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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_109/2023  
 
 
Urteil vom 16. Januar 2024  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Haag, 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
1. A.A.________, 
2. B.A.________, 
handelnd durch A.A.________, 
Beschwerdeführende, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Bernhard Jüsi, 
 
gegen  
 
Staatssekretariat für Migration, 
Quellenweg 6, 3003 Bern. 
 
Gegenstand 
Nichtigerklärung der erleichterten Einbürgerung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung VI, 
vom 25. Januar 2023 (F-5681/2021). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der aus der Türkei stammende, 1976 geborene A.A.________ reiste am 1. Februar 2005 in die Schweiz ein und stellte hier erfolglos ein Gesuch um Asyl. Am 26. Juni 2006 heiratete er in Lugano die 1972 geborene Schweizer Bürgerin C.________ und erhielt in der Folge eine Aufenthaltsbewilligung. Aus der Ehe gingen keine Kinder hervor. 
Am 28. Januar 2014 wurde er erleichtert eingebürgert. Nachdem das Staatssekretariat für Migration (SEM; bis zum 31. Dezember 2014: Bundesamt für Migration [BFM]) vom Servizio naturalizzazioni des Kantons Tessin erfahren hatte, dass die Ehe am 15. September 2015 geschieden worden war, leitete es am 5. September 2017 ein Verfahren betreffend Nichtigerklärung der erleichterten Einbürgerung ein. Mit Verfügung vom 29. November 2021 erklärte es die erleichterte Einbürgerung für nichtig. 
Eine von A.A.________ am 29. Dezember 2021 dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Januar 2023 ab. 
 
B.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht vom 6. März 2023 beantragen A.A.________ und seine 2021 geborene Tochter B.A.________, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts und die Verfügung des SEM seien aufzuheben. Eventualiter sei die Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs und zum neuen Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem sei festzustellen, dass sich die Nichtigerklärung der Einbürgerung nicht auf B.A.________ erstrecke, und das SEM sei anzuweisen, ein entsprechendes Verfahren durchzuführen, unter Prüfung der Bestellung einer Kindesvertretung. 
Das Bundesverwaltungsgericht und das SEM haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen Endentscheide des Bundesverwaltungsgerichts über die erleichterte Einbürgerung steht grundsätzlich die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (vgl. Art. 82 lit. a i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. a und Art. 90 BGG). Ein Ausschlussgrund nach Art. 83 BGG liegt nicht vor.  
 
1.2. Gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde legitimiert, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit dazu erhalten hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat (lit. c). Der Beschwerdeführer nahm am vorinstanzlichen Verfahren teil (und erfüllt auch im Übrigen die Voraussetzungen von Art. 89 Abs. 1 BGG), die Beschwerdeführerin, seine Tochter, hingegen nicht. Sie war jedoch im Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde an die Vorinstanz bereits auf der Welt und es wäre dem Beschwerdeführer somit offen gestanden, auch in ihrem Namen Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht zu erheben, so wie er dies nun auch vor Bundesgericht getan hat (vgl. Art. 48 Abs. 1 lit. a VwVG [SR 172.021]). Davon sah er jedoch ab. Auf ihre Beschwerde ist somit nicht einzutreten.  
 
1.3. Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit dem Einbezug der Beschwerdeführerin in die Nichtigerklärung der erleichterten Einbürgerung ihres Vaters inhaltlich befasste. Aus den nachfolgenden Erwägungen geht zudem hervor, dass das Bundesverwaltungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzte, weshalb die Sache zu dessen Gewährung und zum neuen Entscheid an das SEM zurückzuweisen ist. Sollte sich im weiteren Verlauf des Verfahrens ergeben, dass die erleichterte Einbürgerung des Beschwerdeführers nicht für nichtig zu erklären ist, behält von Gesetzes wegen auch seine Tochter das Schweizer Bürgerrecht (vgl. Art. 1 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2014 über das Schweizer Bürgerrecht [Bürgerrechtsgesetz, BüG; SR 141.0]).  
 
1.4. Da die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde von A.A.________ einzutreten, während auf diejenige von B.A.________ aus dem erwähnten Grund nicht einzutreten ist.  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV). Das SEM habe ihm die Akteneinsicht verweigert. Die Stellungnahmen seiner Ex-Ehefrau hätten ihm in ihrer Gesamtheit bzw. im Wortlaut offengelegt werden müssen. Eine Zusammenfassung genüge nicht, da es auf Nuancen in der Schilderung ankomme.  
 
2.2. Das Bundesverwaltungsgericht führt aus, das SEM habe dem Beschwerdeführer mehrmals Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben, und es habe seine Ex-Ehefrau ebenfalls schriftlich befragt. In der Folge habe es ihm deren Auskünfte zugestellt. Weil sie den Wunsch geäussert habe, ihre Einschätzungen zur Ehe nicht dem Beschwerdeführer zu unterbreiten, habe das SEM für sämtliche als vertraulich eingestuften Dokumente entsprechende stellvertretende Aktennotizen erstellt, die es ihm jeweils zur Kenntnis zugestellt habe. Diese Aktennotizen hätten in ausreichender Weise die Antworten seiner Ex-Ehefrau wiedergegeben (siehe im Einzelnen act. 5, 7, 12 und 31 der Verfahrensakten des SEM). Die an sie adressierten Schreiben mit den Fragen seien ihm offengelegt worden. Damit habe ihm das SEM vom wesentlichen Inhalt der fraglichen Aktenstücke in geeigneter Form Kenntnis gegeben und mit seinem Vorgehen sowohl den Anforderungen von Art. 26, Art. 27 Abs. 1 lit. b und Art. 28 VwVG als auch denjenigen von Art. 29 ff. VwVG und Art. 29 BV Genüge getan. Der Vollständigkeit halber sei anzumerken, dass auch der Beschwerdeführer nicht gewollt habe, dass seine Antworten an die Ex-Ehefrau weitergeleitet würden. Darüber hinaus habe das SEM am 3. Mai 2019 und am 29. Oktober 2021 den Rechtsvertretern des Beschwerdeführers erläutert, weshalb die Antworten der Ex-Ehefrau nicht im Wortlaut offengelegt worden seien (act. 26 und 43 der Verfahrensakten des SEM), worauf beide Male keine Reaktion erfolgt sei. Die erst im Rechtsmittelverfahren erhobenen Rügen wären deshalb auch verspätet.  
 
2.3. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgt das Recht der Parteien, Einsicht in die Verfahrensakten zu nehmen und sich dazu zu äussern (BGE 142 I 86 E. 2.2 ff. mit Hinweisen). Für das Verwaltungsverfahren des Bundes umschreiben die Art. 26 ff. VwVG das Akteneinsichtsrecht. Nach Art. 27 Abs. 1 VwVG darf die Behörde die Einsichtnahme in die Akten nur verweigern, wenn wesentliche öffentliche Interessen des Bundes oder der Kantone, insbesondere die innere oder äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft (lit. a), wesentliche private Interessen (lit. b) oder das Interesse einer noch nicht abgeschlossenen amtlichen Untersuchung (lit. c) die Geheimhaltung erfordern (Urteil 1C_597/2020 vom 14. Juni 2021 E. 5.2, nicht publ. in: BGE 147 II 408). Wird einer Partei die Einsichtnahme in ein Aktenstück verweigert, so darf auf dieses zum Nachteil der Partei nur abgestellt werden, wenn ihr die Behörde von seinem für die Sache wesentlichen Inhalt mündlich oder schriftlich Kenntnis und ihr ausserdem Gelegenheit gegeben hat, sich zu äussern und Gegenbeweismittel zu bezeichnen (Art. 28 VwVG). Eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts ist zu begründen (BVGE 2014/38 E. 7.1.2 f. S. 679), wobei die Begründung ihrerseits beschränkt werden kann, wenn damit das zu wahrende Geheimnis bereits offenbart würde (Urteil 1C_597/2020 vom 14. Juni 2021 E. 5.3 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 147 II 408).  
 
2.4. In den von der Vorinstanz erwähnten Schreiben vom 3. Mai 2019 und 29. Oktober 2021 ist keine Begründung enthalten, weshalb das Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers beschränkt wurde. Einzig im zweitgenannten Schreiben erwähnt das SEM, die Beschränkung entspreche dem Wunsch der Ex-Ehefrau. Ein solcher Wunsch allein begründet jedoch offensichtlich noch kein wesentliches privates Interesse im Sinne von Art. 27 Abs. 1 lit. b VwVG. Dasselbe gilt für den Umstand, dass der Beschwerdeführer seinerseits einen entsprechenden Wunsch geäussert habe (was ebenfalls im zweitgenannten Schreiben des SEM erwähnt wird). Dieses Argument verfängt schon deshalb nicht, weil einzig der Beschwerdeführer und nicht seine Ex-Ehefrau Verfügungsadressat war.  
 
2.5. Auch ist unzutreffend, dass der Beschwerdeführer die Rüge durch zu spätes Vorbringen verwirkt hätte. Dass er vom SEM Akteneinsicht verlangt hatte und ihm diese nicht vollumfänglich gewährt wurde, ist unbestritten. Weshalb bzw. in welcher Form er daraufhin unverzüglich hätte reagieren sollen, ist nicht erkennbar. Die Einschränkung der Akteneinsicht stellt eine Zwischenverfügung dar, die nach Art. 46 Abs. 2 VwVG mit Beschwerde gegen die Endverfügung anfechtbar ist. Durch sein Zuwarten verwirkte der Beschwerdeführer sein Recht somit nicht, ebensowenig verzichtete er darauf (vgl. BGE 142 I 86 E. 2.6).  
 
2.6. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im angefochtenen Entscheid kein gesetzlich vorgesehener Grund aufgezeigt wird, der die Beschränkung der Akteneinsicht gerechtfertigt hätte. Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, nach derartigen Gründen zu forschen. Die Beschwerde ist deshalb wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben und die Sache an das SEM zurückzuweisen. Dieses wird entweder einen gesetzlich vorgesehenen Grund für die Beschränkung der Akteneinsicht aufzuzeigen oder die Akteneinsicht uneingeschränkt zu gewähren haben.  
 
3.  
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin ist somit nicht einzutreten. Dagegen ist diejenige des Beschwerdeführers wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gutzuheissen und der angefochtene Entscheid insoweit aufzuheben, als er den Beschwerdeführer belastet. Dies betrifft Dispositiv-Ziffer 1 (Abweisung der Beschwerde) und Dispositiv-Ziffer 3 Satz 2 (Rückerstattungspflicht für die gewährte unentgeltliche Rechtspflege, falls der Beschwerdeführer nachträglich zu hinreichenden Mittel gelangen sollte). Die Sache ist zur neuen Beurteilung an das SEM zurückzuweisen. Damit erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen. 
Hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen erscheint es unter den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt, zwischen den beiden beschwerdeführenden Personen (Vater und Tochter) zu unterscheiden. Somit sind keine Gerichtskosten zu erheben, auch nicht von der Beschwerdeführerin (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Die Schweizerische Eidgenossenschaft (das SEM) hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers zudem eine sämtliche Anwaltskosten umfassende Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Die Beschwerde des Beschwerdeführers wird gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 1 und Dispositiv-Ziffer 3 Satz 2 des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Januar 2023 werden aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Beurteilung an das SEM zurückgewiesen. 
 
3.  
Die Schweizerische Eidgenossenschaft (das SEM) hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Bernhard Jüsi, eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, dem Staatssekretariat für Migration und dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung VI, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 16. Januar 2024 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold