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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
2C_835/2019  
 
 
Urteil vom 15. Oktober 2019  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Seiler, Präsident, 
Bundesrichter Donzallaz, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Gerichtsschreiber Businger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch 
Advokat Dr. Nicolas Roulet, 
 
gegen  
 
Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau. 
 
Gegenstand 
Ausreisefrist, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, 
vom 4. September 2019 (WBE.2019.140). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. A.________ (geboren 1980) ist deutscher Staatsangehöriger. Er reiste am 2. August 2008 in die Schweiz ein und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA. In seiner Heimat wurde er zwischen 2002 und 2009 insgesamt zehn Mal wegen verschiedener Delikte verurteilt. Auch in der Schweiz wurde er mehrmals strafrechtlich verurteilt (u.a. wegen Diebstahls und sexueller Nötigung) und zuletzt am 28. Mai 2015 wegen versuchter schwerer Körperverletzung etc. mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- und einer Busse von Fr. 1'000.-- bestraft. Zudem wurde eine vollzugsbegleitende ambulante Behandlung angeordnet. In der Folge verweigerte das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau (MIKA) am 5. November 2015 die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von A.________ und wies ihn aus der Schweiz weg. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos; zuletzt wies das Bundesgericht die Beschwerde mit Urteil 2C_831/2016 vom 26. Januar 2017 ab.  
 
1.2. Im Nachgang zum bundesgerichtlichen Urteil setzte das MIKA A.________ eine Ausreisefrist bis 26. März 2017 an. Auf die dagegen erhobene Einsprache trat es am 31. März 2017 nicht ein. Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau hiess die Beschwerde von A.________ am 13. Juni 2017 gut und hob die Ausreisefrist auf. Mit Verfügung vom 11. Februar 2019 setzte das MIKA A.________ eine neue Ausreisefrist bis 28. Februar 2019 an und wies die dagegen erhobene Einsprache am 26. März 2019 ab. Das Aargauer Verwaltungsgericht bestätigte den Einspracheentscheid am 4. September 2019.  
 
1.3. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, eventualiter subsidiärer Verfassungsbeschwerde vom 2. Oktober 2019 beantragt A.________ dem Bundesgericht, die Ausreisefrist sei als unbeachtlich zu erklären. Zudem sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen und ihm sei die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu bewilligen. Das Bundesgericht hat keine Instruktionsmassnahmen verfügt. Mit dem vorliegenden Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.  
 
2.  
Der Entscheid über die Ausreisefrist betrifft eine Modalität des Wegweisungsvollzugs, sodass die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten unzulässig ist (Art. 83 lit. c Ziff. 4 BGG) und als Rechtsmittel die subsidiäre Verfassungsbeschwerde zur Verfügung steht. Der Beschwerdeführer ist durch die Ansetzung der Ausreisefrist im Sinne von Art. 115 lit. b BGG zur Verfassungsbeschwerde legitimiert (Urteile 2D_32/2018 vom 25. Juni 2018 E. 1; 2C_200/2017 vom 14. Juli 2017 E. 1.2.3 f.). Mit der Verfassungsbeschwerde kann lediglich die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten gerügt werden (Art. 116 BGG), wobei hierfür eine strenge Rüge- und Begründungspflicht gilt (Art. 106 Abs. 2 BGG). 
 
3.  
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Treu und Glauben (Art. 9 BV), weil der angefochtene Entscheid im Widerspruch zum rechtskräftigen Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 13. Juni 2017 stehe und keine Revisionsgründe ersichtlich seien. 
 
3.1. Ausgangspunkt des damaligen Verfahrens war das Schreiben des MIKA vom 23. Februar 2017, wonach der Beschwerdeführer die Schweiz bis zum 26. März 2017 zu verlassen habe. Nachdem das MIKA die Ausreisefrist mit Schreiben vom 17. März 2017 bestätigt hatte, trat es auf die dagegen erhobene Einsprache am 31. März 2017 nicht ein. Streitgegenstand vor Verwaltungsgericht war somit ausschliesslich der Nichteintretensentscheid des MIKA bzw. die dem Beschwerdeführer angesetzte Ausreisefrist. Das Verwaltungsgericht hiess die Beschwerde am 13. Juni 2017 gut und entschied, dass das MIKA auf die Einsprache hätte eintreten müssen (Dispo.-Ziff. 1) bzw. die dem Beschwerdeführer angesetzte Ausreisefrist unbeachtlich sei (Dispo.-Ziff. 2). Mit Blick auf den Streitgegenstand und das (in Rechtskraft erwachsene) Dispositiv hatte der Entscheid des Verwaltungsgerichts keine Auswirkungen, die über die Aufhebung der damals angesetzten Ausreisefrist hinausgegangen sind. Dass das Verwaltungsgericht ausgeführt hatte, der Beschwerdeführer sei berechtigt, sich bis zur Aufhebung der ambulanten Massnahme in der Schweiz aufzuhalten (vgl. E. 6 des Urteils vom 13. Juni 2017), ist unbeachtlich, weil die Erwägungen zur Rechtslage nicht in Rechtskraft erwachsen (vgl. BGE 140 I 114 E. 2.4.2 S. 120). Eine Bindungswirkung, die es dem MIKA verboten hätte, dem Beschwerdeführer später eine neue Ausreisefrist anzusetzen, bestand folglich nicht. Insoweit kann keine Rede davon sein, dass der damalige Entscheid des Verwaltungsgerichts zuerst in Revision hätte gezogen werden müssen. Ein Verstoss gegen den Grundsatz von Treu und Glauben liegt offensichtlich nicht vor.  
 
3.2. Auch der Vorwurf des Beschwerdeführers, das MIKA habe den damaligen Entscheid des Verwaltungsgerichts akzeptiert und nicht beim Bundesgericht angefochten, ist offensichtlich unbegründet. Einerseits ist das kantonale Migrationsamt gar nicht legitimiert, ausländerrechtliche Entscheide beim Bundesgericht anzufechten (vgl. Urteil 2C_1173/2013 vom 16. Dezember 2013 E. 2.2), andererseits kann lediglich das Dispositiv eines Entscheids angefochten werden, nicht aber dessen Begründung (BGE 140 I 114 E. 2.4.2 S. 120).  
 
4.  
Der Beschwerdeführer beruft sich weiter auf den Vertrauensgrundsatz. 
 
4.1. Nach dem in Art. 9 BV verankerten Grundsatz von Treu und Glauben kann eine unrichtige Auskunft, welche eine Behörde dem Bürger erteilt, unter gewissen Umständen Rechtswirkungen entfalten. Voraussetzung dafür ist, dass: a) es sich um eine vorbehaltlose Auskunft der Behörden handelt; b) die Auskunft sich auf eine konkrete, den Bürger berührende Angelegenheit bezieht; c) die Amtsstelle, welche die Auskunft gegeben hat, dafür zuständig war oder der Bürger sie aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte; d) der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne Weiteres hat erkennen können; e) der Bürger im Vertrauen hierauf nicht ohne Nachteil rückgängig zu machende Dispositionen getroffen hat; f) die Rechtslage zur Zeit der Verwirklichung noch die gleiche ist wie im Zeitpunkt der Auskunftserteilung; g) das Interesse an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts dasjenige am Vertrauensschutz nicht überwiegt (BGE 143 V 95 E. 3.6.2 S. 103; 137 II 182 E. 3.6.2 S. 193).  
 
4.2. Unabhängig davon, ob die Erwägungen des Verwaltungsgerichts im Entscheid vom 13. Juni 2017 als Vertrauensgrundlage überhaupt infrage kommen, ist nicht ersichtlich, welche nicht ohne Nachteil rückgängig zu machende Dispositionen der Beschwerdeführer getroffen haben soll. Er bringt in dieser Hinsicht unsubstanziiert vor, er habe "private Dispositionen" getroffen, "wie eine neue Wohnung in U.________ angemietet, Arbeitstätigkeit hier in der Schweiz". Er habe sein Privatleben entsprechend ausgerichtet (vgl. S. 10 Ziff. 17 der Beschwerde). Nachdem der damalige Entscheid des Verwaltungsgerichts vor über zwei Jahren gefällt worden ist und der Beschwerdeführer während dieser Zeit wohnen und arbeiten musste, kann keine Rede davon sein, dass die entsprechenden Dispositionen unnötig gewesen sind. Weiter können die Dispositionen ohne Weiteres insofern rückgängig gemacht werden, als dass die Wohnung und Arbeitsstelle gekündigt werden können. Es kommt hinzu, dass das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer im Entscheid vom 13. Juni 2017 lediglich den Aufenthalt bis zur Beendigung der Massnahme in Aussicht gestellt hat. Weil ambulante Massnahmen mindestens einmal jährlich überprüft werden und grundsätzlich jederzeit aufgehoben werden können, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 63a Abs. 1 und 2 StGB), konnte der Beschwerdeführer aus diesem Entscheid von vornherein keine bestimmte Aufenthaltsdauer ableiten. Vor diesem Hintergrund geht auch der Einwand des Beschwerdeführers fehl, er benötige genügend Zeit, um seine Angelegenheiten zu regeln. Der Beschwerdeführer ist seit über zweieinhalb Jahren rechtskräftig weggewiesen und hätte seine Angelegenheiten spätestens mit der Neuansetzung der Ausreisefrist vor über acht Monaten regeln können und müssen. Zumindest im jetzigen Zeitpunkt kann ihn die Ausreise nicht unvorbereitet treffen. Damit geht die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz offensichtlich fehl. Inwieweit bei dieser Sachlage zudem der Anspruch auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) verletzt sein soll, ist nicht ersichtlich und wird in der Beschwerde auch nicht substanziiert begründet.  
 
5.  
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer eine willkürliche Anwendung von Art. 70 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit vom 24. Oktober 2007 (VZAE; SR 142.201). Das Bundesgericht hat sich im Urteil 2C_144/2018 vom 21. September 2018 eingehend mit Art. 70 VZAE befasst und das Verwaltungsgericht hat sich im vorliegenden Fall auf dieses Präjudiz berufen. Mit der pauschalen Kritik an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung und dem Verweis auf die damalige Stellungnahme des Staatssekretariats für Migration wird Willkür nicht einmal im Ansatz dargetan. Denn willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 135 V 2 E. 1.3 S. 4 f.). 
 
6.  
Die Beschwerde erweist sich als offensichtlich unbegründet und ist im vereinfachten Verfahren abzuweisen (Art. 109 Abs. 2 lit. a und Abs. 3 BGG). Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ist wegen Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG e contrario). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 15. Oktober 2019 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Seiler 
 
Der Gerichtsschreiber: Businger