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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_556/2019  
 
 
Urteil vom 12. Dezember 2019  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Chaix, Präsident, 
Bundesrichter Merkli, Haag, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Ineichen, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, 
Abteilung 4 Spezialdelikte, 
Eichwilstrasse 2, 6011 Kriens. 
 
Gegenstand 
Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonsgerichts 
Luzern, 2. Abteilung, vom 13. November 2019 
(4P 19 16). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Am 25. Oktober 2019 verurteilte das Kriminalgericht Luzern A.________ wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte (Art. 285 Ziff. 1 Abs. 1 StGB), mehrfacher versuchter einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB) etc. zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten und einer Busse von 100 Franken. Zudem ordnete es eine ambulante psychotherapeutische Behandlung nach Art. 63 Abs. 1 StGB ohne Aufschub des Strafvollzugs an. Vom Vorwurf der mehrfach versuchten Gefährdung des Lebens, eventuell der mehrfach versuchten schweren Körperverletzung, sprach es ihn frei. Das Haftentlassungsgesuch von A.________ wies es ab und verlängerte die Sicherheitshaft bis zum 17. November 2019. 
Die Staatsanwaltschaft meldete am 5. November 2019 beim Kriminalgericht gegen diesen Entscheid Berufung an und beantragte, die Sicherheitshaft gegen A.________ fortzusetzen. Der Antrag wurde ans Kantonsgericht überwiesen. A.________ beantragte am 8. November 2019, die Sicherheitshaft aufzuheben und ihn per 17. November 2019 zu entlassen. 
Am 11. November 2019 beschloss das Kriminalgericht, A.________ per 18. November 2019 aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Die Staatsanwaltschaft erhob dagegen Beschwerde beim Kantonsgericht, welches das Verfahren sistierte. 
Am 13. November 2019 verfügte der Verfahrensleiter des Kantonsgerichts, die vom Kriminalgericht am 25. Oktober 2019 gegen A.________ verlängerte Sicherheitshaft werde für die Dauer des Berufungsverfahrens weitergeführt. 
 
B.   
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, diesen Entscheid aufzuheben und ihn aus der Haft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
C.   
Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen. A.________ hält an der Beschwerde fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Haftentscheid. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist. 
 
2.   
Untersuchungs- und Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). 
 
2.1. Der dringende Tatverdacht ist durch die erstinstanzliche Verurteilung ohne Weiteres erfüllt; er bezieht sich auf Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 Ziff. 1 Abs. 1 StGB), mehrfach versuchte einfache Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB und mehrfache Sachbeschädigung (Art. 144 StGB), mithin auf Vergehen im Sinn von Art. 10 Abs. 3 StGB). Es liegt damit ein dringender Tatverdacht vor, der die Anordnung beziehungsweise Fortführung von Sicherheitshaft grundsätzlich rechtfertigen kann.  
 
2.2. Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO liegt vor, "wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat". Nach der Rechtsprechung kann sich Wiederholungsgefahr ausnahmsweise auch aus Vortaten ergeben, die dem Beschuldigten im hängigen Strafverfahren erst vorgeworfen werden, wenn die Freilassung des Ersttäters mit erheblichen konkreten Risiken für die öffentliche Sicherheit verbunden wäre. Erweisen sich die Risiken als untragbar hoch, kann vom Vortatenerfordernis sogar ganz abgesehen werden. Aufgrund einer systematisch-teleologischen Auslegung von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO kam das Bundesgericht zum Schluss, es habe nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen, mögliche Opfer von schweren Gewaltdelikten einem derart hohen Rückfallrisiko auszusetzen (BGE 137 IV 13 E. 2-4; Urteil 1B_103/2013 vom 27. März 2013 E. 6.3 und 6.4). Die Verhütung weiterer schwerwiegender Delikte ist ein verfassungs- und grundrechtskonformer Massnahmenzweck: Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK anerkennt ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte im Sinne einer Spezialprävention an der Begehung schwerer strafbarer Handlungen zu hindern (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85; 135 I 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen).  
Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist indessen restriktiv zu handhaben (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85 f.; 135 I 71 E. 2.3 S. 73; je mit Hinweisen). Seine Anwendung über den gesetzlichen Wortlaut hinaus auf Ersttäter muss auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und setzt voraus, dass nicht nur ein hinreichender Tatverdacht besteht, sondern erdrückende Belastungsbeweise gegen den Beschuldigten vorliegen, die einen Schuldspruch als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen. Zudem muss die Rückfallprognose sehr ungünstig ausfallen (Urteil 1B_322/2014 vom 9. Oktober 2014 E. 3.2), und zwar in Bezug auf Delikte, die "die Sicherheit anderer erheblich" gefährden. Darunter fallen in erster Linie Gewalt-, aber auch schwere Betäubungsmitteldelikte (BGE 137 IV 84 nicht publ. E. 3.7), die unmittelbar gegen die psychische und physische Integrität ihrer Opfer gerichtet sind und damit deren Sicherheit beeinträchtigen können. 
 
2.3. Das Kantonsgericht hat im angefochtenen Entscheid ausgeführt, es habe den Beschwerdeführer am 22. Mai 2019 u.a. wegen versuchter einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand verurteilt. Auch wenn dieses Urteil noch nicht rechtskräftig sei, könne diese Straftat für die Beurteilung des Vortatenerfordernisses herangezogen werden, da die Beweislage erdrückend sei. Vorliegend sei nach der erstinstanzlichen Verurteilung davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer versucht habe, mit einem Küchen- bzw. Fleischmesser vier Polizeibeamte anzugreifen. Damit sei das Vortatenerfordernis erfüllt (E. 3.4 S. 5). Nach dem Gutachten von Dr. Hanno vom 26. Februar 2019 leide der Beschwerdeführer an einer schwerwiegenden psychischen Störung im Sinne einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80) mit paranoider Anpassungsstörung, was zu einer verminderten Introspektionsfähigkeit und zu einer Neigung zu Wut- und/oder Ärgerreaktionen führe. Hinzu komme ein problematischer, risikorelevanter Umgang mit psychotropen Stoffen. Es bestehe ein erhöhtes Risiko, dass der Beschwerdeführer in Freiheit erneut schwere Gewalttaten gegen Leib und Leben begehen könnte. Der jüngste Verlaufsbericht von Otto Junker schätze das Risiko für zukünftige Gewalthandlungen als mittelgradig erhöht ein (E. 3.4 S. 5 f.). Gestützt darauf bejahte das Kantonsgericht Wiederholungsgefahr, die nur durch Haft, nicht durch mildere Ersatzmassnahmen gebannt werden könne.  
In Bezug auf die Verhältnismässigkeit in zeitlicher Hinsicht führt das Kantonsgericht aus, bei einer Bestätigung der erstinstanzlichen Schuldsprüche oder gar einer zusätzlichen Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens sei ernsthaft damit zu rechnen, dass es eine stationäre Massnahme aussprechen werde, die von der Staatsanwaltschaft voraussichtlich wiederum beantragt werde. Dies wegen des möglicherweise zusätzlich zu berücksichtigenden Messerangriffs auf die vier Polizisten und insbesondere des Umstands, dass er sich zu diesem Zeitpunkt - offensichtlich erfolglos - in psychotherapeutischer Behandlung befunden habe. Es müsse daher ernsthaft damit gerechnet werden, dass es zu einer stationären Massnahme komme, die weit länger dauern könne als die bisherige strafprozessuale Haft (E. 3.9 S. 8 f.). 
 
2.4. Der an einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung leidende, offenbar kaum krankheitseinsichtige Beschwerdeführer wurde 2015 zweimal wegen Nötigung bzw. versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe und Gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Er fiel zudem wiederholt "mit verbal-aggressivem Verhalten und insbesondere Drohungen" (Sachverhalt des Forensisch-psychiatrischen und zivilrechtlichen Gutachtens vom 20. November 2015) polizeilich auf, weil er gegenüber seiner (nunmehr geschiedenen) Ehefrau, Nachbarn, Passanten, Beamten etc. immer wieder Drohungen und Beschimpfungen ausgestossen habe und teilweise auch tätlich geworden sei. Am 22. Mai 2019 sprach das Kantonsgericht den Beschwerdeführer kantonal letztinstanzlich vom Vorwurf der Gefährdung des Lebens frei und verurteilte ihn wegen versuchter einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand und bestätigte die erstinstanzliche Verurteilung wegen mehrfacher Nötigung; weitere Punkte des erstinstanzlichen Urteils - Sachbeschädigungen - waren nicht angefochten. Es verhängte eine Freiheitsstrafe von 10 Monaten und eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen und bestätigte die vom Kriminalgericht angeordnete ambulante therapeutische Behandlung. Das Bundesgericht hat die von der Staatsanwaltschaft dagegen erhobene Beschwerde am 20. November 2019, d.h. nachdem die hier angefochtene Verfügung ergangen ist, abgewiesen, womit diese Verurteilung in Rechtskraft erwachsen ist.  
Im vorliegenden Verfahren wird dem Beschwerdeführer als mit Abstand schwerwiegendste Tat vorgeworfen, am 17. November 2018 in Ruswil in hochgradig erregtem, stark alkoholisiertem Zustand mit einem Messer eine vierköpfige, mit Schutzmaterial, Schusswaffen und einem Taser ausgerüstete, auf eine Konfrontation eingestellte polizeiliche Einsatzgruppe angegriffen zu haben, laut Anklage und auch nach seinen eigenen Aussagen mit dem Ziel, von den Beamten erschossen zu werden. 
 
2.5. Es ergibt sich zusammenfassend, dass der Beschwerdeführer seit längerer Zeit immer wieder Personen aus seinem Umfeld, Beamte, die sich mit ihm zu beschäftigen hatten, Passanten oder Verkäufer in Geschäften bedrängt, beschimpft, bedroht und auch tätlich angegangen hat. Diese nahmen die Bedrohungen zum Teil auch durchaus ernst und waren dementsprechend verängstigt, vor allem wenn der Beschwerdeführer seinen Ausführungen durch das Vorzeigen eines Messers Nachdruck verlieh. Sein Verhalten ist keineswegs zu bagatellisieren, und er wurde dafür dementsprechend auch bestraft. Immerhin ist aber augenfällig, dass der Beschwerdeführer, obwohl er zumindest seit rund 10 Jahren immer wieder in der beschriebenen Weise auffällig geworden ist, soweit ersichtlich, nie jemanden ernsthaft verletzt hat, was wohl kaum ein Zufall sein kann. Insofern ist die vom Kantonsgericht angenommene Rückfallgefahr in Bezug auf "Gewaltdelikte" deutlich zu relativieren. Eine gewisse Steigerung der Gewaltbereitschaft mag zwar im hier hauptsächlich zu beurteilenden Vorfall - dem Messerangriff auf die Polizeibeamten - liegen, doch ist auch in diesem Zusammenhang festzustellen, dass für die gut ausgerüsteten und auf die Konfrontation vorbereiteten Polizisten objektiv kein grosses Risiko bestand und es dem Beschwerdeführer auch gar nicht darum ging, sie zu verletzen, sondern er es vielmehr darauf anlegte, von den Beamten erschossen zu werden.  
Insgesamt ist somit nicht ernsthaft zu befürchten, dass der Beschwerdeführer in Freiheit durch "schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich" im Sinn von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO gefährdet, nachdem er dies objektiv auch bisher nicht tat. Das Kantonsgericht hat den restriktiv anzuwendenden Haftgrund der Rückfall- bzw. Wiederholungsgefahr überdehnt, indem es die Fortführung der Sicherheitshaft bejahte. 
 
2.6. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen. Der Staatsanwaltschaft und den zuständigen Vollzugsorganen ist indessen eine Frist von fünf Arbeitstagen einzuräumen, um das in solchen Fällen immer bestehende Restrisiko allenfalls durch geeignete Ersatzmassnahmen - etwa Rayon- und Kontaktverbote, Verbot, in der Öffentlichkeit Messer oder andere, als Waffen taugliche Gegenstände auf sich zu tragen - weiter zu senken und die erforderlichen Massnahmen für eine Rückkehr in die Freiheit zu treffen.  
 
3.   
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG), und der Kanton Luzern hat dem Anwalt des Beschwerdeführers eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und die angefochtene Verfügung des Kantonsgerichts Luzern vom 13. November 2019 aufgehoben. Die Sache wird an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen mit der Anweisung, den Beschwerdeführer innert fünf Arbeitstagen ab Zustellung dieses Urteils, allenfalls unter Anordnung geeigneter Ersatzmassnahmen, aus der Haft zu entlassen. 
 
2.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Luzern hat Rechtsanwalt Reto Ineichen für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Abteilung 4 Spezialdelikte, und dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 12. Dezember 2019 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Chaix 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi