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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.616/2005 /ggs 
 
Urteil vom 12. Oktober 2005 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Nay, Aeschlimann, 
Gerichtsschreiber Thönen. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Till Gontersweiler, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, c/o Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, Zweierstrasse 25, Postfach 9780, 8036 Zürich, 
Bezirksgericht Bülach, Haftrichter, Spitalstrasse 13, 8180 Bülach. 
 
Gegenstand 
Untersuchungshaft, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung 
des Bezirksgerichts Bülach, Haftrichter, vom 
18. August 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ befindet sich seit dem 8. März 2004 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich verdächtigt ihn gemäss Schlusseinvernahmeprotokoll der versuchten Tötung, der mehrfachen Gefährdung des Lebens, mehrfacher Drohungen und Tätlichkeiten sowie des Fahrens in angetrunkenem Zustand. Namentlich wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, am 4. März 2004 in einer Bar in K.________ mit einer Vorderschaftsrepetierflinte "Pump Action" in Tötungsabsicht auf A.________ geschossen und diese dabei verletzt zu haben. 
 
Ferner wirft ihm die Staatsanwaltschaft eine versuchte schwere Körperverletzung vor, begangen am 12. April 2002 in Zürich zum Nachteil von B.________. 
 
X.________ bestreitet die Vorwürfe weitgehend. Er räumt ein, in K.________ geschossen zu haben, bestreitet aber den Tötungsvorsatz. 
B. 
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft bestätigte der Haftrichter des Bezirksgerichts Bülach am 18. August 2005 die Untersuchungshaft wegen Flucht-, Kollusions-, Ausführungs- und Wiederholungsgefahr. Am 21. September 2005 führte die Staatsanwaltschaft die Schlusseinvernahme durch. 
C. 
Gegen die Verfügung des Haftrichters führt X.________ mit Schreiben vom 21. September 2005 staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt die Aufhebung der angefochtenen Verfügung sowie seine Haftentlassung. Mit Eingabe vom 23. September 2005 äussert er sich zur Schlusseinvernahme. 
D. 
Der Staatsanwalt zeigt in der Vernehmlassung seinen Wechsel von der Staatsanwaltschaft IV zur Staatsanwaltschaft I an; er bleibe jedoch für die Strafuntersuchung zuständig. Er beantragt die Abweisung der Beschwerde. Dazu hat sich der Beschwerdeführer geäussert. 
 
Der Haftrichter hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, er sei umgehend aus der Haft zu entlassen. Das Begehren ist in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, sondern erst durch eine positive Anordnung hergestellt werden kann (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 S. 131 f.; 124 I 327 E. 4b/aa S. 333, je mit Hinweisen). 
2. 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit sowie Willkür. Er macht geltend, die gesetzlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft seien nicht erfüllt. 
2.1 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuchs erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen). 
2.2 Nach § 58 Abs. 1 StPO/ZH darf Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem Flucht- (Ziff. 1), Kollusions- (Ziff. 2), Wiederholungs- (Ziff. 3 und 4) oder Ausführungsgefahr (Abs. 2) vorliegt. Die Untersuchungshaft ist aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr bestehen (Abs. 3). 
3. 
Nach dem Urteil des Haftrichters sind alle vier Haftgründe gegeben (Flucht-, Kollusions-, Wiederholungs- und Ausführungsgefahr). Der Beschwerdeführer bestreitet jeden Haftgrund. 
3.1 Kollusionsgefahr besteht, wenn auf Grund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde Spuren oder Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu verleiten suchen oder die Abklärung des Sachverhaltes auf andere Weise gefährden (§ 58 Abs. 1 Ziff. 2 StPO). 
 
Nach der Staatsanwaltschaft muss befürchtet werden, dass der Beschwerdeführer im Hauptverfahren Dritte zu seinen Gunsten zu beeinflussen suche. Seine Aussagen weichten in wesentlichen Punkten von jenen von A.________ ab, weshalb zahlreiche Zeugen einvernommen worden seien. Die Zeugen stammten mehrheitlich aus dem nahen persönlichen Umfeld des Beschwerdeführers, was eine Beeinflussung erleichtere. Die blosse Aussprechung eines Kontaktverbotes genüge wegen der Art und Schwere der vorgeworfenen Delikte nicht. 
 
Der Haftrichter verweist auf seine frühere Begründung, der Beschwerdeführer habe die Zeugen C.________ und D.________ vor der Tat sehr oft angerufen und auch bedroht, was mit einer Combox-Tonbandaufzeichnung vom 1. März 2004 belegt sei. Ergänzend führt der Haftrichter aus, der Beschwerdeführer habe im Sommer 2002 gemäss den Aussagen von B.________ Todesdrohungen gegen sie und ihren Sohn ausgestossen. Er habe das schriftliche Versprechen gebrochen, keinen Kontakt mit A.________ aufzunehmen, das er bei der polizeilichen Einvernahme am Vortag der Tat von K.________ unterzeichnet hatte. Schliesslich daure die Gefahr der unzulässigen Beeinflussung an, weil die entscheidenden Beweisaufnahmen erst bevorstünden. 
 
Der Beschwerdeführer bringt vor, die Untersuchung sei abgeschlossen. Die rein theoretische Möglichkeit, dass er Kollusionshandlungen vornehmen könne, genüge für die Begründung einer Kollusionsgefahr nicht. Es könnten ihm keine Kollusionshandlungen nachgewiesen werden, und die Umstände liessen keine solchen Handlungen vermuten. 
3.2 Für die Annahme der Kollusionsgefahr genügt die theoretische Möglichkeit nicht, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte. Vielmehr müssen konkrete Indizien für eine solche Gefahr sprechen (BGE 128 I 149 E. 2.1 S. 151, mit Hinweisen). Es genügt, wenn konkret befürchtet werden muss, der Beschwerdeführer werde in Freiheit auf Opfer und Zeugen einwirken, um das Verfahren zu beeinflussen. Ob dieses Unterfangen mehr oder weniger aussichtsreich ist, ist nicht entscheidend, da auch eine Gefährdung der Wahrheitsfindung genügt (BGE 128 I 149 E. 3.4 S. 153). 
Der Haftrichter und die Staatsanwaltschaft begründen die Kollusionsgefahr keineswegs mit einer theoretischen Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer in Freiheit kolludieren könnte. Vielmehr führen sie dafür konkrete Anhaltspunkte an, die der Beschwerdeführer nicht bestreitet: Da der Beschwerdeführer bereits Drohungen gegen Zeugen und Opfer ausgestossen hat und er ebenso ein Kontaktverbot missachtete, muss befürchtet werden, dass er dies erneut tun würde, um Aussagen im Hauptverfahren zu beeinflussen. 
 
Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers wird die Kollusionsgefahr durch den Abschluss der Untersuchung nicht zwangsläufig beseitigt. Sie kann namentlich dann fortbestehen, wenn das Hauptverfahren vom Prinzip der Unmittelbarkeit beherrscht wird und neue tatsächliche Behauptungen und Beweismittel vollumfänglich zulässig sind (BGE 117 Ia 257 E. 4b S. 261). Nach den unbestrittenen Ausführungen des Haftrichters wird voraussichtlich das Geschworenengericht den Fall beurteilen (§ 56 Ziff. 1 und 4 Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich vom 13. Juni 1976 in der Fassung vom 24. September 1995), in dessen Verfahren das Unmittelbarkeitsprinzip gilt. Die Kollusionsgefahr dauert daher an. 
 
Es liegen genügend konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass Kollusionshandlungen ernsthaft befürchtet werden müssen. Da für die Fortführung der Untersuchungshaft ein Haftgrund genügt, erübrigt sich die Prüfung der übrigen Haftgründe. Auf die Rügen der willkürlichen Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und der willkürlichen Beweiswürdigung ist nicht einzutreten, weil sie sich auf hier nicht zu prüfende Haftgründe beziehen. 
4. 
Der Haftrichter hat auch die übrigen Voraussetzungen der Untersuchungshaft zu Recht bejaht. 
4.1 Aufgrund der Aktenlage und der Ausführungen des Beschwerdeführers (Bestreitung nur der Tötungsabsicht) ist von einem dringenden Verdacht hinsichtlich der Tat vom 4. März 2004 in K.________ auszugehen. Ob hinsichtlich der übrigen Straftaten ein dringender Verdacht vorliegt, kann offen bleiben. 
4.2 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes und des Beschleunigungsgebots, indem die Schlusseinvernahme vom 13. Juli 2005 auf den 21. September 2005 verschoben worden sei. Der Staatsanwalt verweist auf den grossen Umfang der Untersuchung (mehrere Delikte, umfangreiche Akten auch aus früheren Verfahren, aufwändiges psychiatrisches Gutachten). Er habe sich auf den ersten Termin nicht vorbereiten können, weil sich die Akten damals beim Haftrichter befunden hätten. Der Beschwerdeführer hatte am 7. Juli 2005 ein Haftentlassungsgesuch gestellt, welches er am 13. Juli 2005 zurückzog. 
 
Da es sich um einen schwerwiegenden Vorwurf handelt und der Beschwerdeführer mehrfach vorbestraft ist, droht ihm im Falle einer Verurteilung eine empfindliche Freiheitsstrafe. Die bisherige Dauer der Untersuchungshaft von einem Jahr und ca. sieben Monaten übersteigt die zu erwartende Freiheitsstrafe nicht und ist somit verhältnismässig. 
 
Auf die Rüge der Verletzung des Beschleunigungsgebots ist nicht einzutreten, da das, was der Beschwerdeführer vorbringt, keine genügende Begründung der staatsrechtlichen Beschwerde darstellt (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 128 I 149 E. 2.2 S. 151 f.). 
5. 
Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Von seiner Mittellosigkeit ist auszugehen. Da die Untersuchungshaft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte er sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 152 OG wird daher bewilligt. Es sind keine Kosten zu erheben und dem Vertreter des Beschwerdeführers ist eine Entschädigung auszurichten. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 Rechtsanwalt Till Gontersweiler, Zürich, wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich (c/o Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich) und dem Bezirksgericht Bülach, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 12. Oktober 2005 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: