Beschwerdegegnerin keineswegs mit Gewissheit schon im vornherein feststand: Es wäre auch möglich gewesen, dass er vorzeitig pensioniert oder aber über das ordentliche Rentenalter hinaus arbeiten würde. Ob und wie das Scheidungsurteil in einem solchen Fall angepasst worden wäre, blieb bis zur effektiven Pensionierung grundsätzlich offen.
2.3. Nach dem Gesagten liegt eine Meldung im Sinn von Art. 24 ELV nur vor, wenn der realisierte oder zur Realisierung anstehende Anpassungsgrund ausdrücklich mitgeteilt wird. Erst der im September 2021 eingereichte Antrag auf Erhöhung der Ergänzungsleistung enthält eine gültige Mitteilung über den Wegfall der Unterhaltszahlungen ab April 2021. Die Erhöhung der Ergänzungsleistung (Art. 25 Abs. 1 lit. c ELV) wird auf den Beginn des Monats, in dem die Änderung gemeldet wurde (Art. 25 Abs. 2 lit. b ELV), mithin per September 2021, wirksam.
3.
Die Beschwerde ist begründet. Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.
4.
Die Beschwerdegegnerin ist umständehalber nicht mit Gerichtskosten zu belasten (Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22. Juli 2022 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen vom 10. März 2022 bestätigt.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 11. November 2022
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Der Gerichtsschreiber: Traub