Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6P.157/2005
6S.502/2005 /zga
Urteil vom 14.März 2006
Kassationshof
Besetzung
Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Bundesrichter Zünd,
Gerichtsschreiber Borner.
Parteien
G.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Daniel Althaus,
gegen
S.S.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Werner Marti,
Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus,
Postfach 621, 8750 Glarus,
Obergericht des Kantons Glarus, Gerichtshaus, Gerichtshausstrasse 19, 8750 Glarus.
Gegenstand
6P.157/2005
Art. 29 Abs. 2 BV (Strafverfahren; willkürliche Beweiswürdigung)
6S.502/2005
Strafzumessung (sexuelle Handlungen mit Kindern),
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.157/2005) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.502/2005) gegen das
Urteil des Obergerichts des Kantons Glarus
vom 18. November 2005.
Sachverhalt:
A.
Im Sinne eines "sexuellen Anschauungsunterrichts" kopulierten A.S.________ und V.S.________ auf verschiedene Weise vor ihrer geistig behinderten Tochter S.S.________ (geboren 1986). V.S.________ forderte mit Billigung ihres Mannes den Neffen G.________ (1978) auf, mit ihrer Tochter geschlechtlich zu verkehren. Im Zeitraum von ca. 1997 bis 2001 kam es in der Stube der Familie S.________ mindestens fünf Mal zum Geschlechtsakt, wobei A.S.________ und V.S.________ zuschauten.
Im Frühjahr 2001 zeigte G.________ dem Bruder (1988) von S.S.________ in seiner Wohnung einen Pornofilm und verkehrte anschliessend mit ihm anal.
B.
Das Kantonsgericht Glarus verurteilte G.________ am 18. August 2004 wegen mehrfacher Schändung, mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern und Pornographie zu 36 Monaten Gefängnis. Es schob die Freiheitsstrafe auf und wies stattdessen den Verurteilten in eine Heil- und Pflegeanstalt ein. Zudem verpflichtete es G.________, S.S.________ eine Genugtuung in Höhe von Fr. 15'000.-- zu zahlen, und erklärte ihn ersatzpflichtig für 80 % des angerichteten Schadens.
Das Obergericht des Kantons Glarus hiess am 18. November 2005 eine Appellation des Verurteilten teilweise gut: Es setzte die Gefängnisstrafe auf 30 Monate fest, ordnete anstelle der stationären eine ambulante Massnahme an, bestimmte die Genugtuungssumme auf Fr. 7'000.-- und bestätigte im Übrigen das erstinstanzliche Urteil.
C.
G.________ führt staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.
Das Obergericht schliesst sinngemäss auf Abweisung der Beschwerden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
I. Staatsrechtliche Beschwerde
1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, das Obergericht habe den Beweisantrag abgelehnt, die Aussagen von S.S.________ auf ihre Glaubhaftigkeit hin begutachten zu lassen. Mit dieser Ablehnung habe es den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt.
1.1 Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV umfasst u.a. das Recht des Betroffenen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden. Aus dem Anspruch folgt, dass der Richter rechtzeitig und formrichtig angebotene erhebliche Beweismittel abzunehmen hat. Dies verwehrt es ihm indes nicht, einen Beweisantrag abzulehnen, wenn er in willkürfreier Würdigung der bereits abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und er überdies in willkürfreier antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise zur Auffassung gelangen durfte, diese würden an der Würdigung der bereits abgenommenen Beweismittel voraussichtlich nichts mehr ändern (BGE 131 I 153 E. 3 mit Hinweisen).
1.2 Das Obergericht erwägt bei der Würdigung der Aussagen von V.S.________, als wesentlicher Punkt sei festzuhalten, dass ihre Sachverhaltsangaben im Kern mit der Darstellung des Beschwerdeführers übereinstimmten, dass nämlich dieser fünf Mal in der Stube ihres Wohnhauses mit S.S.________ den Geschlechtsverkehr vollzogen habe und dass sie und ihr Mann dabei jeweils zugeschaut hätten. Es sei absolut unvorstellbar, dass V.S.________ dies alles hätte erfinden und dabei zufällig erst noch die gleiche Version wie der Beschwerdeführer hätte zu Protokoll geben können. Gerade die Tatsache, dass sowohl V.S.________ wie auch der Beschwerdeführer geistig eingeschränkt sind, spreche dagegen, dass sie beide in der Lage wären, insbesondere in einer Stresssituation, wie es die Untersuchungshaft darstelle, unabhängig voneinander nahezu deckungsgleiche Aussagen zu machen, wenn diese nicht zutreffen würden. Vor dem Hintergrund der desaströsen Vorfälle im Wohnhaus der Familie S.________ erscheine ebenso die Darstellung von V.S.________ als glaubhaft, wonach sie und ihr Mann vor der geistig behinderten S.S.________ miteinander geschlafen hätten, damit sie erkenne und lerne, wie dies vor sich gehen würde (angefochtener Entscheid S. 37 Abs. 2).
Das Obergericht hält zudem fest, die Aussagen von S.S.________ bildeten in der ganzen Beweisführung keinesfalls das entscheidende Mosaiksteinchen. Daraus könne nicht mehr als ein Hinweis - wenn auch ein deutlicher - dafür hergeleitet werden, dass S.S.________ in ihrem familiären Umfeld etwas Gravierendes zugestossen sein müsse. Zum gleichen Ergebnis kam das Obergericht aber bereits aufgrund der Aussagen der Sozialpädagogin - der engsten Bezugsperson von S.S.________ im Sonderschulheim - und den Berichten des Fachpsychologen und Therapeuten von S.S.________ sowie des Kinder- und Jugendpsychiaters.
Aus diesen Erwägungen geht klar hervor, dass das Obergericht die Täterschaft des Beschwerdeführers gestützt auf sein Geständnis und dasjenige der Mutter des Opfers sowie die Berichte der sozialmedizinischen Fachleute als erwiesen erachtete und den Aussagen des Opfers folglich keine selbständige Bedeutung mehr zukam. Unter diesen Umständen durfte das Obergericht den Beweisantrag, die Aussagen von S.S.________ auf ihre Glaubhaftigkeit hin begutachten zu lassen, willkürfrei ablehnen. Damit hat es den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nicht verletzt.
2.
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Anwendung von Art. 44 Abs. 2 der Glarner Strafprozessordnung. Das Obergericht habe auf die Aussagen des Opfers abgestellt, obwohl diese weitgehend auf suggestive Art zustande gekommen seien.
Entgegen der Annahme des Beschwerdeführers kam den Aussagen des Opfers keine selbständige Bedeutung zu (E. 1.2). Damit erweist sich der Willkürvorwurf zum vornherein als unbegründet.
3.
Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen.
II. Nichtigkeitsbeschwerde
4.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die Strafe in mehrfacher Hinsicht falsch bemessen und dadurch Art. 63 StGB verletzt.
4.1 Er argumentiert, die Staatsanwaltschaft habe eine Freiheitsstrafe von 36 Monaten beantragt. Erst im Anschluss daran habe eine psychiatrische Begutachtung des Beschwerdeführers ergeben, er sei leicht vermindert zurechnungsfähig. Trotz dieses Strafmilderungsgrundes habe das Kantonsgericht den Antrag der Staatsanwaltschaft zum Urteil erhoben. Wenn nun die Vorinstanz festhalte, das Kantonsgericht habe die strafmindernden Faktoren korrekt gewürdigt, trage sie ihrerseits der leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht Rechnung. Sie habe die Strafe nur aufgrund der abhängigen Persönlichkeitsstörung reduziert.
Mit dieser Argumentation versucht der Beschwerdeführer, zusätzlich zu seiner Persönlichkeitsstörung auch wegen seiner leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit eine Strafminderung zu erreichen. Die Persönlichkeitsstörung stellt aber gerade den (hauptsächlichen) Grund der verminderten Zurechnungsfähigkeit dar. So diagnostizierte der Gutachter beim Beschwerdeführer eine unterdurchschnittliche Intelligenz (ohne Krankheitswert) sowie eine abhängige Persönlichkeitsstörung. Aufgrund dieser beiden Elemente sei er geistig mangelhaft entwickelt. Seine Einsichts- als auch Willensfähigkeit seien im Zeitpunkt der Taten beeinträchtigt gewesen, allerdings nur in leichtem Grad (kantonale Akten, act. 35, insbesondere S. 14 und 16).
Die Vorinstanz zählt zusammen mit anderen strafmindernden Beurteilungsmerkmalen ausdrücklich die leicht verminderte Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers auf. Deshalb ist davon auszugehen, dass sie diesen Umstand in der Gesamtbeurteilung auch berücksichtigte. Die Persönlichkeitsstörung nahm sie zum Anlass, die Gefängnisstrafe von 36 auf 30 Monate herabzusetzen. Diese Beurteilung kann dahin gehend verstanden werden, dass im Rahmen der leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers dessen Persönlichkeitsstörung deutlich mehr Gewicht zukommt, weil sie im Gegensatz zu seiner unterdurchschnittlichen Intelligenz Krankheitswert aufweist.
Selbst wenn das Kantonsgericht den Strafmilderungsgrund der leicht verminderten Zurechnungsfähigkeit zu wenig stark gewichtet haben sollte, hat jedenfalls die Vorinstanz diesen Mangel behoben, indem sie die Strafe einzig gestützt auf die Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers um 6 Monate herabsetzte. Damit erweist sich die Rüge des Beschwerdeführers als unbegründet. Im Übrigen war das Kantonsgericht nicht an den Antrag der Staatsanwaltschaft gebunden, sondern hatte das Strafmass nach pflichtgemässem Ermessen festzulegen. Nur schon eine stärkere Gewichtung des Verschuldens beispielsweise hätte dabei die leicht verminderte Zurechnungsfähigkeit ausgleichen können.
4.2 Der Beschwerdeführer bemängelt, die Vorinstanz habe entgegen dem Kantonsgericht nicht mehr das jugendliche Alter im Sinne von Art. 64 Abs. 8 StGB berücksichtigt.
Zunächst ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer lediglich zu Beginn seiner Delikte noch nicht 20 Jahre alt war. Entscheidend ist jedoch, dass er nicht aufgrund seines Alters, sondern wegen seiner beeinträchtigten geistigen Gesundheit nicht die volle Einsicht in das Unrecht seiner Taten besass. Der Gutachter hält nämlich fest, dass die geistigen Defizite des Beschwerdeführers bereits seit der Pubertät nachweisbar seien (kantonale Akten, act. 35, S. 14 unten). Folglich hat die Vorinstanz den Strafmilderungsgrund des jugendlichen Alters zu Recht nicht berücksichtigt (BGE 103 IV 146).
4.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei besonders strafempfindlich, was nicht berücksichtigt worden sei. Er lebe seit Herbst 2003 mit seiner Frau und deren zwei Kindern zusammen. Sie leide seit mehreren Jahren an multipler Sklerose und sei auf den Rollstuhl angewiesen, wobei sie auch an Blasen- und Darmentleerungsstörungen leide. Deshalb könne der Beschwerdeführer nur dann von der Familie fernbleiben, wenn für die Betreuung der Ehefrau und der Kinder eine andere Person engagiert würde. Dazu fehlten indessen die finanziellen Mittel.
Der Umstand allein, dass der Beschwerdeführer verheiratet ist, reicht nicht aus, ihn als besonders strafempfindlich einzustufen. Denn ein Strafvollzug trifft Ehepartner regelmässig hart, doch ist dies eine unmittelbare Auswirkung der unbedingten Freiheitsstrafe. Es kommt hinzu, dass der Beschwerdeführer und seine Frau sich erst im Jahre 2003 vermählten. Sie wussten somit bereits zu jenem Zeitpunkt, dass sie je nach Ausgang des Strafverfahrens für eine gewisse Zeit getrennt würden. Im Übrigen beurteilt der Gutachter die "aufopfernde" Lebensweise des Beschwerdeführers als problematisch und erwartet von einer ambulanten Therapie während des Strafvollzugs unter anderem, dass er ermutigt werden könnte, mehr Verantwortung für seine Lebensgestaltung zu übernehmen, sowohl im Hinblick auf eine sinnvolle Wahrnehmung und Realisierung der eigenen Bedürfnisse als auch hinsichtlich der Vermeidung weiterer Straftaten (kantonale Akten, act. 35, S. 16 f. Ziff. 5 und 5.2 b). Unter diesen Voraussetzungen kann der Beschwerdeführer nicht als besonders strafempfindlich bezeichnet werden. Damit erweist sich seine Rüge als unbegründet.
4.4 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht strafmildernd berücksichtigt und dass seit der Tat verhältnismässig lange Zeit verstrichen sei und er sich während der letzten 4 Jahre wohl verhalten habe.
Der Beschwerdeführer legt nicht dar und es ist auch nicht ersichtlich, während welcher Zeitspanne(n) das Strafverfahren nicht beförderlich durchgeführt worden wäre. Von einer Verletzung des Beschleunigungsgebots kann demnach keine Rede sein. Ebensowenig ist Art. 64 Abs. 7 StGB verletzt, denn die Taten des Beschwerdeführers sind noch lange nicht verjährt.
Weshalb die Vorinstanz dem Beschwerdeführer eine (teilweise) tätige Reue hätte zugute halten müssen, ist nicht ersichtlich. Entgegen seiner Behauptung hat sie seine Vorstrafenlosigkeit berücksichtigt. So erwähnt sie seinen ungetrübten Leumund ausdrücklich.
5.
Damit erweist sich auch die Nichtigkeitsbeschwerde als unbegründet.
III. Kosten
6.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da seine Begehren von vornherein aussichtslos erschienen, ist das Gesuch abzuweisen (Art. 152 OG). Folglich wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG und Art. 278 Abs. 1 BStP). Bei der Bemessung der Gerichtsgebühr ist jedoch seinen finanziellen Verhältnissen Rechnung zu tragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
3.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
4.
Die Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 1'600.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus und dem Obergericht des Kantons Glarus schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 14. März 2006
Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: