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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_106/2023  
 
 
Urteil vom 16. März 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Müller, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Chaix, Kölz, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Amr Abdelaziz, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach 1348, 4001 Basel. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Hafturlaubsgesuch, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Appellationsgerichts Basel-Stadt, Präsident, 
vom 10. Februar 2023 (SB.2020.112). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wurde mit Urteil des Strafgerichts Basel-Stadt vom 12. Juni 2020 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren verurteilt und für 12 Jahre des Landes verwiesen. Die von ihm dagegen erhobene Berufung ist noch am Appellationsgericht Basel-Stadt hängig. 
 
B.  
A.________ befindet sich seit dem 25. Februar 2019 in Untersuchungshaft respektive seit dem 5. Juli 2019 im vorzeitigen Strafvollzug. Mit Präsidialverfügung vom 11. August 2022 wies das Appellationsgericht Basel-Stadt ein von A.________ gestelltes Haftentlassungsgesuch ab. Mangels einer genügenden Begründung der Verfügung hiess das Bundesgericht die dagegen erhobene Beschwerde in Strafsachen mit Urteil 1B_474/2022 vom 29. September 2022 gut und wies die Sache zum neuen (bundesrechtskonformen) Entscheid an die Vorinstanz zurück. Mit Präsidialverfügung vom 14. Oktober 2022 verweigerte das Appellationsgericht die beantragte Haftentlassung erneut und ordnete Sicherheitshaft bis zum 11. Februar 2023 über A.________ an. Mit Urteil 1B_540/2022 vom 17. November 2022 wies das Bundesgericht die dagegen erhobene Beschwerde ab und stellte fest, dass erhebliche Fluchtgefahr vorliegt (a.a.O., E. 4). 
Mit Gesuch vom 26. Januar 2023 beantragte A.________ beim Appellationsgericht die Gewährung von unbegleitetem Hafturlaub. Mit Verfügung vom 10. Februar 2023 verlängerte das Appellationsgericht die gegen ihn angeordnete Sicherheitshaft bis zum 11. Mai 2023 und wies zugleich das erwähnte Hafturlaubsgesuch ab. 
 
C.  
Dagegen hat A.________ mit Eingabe vom 20. Februar 2023 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt, den vorinstanzlichen Entscheid insoweit aufzuheben, als sein Hafturlaubsgesuch abgewiesen werde, und die Vorinstanz anzuweisen, das Urlaubsgesuch zu bewilligen. Weiter beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren. 
Die Staatsanwaltschaft hat mit Eingabe vom 24. Februar 2023 eine Stellungnahme eingereicht und die Abweisung der Beschwerde sowie des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung beantragt. Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Dem Beschwerdeführer wurde mit Verfügung vom 27. Februar 2023 eine Frist bis zum 3. März 2023 zur Einreichung einer Replik angesetzt. Mit Eingabe vom 6. März 2023 hat der Beschwerdeführer eine Stellungnahme eingereicht und zugleich darum ersucht, ihm die Frist für die Stellungnahme "entsprechend zu erstrecken" und eine Ergänzung der Beschwerdebegründung zu gestatten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der angefochtenen Verfügung hat die Vorinstanz als letzte kantonale Instanz über die anwendbaren Haftmodalitäten entschieden. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offen (vgl. Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1 und 2 und Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; siehe BGE 143 I 241 E. 1). Auf die Beschwerde in Strafsachen ist einzutreten. 
 
2.  
Der Beschwerdeführer ersucht sinngemäss um Wiederherstellung der ihm angesetzten Replikfrist gemäss Art. 50 BGG. Ob eine solche vorliegend möglich ist, kann jedoch dahingestellt bleiben. 
Die Einreichung einer Replik kann nur dazu dienen, sich zu den von der Gegenpartei eingereichten Stellungnahmen zu äussern. Ausgeschlossen sind in diesem Rahmen dagegen Anträge und Rügen, die der Beschwerdeführer bereits vor Ablauf der Beschwerdefrist hätte erheben können (BGE 143 II 283 E. 1.2.3; vgl. BGE 135 I 19 E. 2.2 mit Hinweisen). Nicht vorausgesetzt wird aber, dass die Begründung des Rechtsmittels in einer einzigen Beschwerdeschrift enthalten ist. Es steht dem Beschwerdeführer demnach frei, seine in einer ersten Eingabe geäusserte Rechtsauffassung während der laufenden Beschwerdefrist mit Ergänzungen oder Verbesserungen zu untermauern, solange er sich dabei an den von Art. 99 BGG gesetzten Rahmen hält (BGE 142 I 135 E. 1.2.1 mit Hinweisen). 
Die Eingabe des Beschwerdeführers vom 6. März 2023 stellt inhaltlich eine Beschwerdeergänzung und keine Replik dar. Da die Eingabe noch innerhalb der 30-tägigen gesetzlichen Beschwerdefrist gemäss Art. 100 Abs. 1 BGG erfolgte, ist sie ungeachtet der versäumten richterlichen Replikfrist zu beachten. Das Gesuch um Wiederherstellung der Replikfrist erweist sich damit als gegenstandslos. 
 
3.  
Die Vorinstanz hat (gestützt auf die erstinstanzliche Verurteilung) sowohl das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts als auch der besonderen Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr bejaht und die Anordnung der Haft als verhältnismässig beurteilt. Mit Blick auf die bejahte Fluchtgefahr hat sie unbegleitete Hafturlaube sodann als verfrüht erachtet und entsprechend das Urlaubsgesuch abgewiesen. 
Die Beschwerde richtet sich einzig gegen die Verweigerung des unbegleiteten Urlaubs von drei Tagen. Insbesondere wendet sich der Beschwerdeführer, abgesehen von vereinzelter, bloss appellatorischer und damit unzulässiger Kritik (Art. 42 BGG: vgl. BGE 138 I 171 E. 1.4; Urteil 1B_639/2022 vom 13. Januar 2023 E. 3.1), nicht gegen die im Rahmen der Haftprüfung getroffene vorinstanzliche Annahme von erheblicher Fluchtgefahr, die im übrigen auch vom Bundesgericht erst kürzlich bestätigt wurde (vgl. Urteil 1B_540/2022 vom 17. November 2022 E. 4). 
 
4.  
Der Beschwerdeführer rügt in erster Linie, die angefochtene Verfügung genüge hinsichtlich der Abweisung des Hafturlaubsgesuches den Anforderungen von Art. 112 BGG nicht und verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
 
4.1. Gemäss Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG müssen Entscheide, die der Beschwerde an das Bundesgericht unterliegen, die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art, insbesondere die Angabe der angewendeten Gesetzesbestimmungen, enthalten. Aus dem Entscheid muss klar hervorgehen, von welchem festgestellten Sachverhalt die Vorinstanz ausgegangen ist und welche rechtlichen Überlegungen sie angestellt hat (BGE 141 IV 244 E. 1.2.1; 138 IV 81 E. 2.2; 135 II 145 E. 8.2). Die Begründung ist insbesondere mangelhaft, wenn der angefochtene Entscheid jene tatsächlichen Feststellungen nicht trifft, die zur Überprüfung des eidgenössischen Rechts notwendig sind, oder wenn die rechtliche Begründung des angefochtenen Entscheids so lückenhaft oder unvollständig ist, dass nicht geprüft werden kann, wie das eidgenössische Recht angewendet wurde. Die Begründung ist ferner mangelhaft, wenn einzelne Tatbestandsmerkmale, die für die Subsumtion unter eine gesetzliche Norm von Bedeutung sind, von der Vorinstanz nicht oder nicht genügend abgeklärt wurden (BGE 135 II 145 E. 8.2; 119 IV 284 E. 5b; je mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen: Urteil 1B_474/2022 vom 29. September 2022 E. 3.1).  
Nicht erforderlich ist dagegen, dass die Vorinstanz sich mit allen Vorbringen vertieft auseinandersetzt und jedes Argument ausdrücklich widerlegt (Urteil 6B_1500/2022 vom 9. Februar 2023 E. 4 mit Hinweisen). Nichts anderes ergibt sich aus dem Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 143 III 65 E. 5.2 mit Hinweisen). 
 
4.2. Zwar ist richtig, dass der angefochtene Entscheid betreffend die Beurteilung des Hafturlaubsgesuches äusserst knapp ist und insbesondere die diesbezüglich anwendbaren Gesetzesbestimmungen nicht nennt. Doch ist offensichtlich, dass sich die Vorinstanz auf Art. 84 Abs. 6 StGB abstützt, wonach "dem Gefangenen [...] in angemessenem Umfang Urlaub zu gewähren [ist], soweit [...] keine Gefahr besteht, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht". Mit der Frage, ob Fluchtgefahr gegeben ist, hat sich die Vorinstanz ausdrücklich befasst und deren Vorliegen bejaht. Gestützt auf diese Feststellung ist sie sodann zum Schluss gelangt, dass angesichts der erheblichen Fluchtgefahr kein Hafturlaub gewährt werden kann. Inwiefern diese Ausführungen nicht ausreichen sollten, um den angefochtenen Entscheid in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterzuziehen (vgl. BGE 143 III 65 E. 5.3), wird nicht vorgebracht und ist auch nicht ersichtlich, zumal der Beschwerdeführer sich selbst ausdrücklich auf Art. 84 Abs. 6 StGB beruft. Die diesbezügliche Rüge des Beschwerdeführers ist unbegründet.  
 
5.  
Soweit der Beschwerdeführer in materiellrechtlicher Hinsicht vorbringt, ihm sei Hafturlaub zu gewähren, kann offenbleiben, ob er mit seinen überwiegend appellatorischen Vorbringen den Anforderungen von Art. 42 BGG überhaupt hinreichend nachkommt, da sie ohnehin offensichtlich unbegründet sind. 
 
5.1. Aus dem Gesetzestext von Art. 84 Abs. 6 StGB geht klar hervor, dass die Gewährung von Hafturlauben beim Vorliegen von Fluchtgefahr ausgeschlossen ist (Urteile 6B_619/2015 vom 18. Dezember 2015 E. 2.4 ff.; 6B_664/2013 vom 16. Dezember 2013 E. 2.3.3; siehe auch MARTINO IMPERATORI, in: Basler Kommentar, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Strafrecht I, 4. Aufl. 2019, N. 34a zu Art. 84 StGB). Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist es daher nicht "grotesk", den beantragten Hafturlaub mit dem Bestehen von Haftgründen, in casu Fluchtgefahr, zu begründen, sondern entspricht es dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, dass diesfalls kein Urlaub zu gewähren ist.  
 
5.2. Ob Fluchtgefahr vorliegt, ist im Einzelfall sorgfältig zu prüfen (Urteil 1B_248/2021 vom 1. Juli 2021 E. 4.2 mit Hinweisen).  
Der Beschwerdeführer setzt sich nicht substanziiert mit den vorinstanzlichen Erwägungen zum Vorliegen erheblicher Fluchtgefahr auseinander und legt insbesondere nicht dar, inwiefern sich die Situation seit Ergehen des Urteils 1B_540/2022 vom 17. November 2022 massgeblich geändert hätte (vgl. a.a.O., E. 4). Er behauptet diesbezüglich einzig, die Fluchtgefahr erscheine im Rahmen eines (unbegleiteten) Verwandtenbesuchs während zwei bis drei Tagen aufgrund des engen zeitlichen wie auch sozialen Korsetts (Abholung und Verbleib bei seiner Familie) deutlich reduziert gegenüber dem Fall der (vollständigen) Haftentlassung. Dies vermag nicht zu überzeugen. Selbst wenn man dieser Argumentation aber folgen würde, müsste die Fluchtgefahr in Anbetracht der Gesamtumstände (vgl. Urteil 1B_540/2022 vom 17. November 2022 E. 4) nach wie vor als derart erheblich betrachtet werden, dass die Voraussetzungen von Art. 84 Abs. 6 StGB vorliegend nicht erfüllt sind. 
Auf die weiteren rein appellatorischen Vorbringen des Beschwerdeführers ist nicht näher einzugehen. Insbesondere ist für die Beurteilung des vorliegenden Falles von vornherein ohne jegliche Relevanz, wie es sich mit der Beurteilung der Fluchtgefahr zu einem späteren Zeitpunkt verhalten könnte. 
 
5.3. Damit kann offenbleiben, ob der Beschwerdeführer, wovon sowohl die Vorinstanz als auch er selbst ausgehen, sich überhaupt noch im vorzeitigen Strafvollzug befindet und Art. 84 Abs. 6 StGB zur Anwendung gelangt. Die gegenteilige Auffassung der Staatsanwaltschaft, das vom Beschwerdeführer gestellte Haftentlassungsgesuch (vgl. Sachverhalt Bst. A hiervor) habe den automatischen Widerruf des vorzeitigen Strafvollzugs und seine Rückversetzung in das Haftregime der Sicherheitshaft zur Folge gehabt, weshalb Art. 84 Abs. 6 StGB nicht anwendbar sei, wäre für den Beschwerdeführer insoweit nicht vorteilhafter.  
 
6.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten grundsätzlich dem Beschwerdeführer aufzuerlegen und keine Parteientschädigungen zuzusprechen (Art. 66 und 68 BGG). 
Indessen stellt der Beschwerdeführer ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das Verfahren vor Bundesgericht. Deren Gewährung setzt jedoch insbesondere voraus, dass die gestellten Rechtsbegehren nicht aussichtlos erscheinen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf die offensichtliche Unbegründetheit der Beschwerde ist das Gesuch abzuweisen. Auf eine Kostenauflage kann jedoch ausnahmsweise verzichtet werden (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung wird abgewiesen. 
 
3.  
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht Basel-Stadt, Der Präsident, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 16. März 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Müller 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger