Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2A.433/2006 /leb
Urteil vom 15. September 2006
II. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Müller,
Gerichtsschreiber Feller.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt Arnold Gassner,
gegen
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Beschwerdedienst, 3003 Bern.
Gegenstand
Einreisesperre,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 10. Juli 2006.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
X.________, geb. 1978, Staatsangehöriger der Republik Litauen, wurde am 23. Mai 2006 bei seiner Einreise in das Fürstentum Liechtenstein angehalten. Er führte erhebliche Mengen Betäubungsmittel (7350 LSD-Filze) sowie rund 1 Kilogramm Bernsteinschmuck ungeklärter Herkunft mit sich, wurde deshalb festgenommen und in Untersuchungshaft versetzt. Es wurde gegen ihn Anklage insbesondere wegen Zuwiderhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und das Waffengesetz erhoben. Die Untersuchungshaft dauert an; für das in Liechtenstein hängige Strafverfahren ist X.________ ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben worden.
Mit Verfügung vom 2. Juni 2006 verhängte das Bundesamt für Migration (nachfolgend: Bundesamt) eine Einreisesperre, womit X.________ mit Wirkung ab sofort und auf unbestimmte Dauer das Betreten des schweizerischen und liechtensteinischen Gebiets ohne ausdrückliche Genehmigung des Bundesamtes untersagt wurde. Die Einreisesperre wurde damit begründet, dass das Verhalten von X.________ sowohl im Inland wie im Ausland zu schwersten Klagen Anlass gegeben habe, weshalb seine Anwesenheit unerwünscht sei. Einer allfälligen Beschwerde gegen diese Verfügung wurde die aufschiebende Wirkung entzogen. Das Ausländer- und Passamt des Fürstentums Liechtenstein ordnete am 7. Juni 2006 an, X.________ habe nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft (evtl. dem Strafvollzug) unverzüglich aus dem Fürstentum Liechtenstein auszureisen (formlose Wegweisung).
X.________ focht die vom Bundesamt verfügte Einreisesperre am 30. Juni 2006 beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement an. Mit Zwischenverfügung vom 10. Juli 2006 lehnte dieses sein Gesuch, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wieder herzustellen, ab. Zugleich forderte es ihn auf, bis zum 16. August 2006 einen Kostenvorschuss von Fr. 700.-- einzuzahlen.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 12. Juli 2006 beantragt X.________ dem Bundesgericht die vollständige Aufhebung dieser Zwischenverfügung, "soweit sie das Hoheitsgebiet des Fürstentums Liechtenstein betrifft". Das Departement beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das auch für das bundesgerichtliche Verfahren gestellte Gesuch um aufschiebende Wirkung hat der Präsident der II. öffentlichrechtlichen Abteilung am 24. Juli 2006 superprovisorisch abgewiesen, soweit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde (hinsichtlich der Aufforderung zur Bezahlung des Kostenvorschusses im vorinstanzlichen Verfahren; vgl. Art. 111 Abs. 1 OG) nicht von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zukam. Mit dem vorliegenden Urteil wird das Gesuch gegenstandslos.
2.
2.1 Gemäss Art. 3 der Vereinbarung vom 6. November 1963 zwischen der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein über die Handhabung der Fremdenpolizei für Drittausländer im Fürstentum Liechtenstein und über die fremdenpolizeiliche Zusammenarbeit (Vereinbarung mit Liechtenstein; SR 0.142.115.143) haben für das ganze Gebiet der Schweiz geltende Einreisesperren auch für das Gebiet des Fürstentums Liechtenstein Geltung. Für die Anfechtung der vom Bundesamt für Migration verfügten Einreisesperre sind - auch soweit sie Liechtenstein betrifft - allein die Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021) und des Bundesrechtspflegegesetzes (OG; SR 173.110) massgeblich. Dabei ist aber zu beachten, dass für das Fürstentum Liechtenstein im Verhältnis zu den Vertragspartnern des Abkommens vom 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen; s. BBl 1992 IV S. 668 ff.) das EWR-Recht Anwendung findet, soweit die eidgenössischen Gesetze und Erlasse über die Ein- und Ausreise sowie über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer davon abweichen (Art. 2 lit. e der Vereinbarung mit Liechtenstein). Dabei sind namentlich die Bestimmungen über die Personenfreizügigkeit des EWR-Abkommens (Teil III, Art. 28 ff. EWR-Abkommen) und insofern weitgehend Gemeinschaftsrecht massgeblich (Art. 6 EWR-Abkommen). Im Wesentlichen verhält es sich für Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der EU hinsichtlich der Freizügigkeit nach EWR-Recht im Fürstentum Liechtenstein somit nicht anders als nach dem Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681) in der Schweiz.
2.2 Nach Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 OG ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf dem Gebiete der Fremdenpolizei unzulässig gegen die Einreisesperre. Dieser Ausschliessungsgrund greift für Staatsangehörige eines am Freizügigkeitsabkommen beteiligten EU-Mitgliedstaates nicht (vgl. BGE 131 II 352 zu Art. 11 FZA). Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Republik Litauen. Diese ist seit dem 1. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union und mit Wirkung ab 1. April 2006 dem Freizügigkeitsabkommen beigetreten (AS 2006 S. 995 ff.). Der Beschwerdeführer kann daher einen Beschwerdeentscheid des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements betreffend die Einreisesperre mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht anfechten (Urteil des Bundesgerichts 2A.394/2006 vom 19. Juli 2006).
Nun handelt es sich beim angefochtenen Entscheid um eine Zwischenverfügung. Kann in der Sache selbst Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben werden, steht dieses Rechtsmittel auch zur Anfechtung einer Zwischenverfügung offen, soweit diese für den Beschwerdeführer einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 101 lit. a OG e contrario bzw. Art. 97 OG in Verbindung mit Art. 5 und 45 Abs. 1 VwVG ). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, und auf die fristgerecht erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist grundsätzlich einzutreten.
3.
3.1 Soweit sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verpflichtung richtet, im vorinstanzlichen Verfahren einen Kostenvorschuss zu leisten, ist sie offensichtlich unbegründet. Die angefochtene Zwischenverfügung erging diesbezüglich gestützt auf Art. 63 Abs. 4 VwVG. Dass dem Beschwerdeführer für das in Liechtenstein angehobene Strafverfahren nach den für derartige Verfahren massgeblichen Kriterien ein (unentgeltlicher) Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben worden ist, ist unerheblich und führt nicht zur Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verwaltungsbeschwerdeverfahren vor dem Departement. Ein entsprechendes Begehren (vgl. Art. 65 VwVG) hatte der Beschwerdeführer dem Departement vor Erlass der angefochtenen Zwischenverfügung nicht gestellt, sodass die Frage der unentgeltlichen Rechtspflege nicht zum Gegenstand jener Verfügung und der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde gemacht werden kann. Die Aufforderung zur Leistung eines Kostenvorschusses verletzt Bundesrecht nicht.
3.2
3.2.1 Die Frage der aufschiebenden Wirkung ist in Art. 55 VwVG geregelt. Die Beschwerde hat von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung (Abs. 1). Hat die angefochtene Verfügung nicht eine Geldleistung zum Gegenstand, so kann die Vorinstanz darin einer allfälligen Beschwerde gegen ihre Verfügung die aufschiebende Wirkung entziehen; dieselbe Befugnis steht der Beschwerdeinstanz nach Einreichung der Beschwerde zu (Abs. 2). Die Beschwerdeinstanz kann die von der Vorinstanz entzogene aufschiebende Wirkung wieder herstellen; über ein Begehren um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist ohne Verzug zu entscheiden (Abs. 3).
Beim Entscheid über die Erteilung, den Entzug oder die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat die Behörde zu prüfen, ob die Gründe, die für eine sofortige Vollstreckung sprechen, wichtiger sind als jene, die für einen Aufschub angeführt werden (BGE 129 II 286 E. 3 S. 288 f.). Bei der Interessenabwägung kommt ihr - der Natur der Sache nach - ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu. Sie ist nicht gehalten, für ihren Entscheid zeitraubende tatsächliche oder rechtliche Abklärungen zu treffen, sondern kann in erster Linie auf die ihr zur Verfügung stehenden Akten abstellen (BGE 117 V 185 E. 2b S. 191; 110 V 40 E. 5b S. 45; 106 Ib 115 E. 2a S. 116; s. auch BGE 130 II 149 E. 2.2 S. 155 und 127 II 132 E. 3 S. 138 für andere vorsorgliche Massnahmen). Prognosen über den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache können beim Entscheid über die aufschiebende Wirkung, gleich wie bei allen Entscheidungen über vorsorgliche Massnahmen, (bloss) dann berücksichtigt werden, wenn sie eindeutig sind (BGE 130 II 149 E. 2.2 S. 155; 127 II 132 E. 3 S. 138). Kann sich bereits die über den Entzug der aufschiebenden Wirkung entscheidende Behörde auf eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage beschränken, so gilt dies ebenso für die über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung entscheidende Behörde, die ohne Verzug handeln muss; sie wird nicht leichthin von der Einschätzung ihrer Vorinstanz abweichen. Erst recht auferlegt sich das Bundesgericht Zurückhaltung, wenn der Entscheid über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten wird. Es kontrolliert, ob die Vorinstanz ihr Ermessen überschritten oder missbraucht hat, und hebt deren Entscheid nur auf, wenn sie wesentliche Tatsachen völlig übersehen und berührte Interessen ausser Acht gelassen oder offensichtlich falsch bewertet hat (Urteil 2A.128/2003 vom 3. April 2003 E. 2.2 mit Hinweisen).
Nun ist die aufschiebende Wirkung nach Art. 55 Abs. 1 VwVG die Regel, sodass ein Abweichen davon auf überzeugenden, stichhaltigen Gründen beruhen muss. Dies ändert indessen an der vorstehend umschriebenen Beschränkung der bundesgerichtlichen Prüfung nichts; das Bundesgericht hat sich bloss zu vergewissern, ob solche Gründe im die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ablehnenden Entscheid in nachvollziehbarer Weise aufgezeigt bzw. glaubhaft gemacht worden sind und ein gewisses Mass an Dringlichkeit erkennbar ist, die Verfügung sofort zu vollziehen (Urteil 2A.128/2003 E. 2.2).
3.2.2 Die Hauptsachenprognose fällt keinesfalls zu Gunsten des Beschwerdeführers aus. Die durch das EWR-Abkommen bzw. durch das Freizügigkeitsabkommen eingeräumten Freiheiten und Rechte können nicht vorbehaltlos beansprucht werden; Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit rechtfertigen Beschränkungen (Art. 28 Ziff. 3 und Art. 33 EWR-Abkommen, Art. 5 Anhang I FZA). Solche sind zulässig, wenn angesichts des bisherigen Verhaltens zu befürchten steht, dass der Ausländer die öffentliche Ordnung konkret gefährden könnte (vgl. BGE 131 II 352 E. 3 und 4 S. 357 ff. und Urteil 2A.626/2004 vom 6. Mai 2005 E. 5, je betreffend Verhältnismässigkeit einer Einreisesperre). Der Beschwerdeführer ist in Deutschland zu einer bedeutenden Freiheitsstrafe wegen schwer wiegender Delikte verurteilt worden; die Strafe ist nur zu einem Teil vollzogen worden, und gegen den Beschwerdeführer besteht wegen begangener Straftaten ein Einreiseverbot nach Deutschland. Neuestens ist er in Liechtenstein in Untersuchungshaft; es bestehen gewichtige Indizien dafür, dass er in schwerwiegender Weise im Bereich Betäubungsmittel delinquiert hat.
Unter diesen Umständen hält die vom Departement vorgenommene Interessenabwägung der im beschriebenen Sinn beschränkten bundesgerichtlichen Prüfung stand: Eine dem Verfahrensstadium angemessene provisorische Einschätzung lässt insgesamt, auch bei noch nicht abgeschlossenem neuem Strafverfahren, den Schluss zu, dass der Beschwerdeführer eine Gefährdung für die öffentliche Ordnung darstellen könnte. Warum bei der diesbezüglichen Prognose die in Deutschland erwirkte Verurteilung nicht sollte berücksichtigt werden können, bleibt unerfindlich. Umgekehrt hat der Beschwerdeführer nicht aufgezeigt, dass und inwiefern er unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Untersuchungs- oder einer allfälligen Strafhaft dringend die für EU-Staatsangehörige geltende Personenfreizügigkeit in Bezug auf Liechtenstein oder die Schweiz beanspruchen will. Offenbar geht es um die - ihm im EU-Mitgliedstaat Deutschland verweigerte - Durchreisemöglichkeit mit dem Reiseziel Niederlande, wobei der Beschwerdeführer nicht darlegt, welche Waren er dorthin liefern bzw. welche Dienstleistungen er dort erbringen will. Es ist von der Vorinstanz in nachvollziehbarer Weise aufgezeigt bzw. glaubhaft gemacht worden, dass die Einreisesperre vor der abschliessenden Prüfung ihrer Rechtmässigkeit wirksam werden soll. Dem Beschwerdeführer darf zugemutet werden, den Abschluss des Beschwerdeverfahrens vor dem Departement im Ausland abzuwarten, sofern er bereits zuvor in Freiheit versetzt werden sollte, und vorerst nicht in das Fürstentum Liechtenstein oder die Schweiz einreisen zu können.
3.2.3 Ob und unter welchen Voraussetzungen und nach welchen Modalitäten die Frage über die Zulässigkeit und Verhältnismässigkeit der Einreisesperre bzw. über deren Vereinbarkeit mit dem EWR-Abkommen dem Gerichtshof der Europäischen Freihandelsorganisation zur Entscheidung vorgelegt werden könnte, soweit das Fürstentum Liechtenstein betroffen ist (Subbegehren S. 6 Beschwerdeschrift), kann schon darum offen bleiben, weil vorliegend nicht die Einreisesperre selber, sondern bloss eine prozessleitende vorsorgliche Massnahme Verfahrensgegenstand bildet.
3.3 Nach dem Gesagten erweist sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in jeder Hinsicht als unbegründet, und sie ist abzuweisen.
4.
Sinngemäss ersucht der Beschwerdeführer auch für das Verfahren vor Bundesgericht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Diesem Begehren kann wegen Aussichtslosigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht entsprochen werden (vgl. Art. 152 OG).
Damit sind die bundesgerichtlichen Kosten entsprechend dem Verfahrensausgang dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 in Verbindung mit Art. 153 und 153a OG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 15. September 2006
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: