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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_593/2022  
 
 
Urteil vom 16. Februar 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Müller, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Merz, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Insolvenzmasse der A.________ mbH, Beschwerdeführerin, 
handelnd durch Axel W. Bierbach, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Stephan Kesselbach und/oder Rechtsanwalt Carsten Otto, 
 
gegen  
 
B.________, 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Vera Delnon, 
 
Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität des Kantons Thurgau, Maurerstrasse 2, 8510 Frauenfeld. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Akteneinsicht, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 6. Oktober 2022 (SW.2022.57). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität des Kantons Thurgau führt eine Strafuntersuchung wegen Misswirtschaft gegen B.________, früherer Verwaltungsratspräsident der C.________ AG und ihrer Tochtergesellschaft D.________ AG, beide mit Sitz in U.________. Über beide Gesellschaften wurde am 18. Februar 2019 der Konkurs eröffnet. Das Konkursverfahren der C.________ AG in Liquidation wurde am 13. September 2021 geschlossen. Der Konkurs über die D.________ AG in Liquidation wurde am 7. Dezember 2020 mangels Aktiven eingestellt. Über eine weitere Tochtergesellschaft der C.________ AG, die A.________ mbH mit Sitz in V.________, wurde in Deutschland am 29. Januar 2019 die vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet. 
Die Insolvenzmasse der A.________ mbH liess im Kollokationsplan der C.________ AG in Liquidation eine Forderung von über 100 Millionen Franken kollozieren und sich die aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsansprüche gegenüber den Organen der C.________ AG in Liquidation abtreten. 
Am 6. April 2022 ersuchte die Insolvenzmasse der A.________ mbH die Staatsanwaltschaft um Akteneinsicht. Mit E-Mail vom 11. Mai 2022 bewilligte die Staatsanwaltschaft die Akteneinsicht, "soweit sie überhaupt zu bewilligen [sei]". 
 
B.  
Dagegen erhob B.________ Beschwerde an das Obergericht des Kantons Thurgau, welches diese mit Entscheid vom 6. Oktober 2022 guthiess, die angefochtene Verfügung aufhob und die Sache zur Neubeurteilung an die Staatsanwaltschaft zurückwies. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 17. November 2022 beantragt die Insolvenzmasse der A.________ mbH, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und ihr Einsicht in die sich bei der Staatsanwaltschaft befindlichen Konkursakten (namentlich Geschäftsakten) der C.________ AG in Liquidation zu gewähren. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die Vorinstanz schliesst auf Nichteintreten, eventualiter Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde gutzuheissen. Nach dem Beschwerdegegner sei auf die Beschwerde nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. 
Der Beschwerdegegner hat auf eine weitere Stellungnahme verzichtet. Die Beschwerdeführerin hat mit Eingabe vom 24. Januar 2023 repliziert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob auf die Beschwerde eingetreten werden kann (Art. 29 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 1 i.V.m. Art. 42 Abs. 1 bis 2 BGG; BGE 145 I 239 E. 2; 143 IV 357 E. 1; je mit Hinweisen). Die Sachurteilsvoraussetzungen sind in der Beschwerdeschrift ausreichend zu substanziieren, soweit sie nicht offensichtlich erfüllt erscheinen (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; vgl. BGE 148 IV 155 E. 1.1; 141 IV 289 E. 1.3; je mit Hinweisen). 
 
2.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Rückweisungsentscheid betreffend Gewährung von Akteneinsicht in einer Strafsache (vgl. Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG). Dieser schliesst das Strafverfahren nicht ab. Folglich handelt es sich nicht um einen Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG, sondern um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid. 
Gemäss Art. 92 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren. Diese Entscheide können später nicht mehr angefochten werden (Art. 92 Abs. 2 BGG). Im Rahmen von Art. 92 Abs. 1 BGG sind unter dem Blickwinkel der Zuständigkeit Entscheide anfechtbar, die sich auf die örtliche, sachliche oder auch auf die funktionelle Zuständigkeit beziehen (BGE 138 III 558 E. 1.3 mit Hinweis; Urteil 6B_1049/2020 vom 8. Oktober 2020 E. 1.1). Ein selbstständig eröffneter Entscheid über die Zuständigkeit kann nur dann unmittelbar angefochten werden, wenn damit endgültig und für die Instanz verbindlich über die Zuständigkeitsfrage entschieden wurde (BGE 144 III 475 E. 1.1.2 mit Hinweisen; vgl. BGE 133 IV 288 E. 2.2). 
Gegen andere selbstständig eröffnete Zwischenentscheide ist die Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 BGG zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b); wobei letztere Variante vorliegend nicht in Betracht fällt (vgl. BGE 144 IV 127 E. 1.3; 141 IV 284 E. 2). Nach ständiger Praxis zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss der nicht wieder gutzumachende Nachteil rechtlicher Natur sein. Nicht wieder gutzumachend bedeutet, dass der Nachteil auch mit einem für die beschwerdeführende Person günstigen Endentscheid nicht oder nicht vollständig behoben werden kann (BGE 147 IV 188 E. 1.3.2; 141 IV 289 E. 1.2 mit Hinweis). Ein lediglich tatsächlicher Nachteil wie die Verteuerung oder Verlängerung des Verfahrens genügt nicht (BGE 144 IV 321 E. 2.3; 142 III 798 E. 2.2). Die Beschwerdevoraussetzungen nach Art. 93 Abs. 1 BGG sollen das Bundesgericht entlasten; dieses soll sich wenn möglich nur einmal mit einer Sache befassen (BGE 135 II 30 E. 1.3.2). Ist die Beschwerde gegen einen Zwischenentscheid nicht zulässig oder wurde von ihr kein Gebrauch gemacht, bleibt der Zwischenentscheid im Rahmen einer Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, sofern er sich auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz erwägt im angefochtenen Entscheid, die Zuständigkeit für die Gewährung der Einsicht in Konkursakten liege grundsätzlich bei der "Konkursbehörde", die diese Akten erhoben habe und nicht bei der Behörde, die sie beigezogen habe. Es liege hier aber keine Verfügung der Konkursverwaltung betreffend Akteneinsicht vor. Es brauche deshalb nicht entschieden zu werden, ob eine solche Verfügung der Konkursverwaltung (für sich alleine) genügen würde, um Einsicht in die bei der Staatsanwaltschaft befindlichen Akten zu erhalten. Die Staatsanwaltschaft könne ihrerseits jedenfalls nur gestützt auf die "einschlägigen strafprozessualen Normen" Akteneinsicht gewähren. Da die Staatsanwaltschaft nicht geprüft habe, ob die Beschwerdeführerin aus strafprozessualer Sicht Anspruch auf Akteneinsicht habe, sei die Sache zur neuen Beurteilung an diese zurückzuweisen.  
 
3.2. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin handelt es sich beim angefochtenen Entscheid nicht um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid über die Zuständigkeit im Sinne von Art. 92 Abs. 1 BGG. Die Vorinstanz erinnert in der wiedergegebenen Passage des angefochtenen Rückweisungsentscheids im Wesentlichen nur daran, dass sich die Staatsanwaltschaft bei der Behandlung eines Akteneinsichtsgesuchs an die entsprechenden strafprozessualen Bestimmungen zu halten habe. Damit hat sie keinen verbindlichen Entscheid über die örtliche, sachliche oder funktionelle Zuständigkeit für die Gewährung der von der Beschwerdeführerin verlangten Akteneinsicht getroffen (vgl. Urteil 1B_207/2019 vom 9. Dezember 2019 E. 3.2).  
 
4.  
 
4.1. Für den Fall, dass der angefochtene Entscheid nicht als Zwischenentscheid im Sinne von Art. 92 Abs. 1 BGG qualifiziert werde, macht die Beschwerdeführerin geltend, ihr drohe durch den angefochtenen Entscheid auch ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Sie könne als kollozierte Gläubigerin im Konkurs der C.________ AG in Liquidation ohne vorgängige Akteneinsicht in die Konkursakten nicht abschliessend beurteilen, ob sie durch mutmasslich strafbare Handlungen des Beschwerdegegners geschädigt worden sei. Der angefochtene Entscheid würde - so die Beschwerdeführerin weiter - "faktisch" zu einer Verweigerung des gesetzlichen Akteneinsichtsrechts gemäss Art. 8a SchKG führen. Zudem riskiere sie, ihre allfälligen aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsansprüche gegen den Beschwerdegegner nicht innert der ihr durch das Konkursamt gesetzten Frist stellen zu können.  
 
4.2. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden: Nach der Rechtsprechung begründet ein Rückweisungsentscheid grundsätzlich keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil (BGE 140 V 282 E. 4.2, 321 E. 3.6; 133 V 477 E. 5.2.2; vgl. Urteil 1B_8/2019 vom 31. Oktober 2019 E. 1.1; je mit Hinweisen). Dass es sich im vorliegenden Fall ausnahmsweise anders verhalten sollte, ist nicht ersichtlich. Die Beschwerdeführerin bringt zwar vor, sie laufe Gefahr, allfällige Ansprüche gegen den Beschwerdegegner bis zum Entscheid über die Akteneinsicht zu verlieren, substanziiert diese pauschale Behauptung aber nicht weiter. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der angefochtene Entscheid zu einer Verweigerung des gesetzlichen Akteneinsichtsrechts gemäss Art. 8a SchKG für Gläubiger im Konkurs führen soll, wie die Beschwerdeführerin meint. Die Sachurteilsvoraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ist nicht erfüllt.  
 
5.  
Auf die Beschwerde kann nicht eingetreten werden. 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat dem obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). 
 
 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- (pauschal, inkl. MWST) zu entrichten. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität des Kantons Thurgau und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 16. Februar 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Müller 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern