Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5P.113/2005
5P.114/2005 /blb
Urteil vom 13. September 2006
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl, Bundesrichter Marazzi,
Gerichtsschreiber von Roten.
Parteien
X.________ (Ehefrau),
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Schroff,
gegen
Y.________ (Ehemann),
Beschwerdegegner,
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12 A, 8500 Frauenfeld.
Gegenstand
Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV (Nichteintreten auf einen Rekurs und Abweisung eines Revisionsgesuchs),
Staatsrechtliche Beschwerden gegen die Entscheide des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 11. Februar 2005 und vom 9. März 2005.
Sachverhalt:
A.
X.________ (Ehefrau), Jahrgang 1977, und Y.________ (Ehemann), Jahrgang 1964, sind miteinander verheiratet und Eltern eines Sohnes, geboren am xxxx 2000. Im Rahmen eines Eheschutzverfahrens wurde der Sohn am 21. Juli 2004 unter die Obhut des Vaters gestellt. X.________ (fortan: Beschwerdeführerin) ersuchte am 4. November 2004 das Eheschutzgericht, die Massnahme abzuändern und ihr die Obhut zuzuteilen. Das Gesuch wurde am 4. Januar 2005 abgewiesen. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin nahm den Entscheid am 5. Januar 2005 in Empfang und erhob dagegen Rekurs. Für die Zustellung der Rekurseingabe benutzte er die Post. Der Briefumschlag trägt den Poststempel mit dem Datum "26.-1.05-8". Das Obergericht des Kantons Thurgau trat auf den Rekurs nicht ein, weil die zwanzigtägige Rekursfrist am 6. Januar 2005 zu laufen begonnen und am 25. ds. geendigt habe (Entscheid vom 11. Februar 2005).
B.
Die Beschwerdeführerin stellte ein Revisionsgesuch mit den Begehren, den Entscheid vom 11. Februar 2005 aufzuheben und auf ihren Rekurs einzutreten. Das Obergericht wies das Revisionsgesuch ab (Entscheid vom 9. März 2005).
C.
Die Beschwerdeführerin hat sowohl gegen den Rekursentscheid vom 11. Februar 2005 (Verfahren 5P.113/2005) als auch gegen den Revisionsentscheid vom 9. März 2005 (Verfahren 5P.114/2005) staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie beantragt, die angefochtenen Entscheide wegen formeller und materieller Rechtsverweigerung aufzuheben. Für das Verfahren vor Bundesgericht ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. Der auf dem Rechtshilfeweg zur Vernehmlassung eingeladene Beschwerdegegner Y.________ hat sich nicht gemeldet. Das Obergericht schliesst auf Abweisung der Beschwerden.
D.
Die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts hat an ihrer Sitzung vom 8. Dezember 2005 über die staatsrechtlichen Beschwerden öffentlich beraten, dann aber das Verfahren ausgesetzt und beschlossen, einen Meinungsaustausch gemäss Art. 16 Abs. 1 OG durchzuführen. Der Beschluss wurde den Parteien und dem Obergericht gleichentags schriftlich mitgeteilt.
E.
Mit Beschluss vom 13. Juni 2006 hat das Plenum dem Urteilsentwurf der II. Zivilabteilung nicht zugestimmt.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschluss des Gesamtgerichts bindet die Abteilung bei der Beurteilung des Streitfalles (Art. 16 Abs. 1 OG).
2.
Angefochten werden zwei verschiedene, in getrennten Verfahren ergangene Entscheide, die von der selben Instanz ausgegangen sind, die gleichen Parteien betreffen und die inhaltlich übereinstimmende Frage aufwerfen, ob die Beschwerdeführerin zur Rechtzeitigkeit ihrer Eingabe hätte angehört und darüber ein Beweisverfahren hätte durchgeführt werden müssen. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und durch einen Entscheid zu erledigen (Art. 24 BZP i.V.m. Art. 40 OG). Dass die Beschwerdeführerin zur Begründung einleitend auf die Vorakten verweist (S. 3 Ziff. 2 der Beschwerdeschrift), ist in formeller Hinsicht unzulässig (BGE 130 I 258 E. 2.2 S. 263 und 290 E. 4.10 S. 302). Nicht eingetreten werden kann sodann auf die geltend gemachten Verletzungen der Art. 8 und 14 EMRK , zumal die Beschwerdeführerin nicht darlegt, inwiefern die staatsvertraglichen Verfahrensgarantien über die gleichzeitig gerügten Verfassungsrechte hinausgehen sollen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 113 Ia 225 E. 2 S. 230; 132 I 49 E. 5.3 S. 56). Mit diesen Vorbehalten kann auf die vereinigten staatsrechtlichen Beschwerden eingetreten werden, wobei auf formelle Einzelfragen im Sachzusammenhang zurückzukommen sein wird.
3.
Unangefochten steht fest, dass die Rekursfrist von zwanzig Tagen nur dann eingehalten ist, wenn die Beschwerdeführerin ihre Rekurseingabe am 25. Januar 2005 bis 24 Uhr der Post übergeben hat (§ 68 i.V.m. § 238 Abs. 1 ZPO/TG). Das Obergericht hat auf das Datum des Poststempels vom 26. Januar 2005 und die übereinstimmende Angabe der Post im Internet abgestellt und ist auf den Rekurs deshalb wegen Fristversäumnis nicht eingetreten. Verfassungsverletzungen erblickt die Beschwerdeführerin darin, dass das Obergericht sie vor seinem Entscheid weder angehört noch zum Beweis der Fristeinhaltung zugelassen hat.
3.1 Die Beweislast für die Rechtzeitigkeit einer Parteihandlung im Verfahren trifft grundsätzlich die Partei, die die betreffende Handlung vorzunehmen hat. Der Absender ist somit beweispflichtig dafür, dass er seine Eingabe bis um 24 Uhr des letzten Tages der laufenden Frist der Post übergeben hat (vgl. BGE 92 I 253 E. 3 S. 257). Die Aufgabe am Postschalter und der Einwurf in den Postbriefkasten sind einander dabei gleichgestellt (BGE 109 Ia 183 E. 3a S. 184). Hier wie dort wird vermutet, dass das Datum des Poststempels mit demjenigen der Übergabe an die Post übereinstimmt. Wer behauptet, er habe einen Brief schon am Vortag seiner Abstempelung in einen Postbriefkasten eingeworfen, hat das Recht, die sich aus dem Poststempel ergebende Vermutung verspäteter Postaufgabe mit allen tauglichen Beweismitteln zu widerlegen (BGE 115 Ia 8 E. 3a S. 11/12; 124 V 372 E. 3b S. 375). Der verfassungsmässige Beweisanspruch setzt dabei unter anderem voraus, dass Beweismittel nach kantonalem Recht form- und fristgerecht angeboten worden sind (BGE 119 Ib 492 E. 5b/bb S. 505; 117 Ia 262 E. 4b S. 268/269).
In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass der Briefumschlag mit der Rekurseingabe den Poststempel vom 26. Januar 2005 trägt und dass die Beschwerdeführerin für die von ihr behauptete Postaufgabe am 25. Januar 2005 keinerlei Beweismittel angeboten hat. Ihre Darstellung in der Rekursschrift vom 25. Januar 2005, die Rekursfrist sei mit heutiger Eingabe gewahrt, ist eine blosse Parteibehauptung und für sich allein kein Beweis rechtzeitiger Postaufgabe. Dass der Briefumschlag mit der Rekurseingabe am 26. Januar 2005 um acht Uhr abgestempelt und damit den Angaben der Beschwerdeführerin zufolge in der ersten halben Stunde nach Aufnahme des Postbetriebs verarbeitet wurde, ist kein Beweis dafür, dass die Rekurseingabe - wie es die Beschwerdeführerin behauptet - rechtzeitig am 25. Januar 2005 in einen Briefkasten gelegt worden wäre, den die Post erst am 26. Januar 2005 frühmorgens geleert hätte. Die Rekurseingabe kann ebenso gut in der ersten halben Stunde nach Aufnahme des Postbetriebs am 26. Januar 2005 und damit einen Tag zu spät aufgegeben worden sein, wovon das Obergericht ausgegangen ist.
Beweismittel zur Rechtzeitigkeit ihrer Rekurseingabe hat die Beschwerdeführerin erst nach Erhalt des Nichteintretensentscheids angeboten und dabei geltend gemacht, das Obergericht hätte sie vor dem Entscheid anhören und zum Beweis der Fristeinhaltung zulassen müssen. Entgegen ihrer Annahme kann dahingestellt bleiben, ob das Obergericht im vorliegenden Fall an der Einhaltung der Rekursfrist hätte Zweifel haben müssen oder tatsächlich Zweifel gehabt hat und aus diesem Grund verpflichtet gewesen wäre, die Beschwerdeführerin dazu vorgängig anzuhören (vgl. BGE 94 I 15 E. 2 S. 16 f.). Denn unter dem Blickwinkel der verfassungsrechtlichen Minimalgarantie durfte das Obergericht davon ausgehen, dass jeder vor Gericht tätige Rechtsvertreter um das Risiko weiss, dass seine Postsendung möglicherweise nicht am gleichen Tag abgestempelt wird, wenn er sie nicht am Postschalter aufgibt, sondern nach Schalterschluss in einen Briefkasten einwirft. Wer nun aber eine derartige verfahrensmässige Unsicherheit über die Fristwahrung schafft, hat - hier nicht zutreffende besondere Umstände eines konkreten Einzelfalls vorbehalten - für seine Behauptung der Rechtzeitigkeit unaufgefordert Beweismittel anzubieten, indem er beispielsweise auf dem Briefumschlag vermerkt, die Postsendung sei kurz vor Fristablauf in Anwesenheit von Zeugen in einen Briefkasten gelegt worden (z.B. BGE 115 Ia 8 Nr. 3). Dass ihr Rechtsvertreter daran verhindert gewesen wäre, tut die Beschwerdeführerin nicht dar. Auf dem Briefumschlag findet sich kein entsprechender Vermerk, obwohl ihr Rechtsvertreter die Eingabe am frühen Abend kurz nach acht Uhr im Beisein seiner Ehefrau in den Postbriefkasten geschoben haben will. Selbst wenn er damals in Eile gewesen sein sollte, hätte von ihm wenigstens erwartet werden dürfen, dass er sich in den folgenden Tagen mit Beweisofferten an das Gericht gewendet hätte, wie er dies mit seiner Honorarnote vom 25. Januar 2005 am 9. Februar 2005 und damit vor der Entscheidung des Obergerichts am 11. Februar 2005 getan hat. Unter den gegebenen Umständen erweist sich die Rüge der Beschwerdeführerin, das Obergericht habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verletzt, als unbegründet.
3.2 Die Beschwerdeführerin rügt eine willkürliche Anwendung verschiedener kantonaler Verfahrensvorschriften. Mit der Streitfrage nichts zu tun haben dabei § 68 und § 162 Abs. 3 ZPO /TG, die bestimmen, dass Eingaben bis 24 Uhr des letzten Tages der Frist der Post oder dem Adressaten übergeben sein müssen (§ 68 ZPO/TG) bzw. welche Beweismittel im summarischen Verfahren zulässig sind (§ 162 Abs. 3 ZPO/TG). Wer für die Fristeinhaltung beweispflichtig ist, ergibt sich nämlich aus § 181 ZPO/TG, und bis zu welchem Zeitpunkt, Beweismittel einzureichen oder anzumelden sind, wird im Beweisbeschluss nach § 184 ZPO/TG festgelegt (vgl. Merz, Die Praxis zur thurgauischen Zivilprozessordnung, Bern 2000, N. 5 zu § 68 und N. 2 zu § 184 ZPO/TG). Eine willkürliche Anwendung dieser beiden Bestimmungen rügt die Beschwerdeführerin nicht, so dass darauf nicht einzugehen ist (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 130 I 26 E. 2.1 S. 31).
Vorab aus § 95 ZPO/TG schliesst die Beschwerdeführerin, das Obergericht wäre verpflichtet gewesen, sie aufzufordern, ihre Beweismittel zur Rechtzeitigkeit des Rekurses einzureichen. Gemäss § 95 ZPO/TG ist das Gericht, besondere Bestimmungen vorbehalten, bei der Feststellung des streitigen Tatbestandes an die Rechtsbehauptungen und Anträge der Parteien gebunden (Abs. 1), kann aber der Partei, deren Vorbringen unklar, unvollständig oder unbestimmt bleibt, insbesondere durch Befragung, Gelegenheit zur Behebung des Mangels geben (Abs. 2). Die Fragepflicht des Gerichts setzt nach dem Wortlaut der Bestimmung unklare, unvollständige oder unbestimmte Vorbringen voraus und muss deshalb unter Willkürgesichtspunkten nicht auf fehlende Vorbringen, namentlich - wie hier - fehlende Beweisofferten angewendet werden (so zum gleichlautenden § 112 Abs. 1 ZPO/GR: BGE 113 Ia 433 E. 1 S. 434 f.). Die Willkürrüge der Beschwerdeführerin erweist sich somit als unbegründet. Anwendbar wäre auf die Einhaltung einer Klage- oder Rechtsmittelfrist vom Wortlaut her § 94 ZPO/TG gewesen, wonach die Gerichte die Prozessvoraussetzungen von Amtes wegen zu prüfen und das zur Behebung allfälliger Mängel Erforderliche vorzukehren haben (vgl. Merz, a.a.O., N. 1 und N. 5 zu § 94 und N. 2 zu § 227 ZPO/TG). Auf diese Vorschrift beruft sich die Beschwerdeführerin indessen mit gutem Grund nicht, zumal es im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu inhaltlich übereinstimmenden Vorschriften nicht als willkürlich hätte bezeichnet werden können, in der Versäumnis einer Rechtsmittelfrist keinen Mangel zu sehen, zu dessen Behebung das Erforderliche vorzukehren wäre (vgl. zu den verbesserlichen Fehlern gemäss Art. 139 OR und Art. 32 Abs. 4 SchKG: BGE 126 III 288 Nr. 49; 130 III 202 E. 3.3.2 S. 211/212).
Willkür in der Anwendung kantonalen Rechts kann insgesamt nicht bejaht werden (Art. 9 BV; vgl. zum Begriff: BGE 132 I 13 E. 5.1 S. 17).
3.3 Aus den dargelegten Gründen muss die staatsrechtliche Beschwerde gegen den Rekursentscheid abgewiesen werden, soweit darauf einzutreten ist. Das Obergericht hat weder verfassungsrechtliche Minimalgarantien verletzt noch kantonale Prozessvorschriften willkürlich angewendet. Eine strenge Betrachtungsweise unter dem Blickwinkel der Bundesverfassung rechtfertigt sich umso eher, als eine versäumte Frist nach kantonalem Recht im Falle unverschuldeter Säumnis oder mit Zustimmung der Gegenpartei wiederhergestellt werden kann (§ 70 Abs. 2 ZPO/TG) und bei zu Unrecht festgestellter Fristversäumnis nach kantonaler Praxis die Revision zugelassen wird (RBOG 2005 Nr. 41 E. 3b S. 268 f.).
4.
Das Obergericht hat das Revisionsgesuch der Beschwerdeführerin gegen den Rekursentscheid entgegengenommen, den geltend gemachten Revisionsgrund (§ 246 Ziff. 1 lit. a ZPO/TG) verneint und das Revisionsgesuch abgewiesen. Die Beschwerdeführerin setzt sich in keiner erkennbaren Weise mit den obergerichtlichen Erwägungen auseinander und genügt damit den formellen Anforderungen an die Beschwerdeschrift nicht (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261 f.). Auf die staatsrechtliche Beschwerde gegen den Revisionsentscheid kann deshalb nicht eingetreten werden.
5.
In Anbetracht des Ausgangs der vereinigten Verfahren wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind erfüllt (Art. 152 OG). Das geltend gemachte Honorar ist angemessen herabzusetzen (vgl. Art. 4 Abs. 1 und Art. 9 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Bundesgericht, SR 173.119.1).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verfahren 5P.113/2005 und 5P.114/2005 werden vereinigt.
2.
2.1 Die staatsrechtliche Beschwerde 5P.113/2005 wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.2 Auf die staatsrechtliche Beschwerde 5P.114/2005 wird nicht eingetreten.
3.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen, und es wird ihr Rechtsanwalt Christian Schroff als amtlicher Vertreter bestellt.
4.
Es werden keine Kosten erhoben.
5.
Rechtsanwalt Christian Schroff wird aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 1'000.-- ausgerichtet.
6.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 13. September 2006
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: