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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_284/2008 /daa 
 
Urteil vom 14. November 2008 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Forster. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Urs Rudolf, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern. 
 
Gegenstand 
Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 22. September 2008 des Obergerichtes des Kantons Luzern, 
II. Kammer. 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Urteil vom 24. März 2006 verurteilte das Kriminalgericht des Kantons Luzern X.________ wegen vollendeten Versuchs der vorsätzlichen Tötung, Gefährdung des Lebens, mehrfachen qualifizierten Raubes, räuberischer Erpressung, mehrfacher qualifizierter einfacher Körperverletzung und mehrfacher versuchter Anstiftung zu falschem Zeugnis zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe. Auf Appellation des Verurteilten hin bestätigte das Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, am 5. September 2007 zwar den Schuldspruch wegen vollendeten Tötungsversuchs, es konzedierte dem Verurteilten jedoch einen (strafmildernden) Notwehrexzess nach Art. 16 Abs. 1 StGB. Im Übrigen bestätigte es im Wesentlichen die erstinstanzlichen Schuldsprüche. Das Obergericht verurteilte den Angeklagten (teilweise als Zusatzstrafe zu einer Strafverfügung des Amtsstatthalteramtes Luzern vom 5. Juni 2001) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren, abzüglich 1'784 Tage Untersuchungshaft bzw. vorzeitiger Strafvollzug. Gleichzeitig ordnete es für den Verurteilten eine ambulante psychoterapeutische Behandlung ohne Aufschub des Strafvollzuges an. 
 
B. 
Nach Erlass des obergerichtlichen Urteils vom 5. September 2007 wurde der Verurteilte (im Rahmen des vorzeitigen offenen Strafvollzuges) im Wohnheim "Lindenfeld" in Emmen platziert. 
 
C. 
Eine von der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen das Urteil des Obergerichtes vom 5. September 2007 erhobene Beschwerde hiess das Bundesgericht, Strafrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 1. September 2008 gut. Es hob das obergerichtliche Urteil auf und wies die Strafsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück (Verfahren 6B_236/2008). 
 
D. 
Am 17. September 2008 erliess das Obergericht wegen Fluchtgefahr und zur Sicherung des drohenden (Rest-)Strafvollzuges einen Haftbefehl, worauf der Verurteilte mit Verfügung des luzernischen Kantonalen Untersuchungsrichters vom 18. September 2008 aus dem offenen (vorzeitigen) Strafvollzug in die strafprozessuale Sicherheitshaft (im Untersuchungsgefängnis Grosshof, Kriens) versetzt wurde. Gleichentags stellte der Inhaftierte ein Haftentlassungsgesuch, welches das Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, mit Entscheid vom 22. September 2008 abwies. 
 
E. 
Gegen den Haftprüfungsentscheid des Obergerichtes vom 22. September 2008 gelangte X.________ mit Beschwerde vom 23. Oktober 2008 an das Bundesgericht. Er beantragt zur Hauptsache die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und seine sofortige Haftentlassung. 
 
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft beantragen mit Vernehmlassungen vom 30. und 31. Oktober bzw. 6. November 2008 je die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer replizierte am 11. November 2008. Gleichentags reichte seine Ehefrau (unaufgefordert) eine Stellungnahme ein. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Angefochten ist ein strafprozessualer Haftprüfungsentscheid betreffend Sicherheitshaft. Die Eintretenserfordernisse von Art. 78 ff. BGG (vgl. BGE 133 I 270 E. 1.1 S. 272 f. mit Hinweisen) geben hier zu keinen Bemerkungen Anlass. 
 
Die Beschwerde kann aufgrund der vorliegenden Akten beurteilt werden. Dem Ersuchen des Beschwerdeführers, es sei ihm eine angemessene Frist anzusetzen zur Nachreichung weiterer Unterlagen bzw. zur Ergänzung der Beschwerde, ist keine Folge zu leisten. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür sind nicht erfüllt (vgl. Art. 43 BGG). Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen stünde dem Verfahrensantrag zusätzlich entgegen (vgl. Art. 31 Abs. 4 BV). 
 
2. 
Nach luzernischem Strafprozessrecht darf der verurteilte Angeklagte vom erkennenden Gericht in Sicherheitshaft versetzt werden, wenn es zur Sicherung des Straf- und Massnahmenvollzuges erforderlich ist. Die Bestimmungen über die Untersuchungshaft sind dabei sinngemäss anzuwenden (§ 185 Abs. 2 StPO/LU). Strafprozessuale Haft darf angeordnet bzw. fortgesetzt werden, wenn der Angeklagte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und zudem ein besonderer Haftgrund besteht, namentlich Fluchtgefahr (§ 80 Abs. 2 Ziff. 1 StPO/LU). 
 
3. 
Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht von Verbrechen oder Vergehen nicht. Er rügt jedoch, die Annahme von Fluchtgefahr verstosse gegen Art. 10 Abs. 2 BV. Er habe bereits sechs Jahre anrechenbare strafprozessuale Haft erstanden. Daher sei kein Grund mehr ersichtlich, weshalb er sich einem drohenden Strafvollzug durch Flucht entziehen sollte. Dass er aufgrund des Bundesgerichtsurteils vom 1. September 2008 mit einer deutlich höheren Strafe rechnen müsste als die vom Obergericht ursprünglich ausgefällten sechs Jahre Freiheitsentzug, sei nicht offensichtlich erstellt. Die anderslautenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid kämen einer Vorverurteilung gleich. Selbst wenn er, der Beschwerdeführer, zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt würde, hätte er nicht mit einem weiteren Strafvollzug zu rechnen, da er Anspruch habe auf bedingte Entlassung nach zwei Dritteln der Strafdauer. Auch nach Kenntnis des bundesgerichtlichen Urteils habe er denn auch keinerlei Anstalten zur Flucht getroffen. Im offenen (vorzeitigen) Strafvollzug habe er sich korrekt verhalten und gut gearbeitet. Bei einer Haftentlassung könne er sofort wieder als Eisenleger tätig werden, zumal er schon im Rahmen des Arbeitsexternates in Halbgefangenschaft geeignete Stellen gefunden habe. Er sei in der Schweiz aufgewachsen und mit einer Portugiesin verheiratet, mit der er zwei Kinder habe. Seine Familie lebe in der Schweiz; zu seiner kosovarischen Heimat pflege er praktisch keine Beziehung mehr. Im Rahmen der gerichtlich angeordneten ambulanten Psychotherapie habe er unterdessen Fortschritte gemacht und auch Wiedergutmachungszahlungen an ein Opfer geleistet. 
 
3.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). So ist es zulässig, die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches mitzuberücksichtigen. Auch bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das den Angeschuldigten grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen (BGE 123 I 31 E. 3d S. 36 f.). 
 
3.2 Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 BV) wegen der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des kantonalen Prozessrechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch BGE 132 I 21 E. 3.2.3 S. 24 mit Hinweisen). 
 
3.3 Im angefochtenen Entscheid wird erwogen, dem Beschwerdeführer drohe angesichts des Bundesgerichtsentscheides vom 1. September 2008 mit grosser Wahrscheinlichkeit eine deutlich höhere Strafdauer als sechs Jahre. Erstinstanzlich seien zwölf Jahre Freiheitsstrafe ausgefällt worden. Die verbindlichen Erwägungen des Bundesgerichtes schlössen im Anklagepunkt der versuchten vorsätzlichen Tötung die Annahme eines Notwehrexzesses (und gestützt darauf eine massive Strafmilderung) praktisch aus. Die Staatsanwaltschaft beantrage im hängigen Appellations- bzw. Neubeurteilungsverfahren die Bestätigung des erstinstanzlichen Strafmasses von zwölf Jahren. Das Urteil des Obergerichtes könne bald erwartet werden. 
 
3.4 Die Erwägung der Vorinstanz, der Beschwerdeführer müsse im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung wegen vollendeten Tötungsversuchs, Gefährdung des Lebens, mehrfachen qualifizierten Raubes, räuberischer Erpressung, mehrfacher qualifizierter einfacher Körperverletzung und mehrfacher versuchter Anstiftung zu falschem Zeugnis mit einem Strafmass rechnen, das deutlich höher liegen könnte als die bisherige Haftdauer von ca. sechs Jahren, ist grundrechtskonform. Die Annahme massiver Strafmilderungs- oder -Minderungsgründe erscheint nach dem genannten Rückweisungsentscheid des Bundesgerichtes unwahrscheinlich. Der Beschwerdeführer räumt in diesem Zusammenhang ein, er wisse "sehr wohl um die Möglichkeit einer substantiell längeren Freiheitsstrafe". Das Obergericht durfte die dem Angeklagten drohende empfindliche Strafe demnach ohne Verfassungsverletzung als ein Fluchtindiz mitberücksichtigen. 
 
3.5 Darin, dass die zuständige haftprüfende Instanz sich zur Frage äussert, welche Sanktion dem Angeklagten im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung drohen könnte, liegt keine unzulässige Vorverurteilung. Entsprechende Überlegungen hat der Haftrichter insbesondere zur Prüfung der Verhältnismässigkeit der Haftdauer anzustellen (vgl. BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170, 270 E. 3.4.2 S. 281, je mit Hinweisen). Der Möglichkeit eines günstigen vollzugsrechtlichen Entscheides nach Art. 86 Abs. 1 StGB (bedingte Entlassung) ist im strafprozessualen Haftprüfungsverfahren grundsätzlich noch keine Rechnung zu tragen (vgl. Urteile des Bundesgerichtes 1B_234/2008 vom 8. September 2008 E. 3; 1P.493/2006 vom 5. September 2006 E. 6.1 mit Hinweisen). Jedenfalls führt sie hier nicht zum Dahinfallen eines gewissen objektiven Fluchtanreizes. 
 
3.6 Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er kosovo-albanischer bzw. serbischer Staatsangehöriger ist. Er räumt auch sporadische Kontakte in sein Heimatland ein: Im August 2008 habe seine Schwester im Kosovo einen Kosovaren geheiratet; sein Gesuch um Hafturlaub, um an der Hochzeitsfeier teilzunehmen, sei abgelehnt worden. Im angefochtenen Entscheid wird weiter auf die Strafakten hingewiesen. Das Berufsleben des Beschwerdeführers müsse insgesamt als inkonstant eingestuft werden. Aus den Akten ergäben sich zahlreiche Vorgänge, die auf eine "gleichgültige Haltung gegenüber einer gesetzeskonformen Lebensführung" hinwiesen. Sein Verhalten in Halbgefangenschaft zwischen 15. Mai und 18. September 2008 erlaube noch zu wenig verlässliche Rückschlüsse auf eine dauerhafte Änderung dieses Verhaltens. Im forensisch-psychiatrischen Gutachten vom 19. März 2004 werde bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstruktur diagnostiziert. Sie manifestiere sich durch häufiges Verletzen allgemeingültiger Regeln, mangelnde Impulskontrolle sowie Unvermögen, aus negativer Erfahrung zu lernen. Auch dieses Krankheitsbild, das durch die ambulante haftbegleitende Therapie (auch nach Einschätzung des forensischen Experten) kaum habe beseitigt werden können, lasse auf eine Neigung zu unüberlegten Reaktionen wie etwa Flucht schliessen. 
 
3.7 Bei Würdigung sämtlicher Umstände hält es vor der Verfassung stand, wenn die Vorinstanz ausreichend konkrete Anhaltspunkte für Fluchtgefahr bejaht hat. Bei der vorliegenden Haftprüfung ist auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Obergericht ausdrücklich ein baldiges Urteil im Neubeurteilungsverfahren in Aussicht stellt, sodass vom erkennenden Strafgericht in absehbarer Zeit auch über die Frage der Freilassung bzw. des gebotenen Haft- und Vollzugsregimes neu zu befinden sein wird. Grundrechtskonform erscheint bei dieser Sachlage auch die Erwägung der Vorinstanz, mit allfälligen strafprozessualen Ersatzmassnahmen für Sicherheitshaft lasse sich der dargelegten Fluchtgefahr im jetzigen Verfahrensstadium nicht ausreichend begegnen. 
 
3.8 Der Beschwerdeführer stellt kein Eventual-Rechtsbegehren, wonach er in den (vorzeitigen) offenen Strafvollzug rückzuversetzen wäre. Sinngemäss macht er jedoch geltend, bei einem Verzicht auf die Anordnung von Sicherheitshaft (bzw. einer Verneinung der Fluchtgefahr) wäre er im Arbeitsexternat verblieben, was in der Folge zu einer Haftentlassung geführt hätte. Diese Vorbringen begründen keine Verfassungsverletzung, soweit auf sie überhaupt eingetreten werden kann. Die Aufhebung des früheren Haftregimes bildet nicht Gegenstand des angefochtenen Haftprüfungsentscheides vom 22. September 2008. Die Sicherheitshaft wurde bereits mit separater Verfügung des Kantonalen Untersuchungsrichters vom 18. September 2008 rechtskräftig angeordnet. Gegenstand des angefochtenen Haftprüfungsentscheides ist die Ablehnung des anschliessenden Gesuches um Entlassung aus der Sicherheitshaft. Im Übrigen wäre auch hinsichtlich der Haftanordnung vom 18. September 2008 keine verfassungswidrige Anwendung des kantonalen Strafprozessrechts ersichtlich. 
 
4. 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung). Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (und insbesondere die finanzielle Bedürftigkeit des Gesuchstellers ausreichend dargelegt wird), kann dem Begehren entsprochen werden (Art. 64 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist. 
 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4. 
Dem Rechtsbeistand des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Urs Rudolf, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet. 
 
5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 14. November 2008 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Féraud Forster