Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_278/2022
Urteil vom 13. Oktober 2022
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Nünlist.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Michael E. Meier,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,
Pensionskasse B.________.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. April 2022 (VBE.2021.473).
Sachverhalt:
A.
Der 1988 geborene A.________ meldete sich unter Hinweis auf eine bipolare Störung im April 2019 bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen, insbesondere der Erstattung eines bidisziplinären (orthopädisch, psychiatrischen) Gutachtens (Gutachterstelle C.________, Expertise vom 30. April 2021) und der Durchführung eines Assessments (Bericht vom 11. Juni 2021), sowie erfolgtem Vorbescheidverfahren wies die IV-Stelle des Kantons Aargau die Ansprüche auf eine Invalidenrente (Verfügung vom 23. September 2021) und Umschulung (Verfügung vom 27. September 2021) ab.
B.
Die gegen die beiden Verfügungen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 6. April 2022 ab.
C.
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, es sei ihm unter Aufhebung des angefochtenen Urteils der Anspruch auf Umschulung zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zwecks entsprechender Prüfung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.
Die Pensionskasse B.________ (Mitbeteiligte) verzichtet auf eine Vernehmlassung, ebenso das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV). Die Beschwerdegegnerin beantragt unter Verzicht auf eine Vernehmlassung und Verweis auf das angefochtene Urteil sowie die Akten die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Indes prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweis).
2.
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sowie des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) in den bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassungen anwendbar.
3.
3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem die Vorinstanz den Anspruch des Beschwerdeführers auf Umschulung verneint hat.
3.2.
3.2.1. Im angefochtenen Entscheid wurden die massgeblichen rechtlichen Grundlagen teils dargelegt. Es betrifft dies namentlich die Grundsätze, gemäss welchen Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen (Art. 8 IVG), insbesondere auf Umschulung (Art. 17 IVG, Art. 6 IVV; BGE 124 V 108 E. 2a und 2b; Urteile 8C_808/2017 vom 11. Januar 2018 E. 3, 9C_244/2010 vom 5. August 2010 E. 3.1), besteht. Darauf wird verwiesen.
3.2.2. Zu ergänzen respektive hervorzuheben ist Folgendes: Nach Art. 17 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder verbessert werden kann.
Gemäss Art. 6 IVV gelten als Umschulung Ausbildungsmassnahmen, die Versicherte nach Abschluss einer erstmaligen beruflichen Ausbildung oder nach Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ohne vorgängige berufliche Ausbildung wegen ihrer Invalidität zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit benötigen (Abs. 1). Als Umschulungsmassnahmen gelten auch Ausbildungsmassnahmen, die zu einer höherwertigen als die vorhandene Ausbildung führen, sofern sie zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit notwendig sind (Abs. 1
bis).
4.
4.1. Das kantonale Gericht hat das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle einer 20%igen Erwerbseinbusse bejaht. Es hat weiter erwogen, dass der Beschwerdeführer über eine abgeschlossene Ausbildung als Elektrozeichner verfüge und diesen Beruf nach dem Lehrabschluss während mehrerer Jahre ausgeübt habe. Dies sei ihm gemäss beweiskräftigem Gutachten (Gutachterstelle C.________) weiterhin zu 80 % zumutbar. Laut Schweizerischer Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik (BFS) wäre in einem Pensum von 100 % ohne weitere Anpassungen ein monatliches Grundeinkommen von Fr. 6200.- erzielbar. Mit Blick auf die vom Beschwerdeführer geäusserten Berufswünsche könnte unter grosszügiger Zuordnung ein höheres Einkommen nur als Arbeitsagoge erreicht werden, dessen Anforderungen der Beschwerdeführer jedoch aufgrund seiner psychischen Einschränkungen offensichtlich nicht erfülle. Grundsätzlich sei aber zu bemerken, dass der Beschwerdeführer nur Anspruch auf Umschulung in eine Tätigkeit habe, mit der er ungefähr gleich viel verdiene, wie in der angestammten Tätigkeit als Elektrozeichner. Mit einer Umschulung könne folglich keine wesentliche Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten erreicht werden, denn der Beschwerdeführer sei sowohl in der angestammten als auch in einer leidensangepassten Tätigkeit zu 80 % arbeitsfähig.
4.2. Eine Erwerbseinbusse von 20 % liegt unbestritten vor. Wie das kantonale Gericht sodann selbst ausführt, ist unter einer Umschulung die Summe der Eingliederungsmassnahmen berufsbildender Art zu verstehen, die notwendig und geeignet sind, der vor Eintritt der Invalidität bereits erwerbstätig gewesenen versicherten Person eine ihrer früheren annähernd gleichwertige Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln. Der Begriff der annähernden Gleichwertigkeit bezieht sich dabei auf die nach der Eingliederung zu erwartende Verdienstmöglichkeit.
Es gilt somit, die durch die Invalidität erlittene Erwerbseinbusse so gut als möglich auszugleichen. Der Beschwerdeführer verweist daher zu Recht darauf, dass eine Umschulung in eine besser entlöhnte Tätigkeit nicht per se ausgeschlossen ist. Solange sie zur Erhaltung oder Verbesserung der Erwerbsfähigkeit notwendig ist und nicht zu einer im Vergleich zum Zeitpunkt vor Eintritt der Invalidität verbesserten Erwerbslage führt, spricht nichts dagegen (so explizit auch Art. 6 Abs. 1bis IVV, E. 3.2.2 hiervor; siehe auch Urteil 9C_580/2021 vom 4. Februar 2022 E. 3.2.2). Indem die Vorinstanz dies unberücksichtigt gelassen hat, hat sie den Anspruch auf Umschulung eines Teils seines Gehalts entleert, was Bundesrecht verletzt. Damit fällt auch die Schlussfolgerung des kantonalen Gerichts, wonach der Beschwerdeführer sowohl in der angestammten als auch in einer leidensangepassten Tätigkeit zu 80 % arbeitsfähig sei und daher auch mit einer Umschulung keine wesentliche Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten erreicht würde, dahin.
4.3. Die Sache ist an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Diese hat unter Vornahme der notwendigen Abklärungen konkret zu prüfen, ob sich eine Ausbildung mit anschliessender beruflicher Tätigkeit finden lässt, die neben der medizinischen Zumutbarkeit (vgl. Anforderungsprofil gemäss Expertise der Gutachterstelle C.________ vom 30. April 2021) auch den gesetzlichen Anforderungen an eine Umschulung (Art. 17 IVG, Art. 6 IVV) entspricht. Danach hat sie neu zu entscheiden.
5.
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung gilt als vollständiges Obsiegen der leistungsansprechenden Partei nach Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG (etwa: BGE 132 V 215 E. 6.1; Urteil 8C_694/2018 vom 22. Februar 2019 E. 4). Als unterliegende Partei trägt demnach die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Sie schuldet dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung für das bundesgerichtliche Verfahren ( Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ). Zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens ist die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. April 2022 wird aufgehoben, soweit es den Anspruch auf eine Umschulung zum Gegenstand hat. Die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 27. September 2021 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse B.________, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der B.________ AG und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 13. Oktober 2022
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist