Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6B_749/2012 
 
Urteil vom 15. Mai 2013 
Strafrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Mathys, Präsident, 
Bundesrichter Schneider, Oberholzer, 
Gerichtsschreiberin Pasquini. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Fürsprecher Harold Külling, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Grobe Verletzung der Verkehrsregeln (ungenügender Abstand beim Hintereinanderfahren); Willkür, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts 
des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, 
vom 6. November 2012. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 16. Februar 2012 wegen Nötigung und mehrfacher grober Verkehrsregelverletzung (mehrfach ungenügender Abstand beim Hintereinanderfahren sowie unbegründetes brüskes Bremsen) zu einer unbedingten Geldstrafe von 160 Tagessätzen zu Fr. 60.--. 
Das Gerichtspräsidium Aarau sprach X.________ auf dessen Einsprache hin von den Vorwürfen der Nötigung und groben Verkehrsregelverletzung (unbegründetes brüskes Bremsen) frei. Es bestrafte ihn aber wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln (mehrfach ungenügender Abstand beim Hintereinanderfahren) mit einer unbedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu Fr. 90.--. 
 
B. 
Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung von X.________ ab. Es ging von folgendem Sachverhalt aus: 
X.________ fuhr mit seinem Personenwagen demjenigen von A.________ mehrfach sehr nahe auf. Der Abstand zwischen den Fahrzeugen betrug, bei einer Geschwindigkeit von ca. 60-70 km/h, zwischen einem Meter und zwei Metern bzw. einmal sogar weniger als einen Meter. 
 
C. 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben. Er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Sodann ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (Art. 10 Abs. 2 StPO). Die Vorinstanz verweise auf die Beweiswürdigung der ersten Instanz, ohne sich mit seiner Argumentation auseinanderzusetzen, wonach A.________ nicht mit einer konstanten Geschwindigkeit von 75 km/h gefahren sei. Eine korrekte Würdigung der Beweise widerlege diese erstinstanzliche Annahme (Beschwerde S. 3 und S. 5-7). 
 
1.2 Soweit die Ausführungen des Beschwerdeführers gegen das erstinstanzliche Urteil gerichtet sind, ist darauf nicht einzutreten. Anfechtungsobjekt der Beschwerde an das Bundesgericht bildet der letztinstanzliche kantonale Entscheid (Art. 80 Abs. 1 BGG). Das ist vorliegend das obergerichtliche Urteil. Die Vorinstanz erwägt, bei einem Abstand, wie ihn A.________ glaubhaft angebe, nämlich von teilweise unter einem Meter, werde das genaue Tempo irrelevant. Bei einem derart geringen Abstand sei eine grobe Verkehrsregelverletzung bereits ab einer Geschwindigkeit von weniger als 6 km/h gegeben (Urteil S. 8 E. 2.2.2.3). Der Beschwerdeführer setzt sich mit diesen Erwägungen nicht auseinander. Auf die Beschwerde ist auch insofern nicht einzutreten. 
 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV), eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (Art. 10 Abs. 2 StPO) und von Art. 34 Abs. 4 SVG sowie Art. 12 Abs. 1 VRV. Er macht im Wesentlichen geltend, die Vorinstanz übersehe, dass es für die Zeugin sehr wohl einen Grund gegeben habe, die Polizei anzurufen und ihn anzuzeigen. Sie habe sich durch ihn bedrängt gefühlt. Ob er die Abstandsvorschriften eingehalten habe, hänge aber nicht von ihrem Empfinden ab. Um dies festzustellen, brauche es vielmehr die genaue Geschwindigkeit und den gemessenen Abstand zwischen den Fahrzeugen. An beidem fehle es vorliegend. Die Vorinstanz stütze den Vorwurf des mehrfach ungenügenden Abstands, einzig auf die Aussagen der vorausfahrenden Lenkerin. Diese habe die Abstände aufgrund ihrer Wahrnehmung im Rückspiegel abgeschätzt, währenddem sie sich auch noch auf den Verkehr habe konzentrieren müssen. Ihre Aussage, sie habe die Lichter und das Nummernschild seines Fahrzeugs nicht mehr gesehen, belege keinen ungenügenden Abstand, da Angaben über die in diesem Moment gefahrene Geschwindigkeit und über die Höhe fehlten, in der die Scheinwerfer und das Schild an seinem Fahrzeug angebracht seien. Mangels genauer Geschwindigkeitsangaben fänden die "Tacho-Regeln" keine Anwendung (Beschwerde S. 3 f. und S. 7-10). 
 
2.2 Die Vorinstanz verweist auf die Beweiswürdigung der ersten Instanz und stützt ihren Schuldspruch auf die Aussagen von A.________. Sie habe die Fahrt detailliert geschildert. Ihre Aussagen seien glaubhaft. Es sei nicht ersichtlich, weshalb sie den Beschwerdeführer zu Unrecht beschuldigen sollte. Sie habe angegeben, er sei auf der Bünztalstrasse in Richtung Lenzburg zwischen dem Villmerger- und dem Dintiker-Kreisel mehrmals so nahe aufgefahren, dass sie die Lichter des Wagens des Beschwerdeführers und das Nummernschild nicht mehr habe erkennen können. Sie habe mehrmals die Scheibenwischanlage betätigt, um ihn auf sein Fehlverhalten aufmerksam zu machen. Daraufhin sei der Abstand kurz grösser geworden. Die Vorinstanz führt aus, hinsichtlich der Geschwindigkeit habe die Zeugin in der polizeilichen Einvernahme ausgesagt, nach dem Dintiker-Kreisel sei sie nicht schneller als 60-70 km/h gefahren. An der erstinstanzlichen Verhandlung habe sie erklärt, ausserorts ca. 75 km/h gefahren zu sein. Die Vorinstanz stellt fest, die Aussagen des Beschwerdeführers enthielten Widersprüche und Ungereimtheiten. Sie seien als Schutzbehauptungen zu werten. Auch die Aussagen seines Beifahrers seien weder stimmig noch konstant und liessen diesen nicht als glaubwürdig erscheinen. Demgegenüber seien die detaillierten und stimmigen Aussagen von A.________ glaubhaft (Urteil S. 8 ff. E. 2.3; erstinstanzliches Urteil S. 8 ff. E. 2.3.3 f. und E. 2.4). 
2.3 
2.3.1 Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 137 III 226 E. 4.2 S. 234; zum Begriff der Willkür BGE 138 I 49 E. 7.1; je mit Hinweisen). Die Rüge der Verletzung von Grundrechten (einschliesslich der Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung) muss in der Beschwerde anhand des angefochtenen Entscheids präzise vorgebracht und substanziiert begründet werden, andernfalls darauf nicht eingetreten wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 5; 136 I 65 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). 
2.3.2 Nach Art. 34 Abs. 4 SVG ist gegenüber allen Strassenbenützern ein ausreichender Abstand zu wahren, namentlich beim Kreuzen und Überholen sowie beim Neben- und Hintereinanderfahren. Der Fahrzeugführer hat beim Hintereinanderfahren einen ausreichenden Abstand zu wahren, so dass er auch bei überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahrzeugs rechtzeitig halten kann (Art. 12 Abs. 1 VRV). Was unter einem "ausreichenden Abstand" zu verstehen ist, hängt von den gesamten Umständen ab. Im Sinne von Faustregeln stellt die Rechtsprechung für Personenwagen auf die Regel "halber Tacho" und die "Zwei-Sekunden"-Regel ab (BGE 131 IV 133 E. 3.1 S. 135 mit Hinweisen). Diese Distanz entspricht ungefähr der Anhaltestrecke bei plötzlichem ordnungsgemässem Bremsen und Anhalten des vorausfahrenden Personenwagens (BGE 104 IV 192 E. 2b S. 194). Für die Beurteilung, ob eine grobe Verkehrsregelverletzung anzunehmen ist, wird als Richtschnur die Regel "1/6-Tacho" bzw. der Abstand von 0,6 Sekunden herangezogen (BGE 131 IV 133 E. 3.2.2; Urteil 6B_1030/2010 vom 22. März 2011 E. 3.3.2; je mit Hinweisen). 
 
2.4 Die Vorbringen des Beschwerdeführers zur vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung sind nicht geeignet, Willkür darzutun. Soweit er sich darauf beschränkt, den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz und ihrer Beweiswürdigung seine Sicht der Dinge gegenüberzustellen und nicht darlegt, inwiefern das angefochtene Urteil (auch) im Ergebnis schlechterdings unhaltbar ist, kann darauf nicht eingetreten werden. Dies trifft z.B. zu, wenn er behauptet, die Zeugin habe ihn angezeigt, weil sie sich durch ihn bedrängt gefühlt habe (Beschwerde S. 7), oder wenn er ausführt, die Vorinstanz argumentiere willkürlich, wenn sie nicht zu seinen Gunsten gewichte, dass es zu keinem Verkehrsunfall kam (Beschwerde S. 10). Soweit er wörtlich wiederholt, was er bereits in seiner Berufung an die Vorinstanz vorbrachte (vgl. Beschwerde S. 7 ff. und vorinstanzliche Plädoyernotizen), setzt er sich nicht bzw. nicht in rechtsgenügender Weise mit dem angefochtenen Entscheid auseinander. Der Beschwerdeführer zeigt nicht auf und es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Zeugin unglaubhaft ausgesagt haben soll. 
 
2.5 Aus den Einwänden des Beschwerdeführers ergibt sich auch keine Verletzung der Maxime der freien Beweiswürdigung (Art. 10 Abs. 2 StPO und Art. 249 aBStP), wonach das Gericht frei von Beweisregeln und nur nach seiner persönlichen Ansicht aufgrund gewissenhafter Prüfung darüber entscheidet, ob es eine Tatsache für erwiesen hält (vgl. BGE 138 IV 47 E. 2.3; 133 I 33 E. 2.1; je mit Hinweisen). 
 
2.6 Hinsichtlich der rechtlichen Würdigung kann auf die Erwägungen der Vorinstanz verwiesen werden (Urteil S. 10-13 E. 2.4 f.). Der Beschwerdeführer beanstandet diese nicht. Bei Art. 90 SVG handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Mithin gelangt diese Norm entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers auch zur Anwendung, wenn es nicht zu einem Auffahrunfall kam. 
 
3. 
Die Rüge des Beschwerdeführers, die sog. Tachoregeln fänden keine gesetzliche Stütze und deren Anwendung verletze das Legalitätsprinzip (Art. 1 StGB), ist unbegründet. Ihm wird zur Last gelegt, er habe mehrfach durch ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren gegen Verkehrsregeln (Art. 34 Abs. 4 SVG sowie Art. 12 Abs. 1 VRV) verstossen. Nach konstanter Rechtsprechung dienen die sog. "Tachoregeln" lediglich als Faustregel und Richtschnur für die Beurteilung, ob ein ausreichender Abstand vorliegt bzw. ob eine grobe Verkehrsregel anzunehmen ist (zum Grundsatz der Legalität BGE 138 IV 13 E. 4.1 mit Hinweisen). Aus Praktikabilitätsgründen hat sich ein genügender Abstand an einfachen Faustregeln zu orientieren (Urteil 6B_355/2012 vom 28. September 2012 E. 3.4). 
 
4. 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist infolge Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei der Festsetzung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Beschwerde S. 10 f.; Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
 
3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 15. Mai 2013 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Mathys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Pasquini