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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_379/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 13. November 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau,  
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
O.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Thomann, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Basler Versicherung AG,  
Aeschengraben 21, 4051 Basel. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 10. April 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1966 geborene O.________ bezieht mit Wirkung seit April 2000 eine ganze Invalidenrente (Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 14. Februar 2003). Im Rahmen einer Überprüfung des Rentenanspruchs liess die IV-Stelle die Versicherte bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) interdisziplinär untersuchen. Gestützt auf das am 5. April 2012 erstattete Gutachten, wonach in leidensangepassten Tätigkeiten eine Leistungsminderung von 20 Prozent bestehe, hob die IV-Stelle die Invalidenrente auf (Verfügung vom 1. Oktober 2012). 
 
B.   
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde gut und verpflichtete die IV-Stelle, O.________ weiterhin eine ganze Invalidenrente auszurichten (Entscheid vom 10. April 2013). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die strittige Verfügung vom 1. Oktober 2012 zu bestätigen. Ausserdem beantragt sie, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. 
O.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf eingetreten werde. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Rechtsverbeiständung). Das kantonale Gericht, das Bundesamt für Sozialversicherungen und die beigeladene Basler Versicherung verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
 
2.1. Die Aufhebung der Invalidenrente erfolgte in Anwendung von lit. a Abs. 1 der am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [AS 2011 5659; BBl 2011 2723 und 2010 1817]; nachfolgend: SchlB zur 6. IV-Revision). Danach werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der Änderung überprüft. Sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Abs. 1 findet keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren eine Rente der Invalidenversicherung beziehen (Abs. 4).  
 
2.2. Beruhte die Zusprechung der Invalidenrente auf einer von lit. a SchlB zur 6. IV-Revision erfassten gesundheitlichen Beeinträchtigung, kann im vorgegebenen Zeitrahmen eine voraussetzungslose (namentlich nicht von einer massgebenden Veränderung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG abhängige) Neubeurteilung des Rentenanspruchs stattfinden, sofern, wie hier der Fall, nicht eine der in Abs. 4 genannten Ausnahmesituationen gegeben ist. Bei der Zusprechung der Rente (Verfügung vom 14. Februar 2003) war das Gutachten des Neurochirurgen Dr. K.________, Spital X.________, vom 23. September 2002 massgebende medizinische Grundlage. Strittig ist, ob das dort dokumentierte Leiden (chronifiziertes Lumbovertebralsyndrom bei komplexer dysraphischer Störung, mit einem Tethered cord-Syndrom und einem sakralen Lipom) eine Anwendung der Schlussbestimmung zulässt.  
 
3.  
 
3.1. Das kantonale Gericht hielt zunächst fest, die vom Sachverständigen attestierte Arbeitsunfähigkeit basiere klarerweise auf einem organisch objektivierbaren Zustand, dessen Ursache bildgebend darstellbar sei (vgl. auch das MEDAS-Gutachten vom 5. April 2012, S. 28). Es ist nicht ersichtlich, inwiefern diese Tatsachenfeststellung offensichtlich unrichtig sein sollte. Das Bundesgericht ist somit im Rahmen der rechtlichen Würdigung daran gebunden (vgl. oben E. 1).  
 
3.2.  
 
3.2.1. Die Vorinstanz erwog, die von der IV-Stelle verlangte analoge Anwendung der Schlussbestimmung auf organisch objektivierbare Beschwerdebilder entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers. Unter diesem Titel sei eine Revision des laufenden Rentenanspruchs nicht möglich. Des Weitern werde nicht behauptet und sei aus den Akten auch nicht ersichtlich, dass eine Verbesserung des Gesundheitszustandes gegeben sei, die eine Aufhebung der Invalidenrente nach Art. 17 ATSG erlaube; die MEDAS-Gutachter hätten am 5. April 2012 eine seit dem Jahr 1999 konstant gleich hohe Arbeitsfähigkeit, mithin einen stationären Gesundheitszustand, bescheinigt. Ebensowenig sei - mit Blick auf die bei Erlass der Verfügung vom 14. Februar 2003 vorliegenden ärztlichen Einschätzungen - die Wiedererwägungsvoraussetzung der zweifellosen Unrichtigkeit (Art. 53 Abs. 2 ATSG) erfüllt.  
 
3.2.2. Die beschwerdeführende Verwaltung bringt vor, für die analoge Anwendung der Rechtsprechung zur somatoformen Schmerzstörung sei nicht vorausgesetzt, dass es sich um ein ausschliesslich syndromales Beschwerdebild handle. Das kantonale Gericht habe unberücksichtigt gelassen, dass ein syndromales Beschwerdebild auch bei teilweise organischer Ursache vorliegen könne. Zu prüfen sei, ob gestützt auf die organisch begründete Diagnose objektive Befunde erhoben worden seien, welche die geklagten Beschwerden hinreichend erklärten. Die neurochirurgische Begutachtung im Jahr 2003 habe weitgehend unauffällige objektive Befunde ergeben; es hätten sich keine mit der Wachstumsstörung des Rückenmarks ("tethered cord") zusammenhängenden charakteristischen Symptome oder Funktionsdefizite gefunden. Deswegen erkläre der organisch objektivierbare Befund die geklagten Rückenschmerzen allenfalls ansatzweise, nicht jedoch vollständig. Die ursprüngliche Rentenzusprache sei somit aufgrund eines pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildes ohne nachweisbare organische Grundlage erfolgt. Der Schlussfolgerung im beweiswertigen MEDAS-Gutachten vom 5. April 2012 entsprechend sei die Beschwerdegegnerin für leichte bis (kurzzeitig) mittelschwere, wechselbelastende Arbeiten bis auf eine 20-prozentige Leistungsminderung vollständig arbeitsfähig.  
 
3.2.3. Die Beschwerdeführerin macht zu Recht nicht geltend, der im Herbst 2002 neurochirurgisch diagnostizierte Gesundheitsschaden, der zur Zusprechung einer Invalidenrente ab April 2000 führte, gehöre als solcher zu den in lit. a SchlB zur 6. IV-Revision umschriebenen Krankheitsbildern. Mithin kann dahingestellt bleiben, ob das Anwendungsfeld der Schlussbestimmung von vornherein auf Krankheitsbilder beschränkt ist, welche ausdrücklich in die Rechtsprechung über die Zumutbarkeitsbeurteilung bei der somatoformen Schmerzstörung und gleichgestellten Leiden (BGE 131 V 49; 130 V 352; zuletzt BGE 139 V 346 E. 2) einbezogen wurden (vgl. dazu AB 2010 N 2122 f., 2011 S 39 f.). Hier genügt die Feststellung, dass sich die Anwendbarkeit von lit. a SchlB zur 6. IV-Revision ausschliesslich aus der Natur des Gesundheitsschadens ergibt, auf dem die Rentenzusprechung beruhte. Zweck der Schlussbestimmung ist es, in den dort gezogenen Grenzen Rentenbezüger gleich zu behandeln wie Rentenanwärter. Die von der Beschwerdeführerin postulierte analogieweise Ausdehnung auf Fälle, in denen fraglich ist, ob die Abschätzung der funktionellen Folgen (vollständig) mit dem diagnostizierten Gesundheitsschaden korreliert, liesse sich weder mit dem klaren Wortlaut der Bestimmung noch mit der dahinter stehenden Regelungsabsicht begründen (vgl. BBl 2009 1841; AB 2011 S 39). Letzte umfasst nicht auch die Möglichkeit, im Ergebnis eine Wiedererwägung vornehmen zu können, ohne dass die ursprüngliche Rechtsanwendung zweifellos unrichtig gewesen war. Die Auffassung der Beschwerdeführerin, ein syndromales Beschwerdebild könne auch bei teilweise organischer Ursache gegeben sein, ist richtig; das ändert nach dem Gesagten indes nichts daran, dass ein einschlägiger Gesundheitsschaden für die Rentenzusprechung massgebend gewesen sein muss, was hier nicht der Fall ist (oben E. 3.1).  
 
3.3. Die Vorinstanz hat somit zu Recht gefolgert, die Voraussetzungen für eine Rentenüberprüfung gemäss lit. a SchlB zur 6. IV-Revision seien nicht erfüllt. Kommt es insoweit auf die Schlussfolgerungen des aktuellen MEDAS-Gutachtens nicht an, kann dahingestellt bleiben, ob die Kritik der Beschwerdegegnerin an der Expertise (vgl. Ziff. 4 f. der Beschwerdeantwort) begründet ist.  
Der angefochtene Entscheid verletzt auch anderweitig nicht Bundesrecht (Art. 95 BGG), namentlich nicht mit den ergänzenden Schlussfolgerungen, weder ergebe sich aus dem MEDAS-Gutachten ein Revisionsgrund nach Art. 17 ATSG noch liege ein Fall der Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG vor. Demgemäss bleibt es beim bisherigen Leistungsanspruch. 
 
4.   
Das Gesuch der Verwaltung um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit diesem Entscheid gegenstandslos. Dies gilt auch für den Antrag der Beschwerdegegnerin auf unentgeltliche Rechtspflege. 
 
5.   
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin steht eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der Basler Versicherung AG, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse EXFOUR und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 13. November 2013 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub