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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5P.158/2005 /bnm 
 
Urteil vom 15. Juli 2005 
II. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Raselli, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl, 
Gerichtsschreiber von Roten. 
 
Parteien 
B.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans M. Weltert, 
 
gegen 
 
V.________ Versicherungs-Gesellschaft, 
Beschwerdegegnerin, 
Obergericht des Kantons Aargau, 4. Zivilkammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Art. 9 BV (Konkurseröffnung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, 4. Zivilkammer, vom 14. April 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am 16. März 2005 wurde über B.________ der Konkurs eröffnet. B.________ nahm den Entscheid des Konkursgerichts am 18. März 2005 in Empfang und zog ihn am 6. April 2005 weiter. Das Obergericht trat auf die Weiterziehung gemäss Art. 174 SchKG wegen Fristversäumnis nicht ein (Entscheid vom 14. April 2005). 
B. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 BV (Wahrung von Treu und Glauben) beantragt B.________, den obergerichtlichen Entscheid aufzuheben und den Vollzug der Konkurseröffnung zu suspendieren. Die Beschwerdegegnerin V.________ Versicherungs-Gesellschaft hat sich weder zum Gesuch um aufschiebende Wirkung noch in der Sache vernehmen lassen. Das Obergericht stellt keine Anträge. Der Leiter der Konkursämter des Kantons Aargau hat unaufgefordert zur staatsrechtlichen Beschwerde Stellung genommen. Innert laufender Rechtsmittelfrist hat der Beschwerdeführer seine Eingabe ergänzt. 
C. 
Der staatsrechtlichen Beschwerde ist die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden (Präsidialverfügung vom 26. Mai 2005). 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung ist die Mitteilung der Konkurseröffnung keine Betreibungshandlung und hat daher ohne Rücksicht auf die Betreibungsferien zu erfolgen, die folglich für die Berechnung der Weiterziehungsfrist gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG keine Bedeutung haben (AGVE 2000 S. 41; 2003 S. 43 f.). Der Beschwerdeführer ficht diese Rechtsprechung und die darauf gestützte Berechnung der Weiterziehungsfrist nicht als willkürlich an. Unter diesen Umständen muss davon ausgegangen werden, dass er die Frist zur Weiterziehung des Entscheids des Konkursgerichts versäumt hat. Nichts mit dieser Fristversäumnis zu tun hat, ob der Beschwerdeführer inzwischen die Forderungen seiner Gläubiger getilgt hat, so dass die Konkurseröffnung allenfalls aufzuheben wäre (vgl. Art. 174 Abs. 2 SchKG). Auf seine daherigen Vorbringen ist nicht einzutreten (vorab Ziff. 12 S. 7 der Beschwerdeschrift und Ziff. 2 der ergänzenden Eingabe). Im Gegensatz zum Beschwerdeführer stellt der Leiter der kantonalen Konkursämter die obergerichtliche Rechtsprechung in Frage. Er hat durch den angefochtenen Entscheid indessen keine Rechtsverletzungen erlitten und ist daher zur Beschwerdeführung nicht berechtigt (Art. 88 OG). Seine unaufgefordert eingereichte Stellungnahme wird antragsgemäss an die Präsidentin der bundesgerichtlichen Schuldbetreibungs- und Konkurskammer weitergeleitet. 
2. 
Im Entscheid des Konkursgerichts wird darauf hingewiesen, dass dagegen innert zehn Tagen Beschwerde erhoben werden könne, die beim Präsidenten des Bezirksgerichts einzureichen sei. Der Beschwerdeführer legt dar, er habe sich beim Gericht - bei einem Sachbearbeiter der Gerichtskasse - telephonisch nach dem Ende der Rechtsmittelfrist erkundigt und die Auskunft erhalten, die Weiterziehungsfrist laufe am 6. April 2005 ab. Dass er in Unkenntnis der obergerichtlichen Praxis und damit falsch Auskunft erteilt hat, hat der angefragte Sachbearbeiter dem Beschwerdeführer schriftlich bestätigt. Der Beschwerdeführer beruft sich auf sein berechtigtes Vertrauen in die behördliche Auskunft. Das Obergericht hält in seiner Vernehmlassung fest, dieser Sachverhalt sei im Zeitpunkt seines Entscheids nicht aktenkundig gewesen. 
2.1 Ob ein Verstoss gegen das verfassungsrechtliche Gebot des Handelns nach Treu und Glauben vorliegt, prüft das Bundesgericht ohne Einschränkung seiner Kognition (BGE 103 Ia 505 E. 1 S. 508; 122 I 328 E. 3a S. 333 f.). Den Einwand, er habe den Entscheid des Konkursgerichts wegen der falschen Auskunft verspätet weitergezogen, bringt der Beschwerdeführer vor Bundesgericht erstmals vor. Er ist damit neu, aber ausnahmsweise zulässig, weil er einen rechtlichen Gesichtspunkt - hier die Fristversäumnis - betrifft, der erstmals im letztinstanzlichen kantonalen Entscheid aufgegriffen wurde (BGE 107 Ia 187 E. 2b S. 191). 
2.2 Der Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 BV) verschafft unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Schutz berechtigten Vertrauens in behördliche Zusicherungen oder sonstiges, bestimmte Erwartungen begründendes Verhalten, sofern sich dieses auf eine konkrete, den betreffenden Bürger berührende Angelegenheit bezieht (BGE 130 I 26 E. 8.1 S. 60). Zu diesen Voraussetzungen gehören insbesondere, dass die Behörde für die Erteilung der Zusicherung zuständig war oder der Bürger sie aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte und dass der Bürger die Unrichtigkeit der Zusicherung bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit nicht ohne weiteres erkennen konnte (BGE 127 I 31 E. 3a S. 36; 129 I 161 E. 4.1 S. 170; 129 II 361 E. 7.2 S. 381 f.). 
 
Verfassungsmässiger Gutglaubensschutz bezieht sich somit auch auf die Zuständigkeit der auskunfterteilenden Behörde. Es genügt, dass die anfragende Person die Behörde aus zureichenden Gründen für zuständig halten durfte. Die Praxis stellt gewisse Anforderungen an die Sorgfaltspflicht, sich über die Vertrauenswürdigkeit der angefragten Behörde unter dem Blickwinkel der Zuständigkeit zu versichern (vgl. dazu Weber-Dürler, Falsche Auskünfte von Behörden, ZBl. 92/1991 S. 1 ff., S. 12 ff. mit Hinweisen). Allgemein kann sich auf berechtigtes Vertrauen nur berufen, wer bei der Aufmerksamkeit, wie sie nach den Umständen von ihm verlangt werden darf, selber als gutgläubig gelten kann. Das Bundesgericht hat diesen Grundsatz insbesondere anhand von Zustellungsmängeln entwickelt. Mit der Rechtshängigkeit entsteht ein Prozessrechtsverhältnis, das die Parteien verpflichtet, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, d.h. unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen Entscheide zugestellt werden können, die das Verfahren betreffen und deren Zustellung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden muss (BGE 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399). Der Grundsatz lässt sich dahin gehend verallgemeinern, dass sich nicht auf berechtigtes Vertrauen in behördliches Handeln berufen kann, wer selber nicht die zur Wahrung seiner Rechte notwendigen Schritte unverzüglich unternommen hat, die ihm Treu und Glauben geboten hätten (BGE 127 II 227 E. 1b S. 230; vgl. dazu Egli, La protection de la bonne foi dans le procès, in: Juridiction constitutionnelle et juridiction administrative, Zürich 1992, S. 225 ff., S. 238 ff.). 
 
Der Schutz berechtigten Vertrauens kann zur Folge haben, dass auf ein Rechtsmittel nach Ablauf der Rechtsmittelfrist einzutreten ist (vgl. für Fälle falscher oder missverständlicher Rechtsmittelbelehrung: BGE 124 I 255 E. 1a S. 258 f.; 123 II 231 E. 8b S. 238). 
2.3 Der Konkurs führt zur Vollstreckung aller Gläubigerforderungen in das gesamte Schuldnervermögen (vgl. Art. 197 ff. SchKG). In Anbetracht der weitreichenden Folgen dieser Generalexekution darf von den Behörden, aber auch von den verfahrensbeteiligten Privatpersonen ein Höchstmass an Aufmerksamkeit und Umsicht in ihren Handlungen erwartet werden. Dass ein Sachbearbeiter der Gerichtskasse oftmals fachkundig über die Berechnung von Fristen Auskunft erteilen kann, steht ausser Diskussion. Zu beantworten ist hier die Frage, ob die angefragte Person zu einer derartigen Auskunfterteilung zuständig ist oder nach Treu und Glauben für zuständig gehalten werden durfte. 
2.3.1 Für die Bestimmung und Beurteilung der Einhaltung von Rechtsmittelfristen ist im Grundsatz immer die Rechtsmittelinstanz zuständig, hier das Obergericht, und nicht die Behörde, deren Entscheid angefochten ist. Die Rechtsmittelbelehrung, das heisst die Auskunft über das zulässige Rechtsmittel, die Anfechtungsfrist und die Rechtsmittelinstanz geht demgegenüber stets von der Behörde aus, die den anfechtbaren Entscheid erlassen hat. Insbesondere bei juristischen Laien können sich bezüglich der Rechtsmittelbelehrung Zusatzfragen stellen. Da in der Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich darauf hingewiesen wird, die Beschwerde sei beim Präsidenten des Bezirksgerichts Kulm einzureichen, darf auch dessen Zuständigkeit zur Beantwortung von Fragen, die Form und Frist der Beschwerdeerhebung betreffen, nicht verneint werden. Allerdings erteilt oftmals nicht der Gerichtspräsident selber mündliche Auskünfte, sondern diese Aufgabe wird, wenn sie überhaupt wahrgenommen wird, an den Gerichtsschreiber oder für einzelne Fragen, zum Beispiel die Berechnung der Fristen, auch an andere Mitarbeiter des Gerichts delegiert. Im vorliegenden Fall ist zwar erstellt, dass das Bezirksgericht Kulm und dort insbesondere der Gerichtspräsident zur Beantwortung der Frage nach der Berechnung der Rechtsmittelfrist zuständig ist; es ist jedoch nicht geklärt, ob aufgrund einer Norm oder Weisung objektiv einzig der Gerichtspräsident, oder auch andere Mitarbeiter des Bezirksgerichts Kulm für die Auskunft zuständig sind. Die Frage kann dahingestellt bleiben. 
2.3.2 Einzelfallbezogen und in Würdigung der konkreten Umstände ist die zweite Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen der angefragte Verwaltungsangestellte des Gerichts nach Treu und Glauben als für die Erteilung der Auskunft zuständig angesehen werden durfte. Der Beschwerdeführer, der im kantonalen Verfahren anwaltlich nicht vertreten gewesen ist, hat sich nach seinen Ausführungen bezüglich der Weiterziehungsfrist zunächst an das Konkursamt gewendet, das ihn richtigerweise an das für die Konkurseröffnung zuständige Bezirksgericht verwiesen hat. Der schriftlichen Bestätigung des in der Folge angefragten Sachbearbeiters bei der Gerichtskasse lässt sich entnehmen, dass dieser nach Konsultation des Geschäftsprogramms eindeutig und vorbehaltlos Auskunft erteilt hat. Dem Beschwerdeführer darf nun aber nicht angelastet werden, dass dieser Mitarbeiter des zuständigen Bezirksgerichts Kulm allenfalls nach der gerichtsinternen Ordnung für die Berechnung der Rechtsmittelfrist nicht zuständig ist. Es wäre vielmehr an diesem Mitarbeiter gewesen, in diesem Fall entweder auf seine Unzuständigkeit hinzuweisen oder die Anfrage nur mit dem deutlichen Vorbehalt der Unverbindlichkeit zu beantworten oder die anfragende Person an die für sie zuständige Gerichtsperson zu verweisen oder sich bei ihr kundig zu machen. Auf Grund der gezeigten Umstände des konkreten Einzelfalls durfte der Beschwerdeführer den Verwaltungsangestellten des Bezirksgerichts aus zureichenden Gründen als für die Auskunfterteilung zuständig betrachten. 
2.3.3 Insgesamt darf dem Beschwerdeführer aus der - im Sinne der kantonalen Rechtsprechung - unrichtigen Auskunft kein Nachteil erwachsen. Die Versäumnis der Frist gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG kann einem Eintreten auf die Weiterziehung des konkursgerichtlichen Entscheids deshalb nicht entgegenstehen. 
3. 
Aus den dargelegten Gründen muss die staatsrechtliche Beschwerde gutgeheissen werden, soweit darauf einzutreten ist. Der Beschwerdeführer obsiegt. Er hat deshalb keine Kosten zu tragen und Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG). Die Beschwerdegegnerin kann nicht als unterliegend angesehen werden, zumal sie weder das Verfahren als solches oder den angefochtenen Entscheid veranlasst noch sich am Beschwerdeverfahren beteiligt hat. Praxisgemäss hat unter diesen Umständen der Kanton zwar nicht die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 2 OG), wohl aber den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG; Urteil des Bundesgerichts P.1669/1983 vom 3. Dezember 1984, E. 3, in: Pra 74/1985 Nr. 97 S. 272; Messmer/Imboden, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Zürich 1992, S. 35 bei und in Anm. 19). Was die Bemessung der Parteientschädigung angeht, muss berücksichtigt werden, dass sich der Beschwerdeführer vor Obergericht zur Wahrung der Weiterziehungsfrist nicht geäussert und damit den heute festgestellten Mangel zumindest teilweise mitverursacht hat. Es ist ihm deshalb auch nur eine herabgesetzte Parteientschädigung zuzusprechen (vgl. Art. 159 Abs. 5 i.V.m. Art. 156 Abs. 6 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der Entscheid des Obergerichts (4. Zivilkammer) des Kantons Aargau vom 14. April 2005 wird aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, 4. Zivilkammer, sowie dem Konkursamt des Bezirkes Kulm schriftlich mitgeteilt. Eine Ausfertigung dieses Urteils und die Stellungnahme des Leiters der Konkursämter des Kantons Aargau vom 3. Mai 2005 werden der Präsidentin der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts übermittelt. 
 
Lausanne, 15. Juli 2005 
Im Namen der II. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: