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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_221/2008 /daa 
 
Urteil vom 15. September 2008 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Forster. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Dina Raewel, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 
8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Verweigerung des vorzeitigen Massnahmenantrittes, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 17. Juli 2008 
der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Abteilung Gewaltdelikte, führt eine Strafuntersuchung gegen X.________ wegen mehrfacher versuchter Tötung und weiteren Delikten. Am 5. Juli 2007 wurde der Angeschuldigte verhaftet und anschliessend in Untersuchungshaft versetzt. Mit Verfügung vom 17. Juli 2008 wies die Staatsanwaltschaft ein Gesuch des Angeschuldigten um Versetzung in den vorzeitigen Massnahmenvollzug ab. Per 30. Juli 2008 wurde ihm der vorzeitige Strafvollzug bewilligt. 
 
B. 
Gegen die staatsanwaltliche Verfügung vom 17. Juli 2008 gelangte X.________ mit Beschwerde vom 11. August 2008 an das Bundesgericht. Er beantragt zur Hauptsache die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Bewilligung des vorzeitigen Massnahmenantrittes. Die Staatsanwaltschaft beantragt mit Eingabe vom 15. August 2008 die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer replizierte am 28. August 2008. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Angefochten ist ein Zwischenentscheid betreffend Vollzugsregime der strafprozessualen Haft. Der Beschwerdeführer befindet sich im vorzeitigen Strafvollzug. Er stellt kein Gesuch um Haftentlassung. Streitig ist die von ihm beantragte Versetzung in den stationären vorzeitigen Massnahmenvollzug. 
 
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in Strafsachen angefochten werden (vgl. Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313). Die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichtes behandelt alle Beschwerden in Strafsachen gegen strafprozessuale Zwischenentscheide (Art. 29 Abs. 3 BGerR; vgl. BGE 133 IV 278 E. 1.1 S. 280). 
 
1.2 Wie sich aus den nachfolgenden materiellen Erwägungen ergibt, kann offen bleiben, ob der angefochtene strafprozessuale Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken könnte. Analoges gilt für die Frage, ob die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt von Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig erscheint. 
 
1.3 Soweit der Beschwerdeführer neben Bundesrecht auch kantonales Strafprozessrecht direkt als verletzt anruft, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden (Art. 95 BGG). 
 
2. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, er befinde sich im vorzeitigen Strafvollzug. Gestützt auf das psychiatrische Gutachten vom 19. Mai 2008 rechne er im Falle einer Verurteilung mit einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 61 StGB. Es sei ihm geholfen, wenn er die Massnahme umgehend antreten könnte. Anhaltspunkte, wonach der beantragte Übertritt in den vorzeitigen Massnahmenvollzug das Strafverfahren beeinträchtigen könnte, bestünden nicht. Die Verweigerung des vorzeitigen Massnahmenantrittes beruhe auf einer willkürlichen Anwendung von § 71a StPO/ZH. Der angefochtene Entscheid verletzte neben Art. 9 BV auch noch Art. 10 Abs. 2 BV (persönliche Freiheit) und Art. 61 Abs. 1 StGB
 
3. 
Nach Zürcher Strafprozessrecht bewilligt während der Strafuntersuchung die Staatsanwaltschaft auf Antrag des Angeschuldigten den vorzeitigen Straf- und Massnahmenantritt (§ 71a Abs. 1 StPO/ZH). Die Bewilligung von vorzeitigem stationärem Massnahmenvollzug wird erteilt, wenn die richterliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme zu erwarten ist und der Zweck des Strafverfahrens nicht gefährdet wird (§ 71a Abs. 3 StPO/ZH). 
 
4. 
Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 134 I 140 E. 5.4 S. 148; 133 I 149 E. 3.1 S. 153, je mit Hinweisen). 
 
5. 
In den summarischen Erwägungen des angefochtenen Entscheides weist die Staatsanwaltschaft darauf hin, dass die Strafuntersuchung kurz vor dem Abschluss stehe. Entgegen der Empfehlung des psychiatrischen Gutachters werde sie als Anklagebehörde keine Massnahme beantragen. Es bestünden nach wie vor Haftgründe, insbesondere Fortsetzungs- und Ausführungsgefahr. In ihrer Vernehmlassung führt die Staatsanwaltschaft ergänzend aus, dem Beschwerdeführer würden mehrfache versuchte Tötung, versuchter qualifizierter Raub und weitere Delikte zur Last gelegt. Nach Ansicht der Anklagebehörde habe der Beschwerdeführer deswegen mit einer schweren Strafe zu rechnen. Es sei mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die zu beantragende Freiheitsstrafe die Höchstdauer einer allfälligen Massnahme "um mehr als 50 Prozent überschreiten" werde. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes sei bei der Bemessung von freiheitsentziehenden Sanktionen das sogenannte "Untermassverbot" zu beachten. Danach dürften längere Freiheitsstrafen nur ausnahmsweise zwecks stationärer Behandlung ausgesetzt werden. Im vorliegenden Fall sei ein vorgängiger Massnahmenvollzug auszuschliessen, weshalb auch ein strafprozessualer vorzeitiger Massnahmenantritt nicht bewilligt werden könne. 
 
5.1 In diesem Zusammenhang ist keine willkürliche Anwendung von kantonalem Strafprozessrecht erkennbar. Gemäss den vorliegenden Akten ist die Untersuchung praktisch abgeschlossen und steht die Anklageerhebung vor Gericht unmittelbar bevor. Es wird im Falle einer Verurteilung Sache des Strafgerichtes sein, über die Art und Schwere der Sanktion zu entscheiden. Die Staatsanwaltschaft vertritt die Ansicht, es sei im Falle einer Verurteilung nicht ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer (vor oder anstelle einer Massnahme) eine längere Freiheitsstrafe zu vollziehen haben könnte. Dessen Vorbringen lassen diese Auffassung der Anklagebehörde nicht als unhaltbar erscheinen. Auch in diesem Punkt ist dem Urteil des erkennenden Gerichtes nicht vorzugreifen. 
 
5.2 Ebenso wenig ist hier eine Verletzung der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 BV) ersichtlich. Der Beschwerdeführer befindet sich bereits im vorzeitigen Strafvollzug. Das Bestehen ausreichender Haftgründe wird nicht bestritten. Ebenso wenig beanstandet er eine übermässige Haftdauer. Die Verweigerung des Übertrittes vom vorzeitigen Strafvollzug in den vorzeitigen Massnahmenvollzug erscheint hier, wie oben dargelegt, sachlich vertretbar. Der mit der strafprozessualen Haft verbundene Eingriff in die persönliche Freiheit ist eine vom Gesetz vorgesehene Folge der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Verbrechen. Im Rahmen des beantragten vorzeitigen stationären Massnahmenvollzuges würde die persönliche Freiheit im übrigen in ähnlicher Weise tangiert wie beim (jetzigen) vorzeitigen Strafvollzug. Ein unverhältnismässiger Eingriff in die verfassungsmässigen Individualrechte besteht jedenfalls nicht. 
 
5.3 Der vom Beschwerdeführer auch noch als verletzt angerufene Art. 61 Abs. 1 StGB ist hier nicht anwendbar. Der angefochtene Entscheid stützt sich auf kantonales Prozessrecht. Wie bereits erwähnt, wird (im Falle einer Anklageerhebung) die materiellrechtliche Prüfung einer Massnahme nach Art. 61 StGB Sache des Strafrichters sein. 
 
6. 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
Die Beschwerde kann nicht als zum Vornherein aussichtslos qualifiziert werden. Dem ausreichend begründeten Gesuch des Rechtsuchenden um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung ist zu entsprechen (Art. 64 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten ist. 
 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt: 
 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
 
2.2 Rechtsanwältin Dina Raewel wird zur unentgeltlichen Rechtsvertreterin ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV sowie dem Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 15. September 2008 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Féraud Forster