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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_80/2010 
 
Urteil vom 15. Juni 2010 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Niquille, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
B.________, 
handelnd durch seine Eltern 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 17. November 2009. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Der am 21. Mai 2001 geborene B.________ leidet an primär generalisierter, möglicherweise myoklonischer Epilepsie, welche gemäss Bericht der Kinderklinik des Spitals X.________ vom 17. November 2005 am 28. Oktober 2005 erstmals diagnostiziert wurde. Bei einem Verdacht auf einen seit Geburt bestehenden Entwicklungsrückstand übernahm die IV-Stelle des Kantons Aargau (nachfolgend: IV-Stelle oder Beschwerdeführerin) für den versicherten Knaben die heilpädagogische Abklärung und für die Dauer vom 28. August 2003 bis 31. Juli 2008 die heilpädagogische Früherziehung. Der Kinderarzt Dr. med. L.________ ersuchte die IV-Stelle am 4. November 2005 um Übernahme der Epilepsiebehandlung. Am 14. Dezember 2005 anerkannte die IV-Stelle ihre Leistungspflicht für die Behandlung des Geburtsgebrechens Ziff. 387 GgV Anhang (angeborene Epilepsie). Wegen der Epilepsie, eines leichten allgemeinen Entwicklungsrückstandes, einer deutlichen Beeinträchtigung der Proprioception, der Bewegungssteuerung und der Koordination, einer nicht altersgemäss differenzierten Handmotorik, einer eingeschränkten Visuo- und Graphomotorik sowie wegen verminderten räumlich-konstruktiven Leistungen ersuchte das Zentrum A.________ die IV-Stelle im Rahmen der Durchführung der Sonderschule am 19. und 25. Juni 2008 um Kostengutsprache für ergo- und physiotherapeutische Förderung. Nach medizinischen Abklärungen verneinte die IV-Stelle sowohl einen Anspruch auf Übernahme der Ergotherapie (Verfügung vom 9. März 2009) als auch einen Anspruch auf Übernahme der Physiotherapie (Verfügungen vom 10. März 2009) als Behandlung des anerkannten Geburtsgebrechens mangels eines engen Kausalzusammenhanges zwischen der Epilepsie und den geltend gemachten Defiziten. 
 
B. 
Die einzig gegen die Verfügung vom 9. März 2009 (betreffend Ergotherapie) erhobene Beschwerde des B.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau nach Einholung eines Berichts der Kinderklinik des Spitals X.________ vom 8. September 2009 mit Entscheid vom 17. November 2009 gut, hob die strittige Verfügung auf und sprach dem Versicherten für zwei Jahre Ergotherapie als medizinische Massnahme zu. 
 
C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheids sowie die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neuverlegung der Kosten. 
 
Der Versicherte, das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). 
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007 N 24 zu Art. 97). 
 
2. 
2.1 Versicherte haben bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen (Art. 13 Abs. 1 IVG). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden (Art. 13 Abs. 2 Satz 1 IVG). Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten diejenigen Krankheiten, die bei vollendeter Geburt bestehen (Art. 3 Abs. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über Geburtsgebrechen vom 9. Dezember 1985 [GgV]). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 GgV). 
 
2.2 Nach konstanter Rechtsprechung (Urteil 29/06 vom 9. August 2007 E. 4.2 mit Hinweisen) erstreckt sich der Anspruch auf medizinische Massnahmen ausnahmsweise - und vorbehältlich der hier nicht zur Diskussion stehenden Haftung für das Eingliederungsrisiko nach Art. 11 IVG - auch auf die Behandlung sekundärer Gesundheitsschäden, die zwar nicht mehr zum Symptomenkreis des Geburtsgebrechens gehören, aber nach medizinischer Erfahrung häufig die Folge dieses Gebrechens sind. Zwischen dem Geburtsgebrechen und dem sekundären Leiden muss demnach ein qualifizierter adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Nur wenn im Einzelfall dieser qualifizierte ursächliche Zusammenhang zwischen sekundärem Gesundheitsschaden und Geburtsgebrechen gegeben ist und sich die Behandlung überdies als notwendig erweist, hat die Invalidenversicherung im Rahmen des Art. 13 IVG für die medizinischen Massnahmen aufzukommen (BGE 129 V 207 E. 3.3 S. 209, 100 V 41 mit Hinweisen; AHI 2001 S. 79, I 43/98 E. 3a). Die Häufigkeit des sekundären Leidens stellt nicht das allein entscheidende Kriterium für die Bejahung eines qualifizierten adäquaten Kausalzusammenhanges dar (Urteile 9C_674/2009 vom 26. Februar 2010 E. 2.2 und 9C_319/2008 vom 20. August 2008 E. 2.2; SVR 2005 IV Nr. 22 S. 86 ff., I 438/02 E. 1.3). 
 
3. 
Streitig ist, ob das kantonale Gericht dem Versicherten im Zusammenhang mit dem von der IV-Stelle gemäss Verfügung vom 14. Dezember 2005 rechtskräftig anerkannten Geburtsgebrechen Ziff. 387 GgV Anhang zu Recht einen Anspruch auf Übernahme der Ergotherapie für die Dauer von zwei Jahren als medizinische Massnahme zu Lasten der Beschwerdeführerin zugesprochen hat. 
 
4. 
4.1 Mit Blick auf die einschlägige Rechtsprechung zu Art. 13 IVG (vgl. E. 2.2 hievor) hat die Vorinstanz nach Einholung des Berichts vom 8. September 2009 der Dr. med. M.________, Leitende Ärztin der Neuropädiatrie an der Kinderklinik des Spitals X.________, in tatsächlicher Hinsicht für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich festgestellt (Art. 105 Abs. 1 BGG), dass zwischen der am 28. Oktober 2005 diagnostizierten Epilepsie und den bereits zuvor klinisch erhobenen Entwicklungsrückständen ein direkter ursächlicher Zusammenhang besteht. Die schon bei der erstmaligen Diagnosestellung mit der Untersuchung des Beschwerdegegners befasste Fachärztin führte angesichts der ihr bekannten zusätzlichen familiären Belastung in Bezug auf die hier spezifische Form der Epilepsie aus, dass in einem hohen Prozentsatz der Fälle schon vor dem eigentlichen Ausbruch der Epilepsie Entwicklungsrückstände und Entwicklungsstörungen auftreten. Das kantonale Gericht hat die medizinische Tatfrage nach dem engen natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem rechtskräftig anerkannten Geburtsgebrechen und den behandlungsbedürftigen Entwicklungsstörungen bei gegebener Aktenlage zu Recht mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bejaht. Unabhängig davon, ob die zur Diskussion stehenden ergotherapeutisch behandelten Entwicklungsstörungen unter den gegebenen Umständen als direkte Folgen des anerkannten Geburtsgebrechens zum Symptomenkreis der angeborenen Epilepsie zu zählen sind (vgl. BGE 100 V 41 E. 1a), oder ob diese Störungen als sekundäre Gesundheitsschäden hier in einem derart engen mittelbaren Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen stehen, dass die Invalidenversicherung aus diesem Grunde praxisgemäss die entsprechenden Behandlungskosten zu tragen hat (EVGE 1962 S. 215 i.f.), ist der angefochtene Entscheid bundesrechtskonform. 
 
4.2 Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend und es finden sich aktenkundig auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig oder unvollständig festgestellt hätte (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Der neuropädiatrische Facharzt Dr. med. I.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) der Invalidenversicherung argumentierte gemäss Bericht vom 25. Februar 2009 unabhängig vom konkret zu beurteilenden Fall. Immerhin anerkannte er ausdrücklich, dass es viele epileptische Syndrome gebe, bei welchen ein ursächlicher Zusammenhang zur hirnfunktionalen Leistungsbeeinträchtigung evident sei. Doch stünden grundsätzlich Epilepsie und hirnfunktionale Entwicklungsstörungen (d.h. Teilleistungsschwächen) nicht ohne weiteres in einem kausalen Verhältnis zu einander. Der RAD-Arzt verneinte schliesslich den Kausalzusammenhang zwischen Geburtsgebrechen und sekundärem Gesundheitsschaden implizit mit der Begründung, der erste epileptische Anfall sei erst nach Feststellung der Entwicklungsstörungen aufgetreten, weshalb Letztere nicht die Folgen des Geburtsgebrechens Ziff. 387 GgV Anhang (angeborene Epilepsie) sein könnten. Obwohl Dr. med. I.________ schon am 9. Juli 2008 ausdrücklich empfohlen hatte, die Frage nach dem Kausalzusammenhang durch die Fachärzte an der Kinderklinik des Spitals X.________ beurteilen zu lassen, weil diese bereits die Diagnose der angeborenen Epilepsie gestellt hätten und den Versicherten vermutlich auch bezüglich Epilepsie weiter betreuen würden, findet sich bei den Akten keine einzelfallbezogene, fachärztlich nachvollziehbar begründete Stellungnahme, welche die Schlussfolgerungen des vom kantonalen Gericht eingeholten Bericht der Dr. med. M.________ vom 8. September 2009 zu entkräften vermöchte. Soweit die IV-Stelle sinngemäss die Auffassung zu vertreten scheint, für den qualifizieren Kausalzusammenhang zwischen Geburtsgebrechen und sekundärem Gesundheitsschaden sei das Beweismass (BGE 130 III 321 E. 3.3 S. 325) des vollen Beweises (vgl. dazu etwa BGE 124 V 400 E. 2b S. 402; SVR 2010 EL Nr. 2 S. 4, 9C_348/2009 E. 2.3.3; je mit Hinweisen) zu fordern, besteht keine Veranlassung, von der ständigen Rechtsprechung abzuweichen, wonach im Sozialversicherungsrecht der - im konkreten Fall vorausgesetzte enge - natürliche Kausalzusammenhang mit dem üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachzuweisen ist (Urteil I 29/06 vom 9. August 2007 E. 6.3; BGE 135 V 39 E. 6.1 S. 45, 129 V 177 E. 3.1 S. 181; vgl. auch Urteil 4A_458/2008 vom 21. Januar 2009 E. 2.3 i.f.). 
 
4.3 Inwiefern die Adäquanz des Kausalzusammenhanges unter den gegebenen Umständen zu verneinen sei, legt die Beschwerdeführerin nicht dar. Auch wenn die Häufigkeit des sekundären Leidens praxisgemäss nicht das allein entscheidende Kriterium für die Bejahung eines qualifizierten adäquaten Kausalzusammenhanges darstellt (E. 2.2 hievor), lässt sich umgekehrt aus der gemäss Dr. med. M.________ unter anderem klar bejahten hohen Koinzidenz von Epilepsie und Entwicklungsstörungen nicht die gegenteilige Schlussfolgerung ziehen, diese Tatsache spreche im konkret zu beurteilenden Fall gegen einen qualifizierten engen Kausalzusammenhang. 
 
4.4 Was die IV-Stelle im Übrigen gegen den angefochtenen Entscheid vorbringt, ist unbegründet. Hat die Vorinstanz den qualifizierten, besonders engen Kausalzusammenhang zwischen dem anerkannten Geburtsgebrechen und dem sekundären Gesundheitsschaden nicht offensichtlich unrichtig oder auf unvollständiger Sachverhaltsfeststellung bejaht, ist die vom kantonalen Gericht verfügte Zusprechung einer auf zwei Jahre befristeten Kostengutsprache für die ergotherapeutische Behandlung der Entwicklungsstörungen als medizinische Massnahme im Zusammenhang mit der hier konkret anerkannten Form der angeborenen Epilepsie im Rahmen der anwendbaren Rechtsprechung (E. 2.2 hievor) nicht zu beanstanden. 
 
5. 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 15. Juni 2010 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Ursprung Hochuli