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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_283/2022  
 
 
Urteil vom 16. Februar 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Abrecht, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Beat Rohrer, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Invalideneinkommen), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 22. März 2022 (VBE.2021.371). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1968 geborene A.________ meldete sich am 9. Februar 2005 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die damals zuständige IV-Stelle Luzern holte ein psychiatrisches Gutachten vom 25. Mai 2006 sowie einen Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle vom 26. Oktober 2006 ein und verneinte mit Verfügung vom 25. Juni 2007 einen Anspruch auf eine Invalidenrente. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das damalige Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (heute: Kantonsgericht Luzern) mit Urteil vom 18. Juli 2008 ab.  
 
A.b. Am 24. Februar 2015 meldete sich A.________ erneut zum Leistungsbezug an. Die nun zuständige IV-Stelle des Kantons Aargau verneinte einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 24. Oktober 2018. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 18. Juli 2019 gut. Es hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die Verwaltung zurück.  
In der Folge veranlasste die IV-Stelle eine interdisziplinäre Begutachtung (Orthopädie und Psychiatrie) bei der medexperts ag, St. Gallen (Gutachten vom 18. August 2020), und führte eine Abklärung an Ort und Stelle durch (Bericht vom 7. Januar 2021). Mit Verfügung vom 1. Juli 2021 verneinte die Verwaltung wiederum einen Rentenanspruch. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 22. März 2022 gut. Es hob die Verfügung vom 1. Juli 2021 auf und sprach A.________ mit Wirkung ab 1. August 2015 eine Viertelsrente zu. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils, ihr sei mit Wirkung ab 1. August 2015 "eine Invalidenrente in der Höhe von mindestens 56 % einer ganzen Rente" zuzusprechen. Eventualiter sei ihr mit Wirkung ab 1. August 2015 eine halbe Invalidenrente zuzusprechen. 
Während das kantonale Gericht auf eine Vernehmlassung verzichtet, schliesst die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). 
Die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
3.  
 
3.1. Es steht fest, dass der Beschwerdeführerin ab Juni 2015 eine leidensangepasste Tätigkeit im Umfang von 80 % zumutbar ist. Unbestritten ist darüber hinaus das vom kantonalen Gericht ermittelte, ohne Gesundheitsschaden hypothetisch erzielbare, Valideneinkommen (Art. 16 ATSG; BGE 135 V 58 E. 3.1) in der Höhe von Fr. 83'704.-.  
 
3.2. Das Invalideneinkommen (Art. 16 ATSG; BGE 148 V 174 E. 6.2 mit Hinweisen) hat die Vorinstanz gestützt auf die vom Bundesamt für Statistik herausgegebene Lohnstrukturerhebung (LSE) 2014, Tabelle TA1_tirage_skill_level, Privater Sektor, Kompetenzniveau 1, Total, Frauen, festgesetzt (Fr. 4300.-), an die betriebsübliche Arbeitszeit von 41,7 Stunden pro Woche angepasst, auf ein ganzes Jahr aufgerechnet und auf das Jahr 2015 indexiert (Fr. 54'053.-). Unter Berücksichtigung der Arbeitsunfähigkeit von 20 % ermittelte sie einen Wert von Fr. 43'242.-.  
Zu prüfen ist hierbei einzig die Frage nach einem leidensbedingten Abzug vom Tabellenlohn (zur Qualifikation als Rechtsfrage vgl. BGE 148 V 174 E. 6.5; 146 V 16 E. 4.2), dessen "überragende Bedeutung als Korrekturinstrument bei der Festsetzung eines möglichst konkreten Invalideneinkommens" das Bundesgericht in BGE 148 V 174 E. 9.2.2 und E. 9.2.3 betont hat. 
 
4.  
 
4.1. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Lohndaten wie namentlich der LSE ermittelt, ist der so erhobene Ausgangswert allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad, Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können, und die versicherte Person je nach Ausprägung deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 135 V 297 E. 5.2; 126 V 75 E. 5b/aa i.f.). Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2; 134 V 322 E. 5.2; 126 V 75 E. 5b/bb-cc). Die Rechtsprechung gewährt insbesondere dann einen Abzug vom Invalideneinkommen, wenn eine versicherte Person selbst im Rahmen körperlich leichter Hilfsarbeitertätigkeit in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Allfällige bereits in der Beurteilung der medizinischen Arbeitsfähigkeit enthaltene gesundheitliche Einschränkungen dürfen nicht zusätzlich in die Bemessung des leidensbedingten Abzugs einfliessen und so zu einer doppelten Anrechnung desselben Gesichtspunkts führen (BGE 148 V 174 E. 6.3; 146 V 16 E. 4.1 f. mit Hinweisen).  
 
4.2.  
 
4.2.1. Die Vorinstanz hat mit Blick auf das Alter, das Merkmal der Dienstjahre, die Nationalität und den Beschäftigungsgrad keinen Anlass für einen leidensbedingten Abzug vom Tabellenlohn erkannt. Darauf ist nicht weiter einzugehen. Ebenfalls ist die Art und das Ausmass der Behinderung bei der Frage nach einem Abzug unberücksichtigt geblieben. Diesbezüglich hat das kantonale Gericht gestützt auf das medexperts-Gutachten vom 18. August 2020 für das Bundesgericht verbindlich (vgl. E. 1 hiervor) festgestellt, die Beschwerdeführerin könne aus orthopädischer Sicht in einer leidensangepassten, körperlich leichten, wechselbelastenden Tätigkeit ohne Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, mit der Möglichkeit des Wechsels zwischen Sitzen, Gehen und Stehen, ohne belastende oder repetitive Bewegung in den Handgelenken, ohne Zwangsposition der Handgelenke und der Wirbelsäule zweimal 3,5 Stunden pro Tag arbeiten, wobei wegen des verlangsamten Arbeitstempos und der Notwendigkeit betriebsüblicher Pausen von einer zusätzlichen leichten Leistungsminderung auszugehen sei. Daraus resultiere schlussendlich eine Arbeitsfähigkeit von 80 %. Aus psychiatrischer Sicht sei die Beschwerdeführerin in einer angepassten Tätigkeit zu mindestens 80 % arbeitsfähig, wobei die aus beiden Fachgebieten bescheinigten Arbeitsunfähigkeiten nicht zu addieren seien.  
 
4.2.2. Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, dass sich die Anforderungen an einen Arbeitsplatz auch im Rahmen des zumutbaren Pensums von 80 % auswirken und sie mithin selbst bei körperlich leichten Hilfsarbeitertätigkeiten in ihrer Leistungsfähigkeit (quantitativ zu 20 %) eingeschränkt ist. Dem ist rechtsprechungsgemäss mit einem (leidensbedingten) Abzug Rechnung zu tragen (vgl. E. 4.1 hiervor; vgl. auch Urteile 9C_360/2022 vom 4. November 2022 E. 4.3.1; 9C_395/2022 vom 4. November 2022 E. 4.5.3; 8C_115/2021 vom 10. August 2021 E. 4.2.1 mit weiteren Hinweisen). Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung werden dadurch die qualitativen Anforderungen an eine zumutbare Tätigkeit nicht doppelt berücksichtigt. Vielmehr ist hier davon auszugehen, dass bei entsprechenden Einschränkungen mit einer erheblichen Lohneinbusse im Vergleich zum Tabellenlohn (Medianwert) gerechnet werden muss. Vor dem Hintergrund des Gesagten hat das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt, indem es keinen Tabellenlohnabzug gewährt hat.  
 
4.3. Der leidensbedingte Abzug vom Tabellenlohn ist im vorliegenden Fall auf 10 % festzulegen, wodurch sich das Invalideneinkommen auf Fr. 38'918.- reduziert. Daraus ergibt sich im Vergleich zum Valideneinkommen von Fr. 83'704.- ein Invaliditätsgrad von (gerundet) 54 %. Folglich hat die Beschwerdeführerin ab dem 1. August 2015 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Daran vermag der von ihr beantragte Abzug in der Höhe von 15 % nichts zu ändern (Invaliditätsgrad: 56 %). Es wurde einleitend bereits darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen des IVG und diejenigen der IVV in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar sind (E. 2 hiervor). Die Beschwerde ist begründet.  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 22. März 2022 wird aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine halbe Invalidenrente ab dem 1. August 2015 auszurichten. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Stiftung B.________, Zürich, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. Februar 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber