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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_169/2021  
 
 
Urteil vom 16. Juni 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Tania Teixeira, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 1. Februar 2021 (5V 20 45). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die IV-Stelle Luzern sprach dem 1977 geborenen A.________ im Anschluss an dessen Besuch der Sonderschule B.________ berufliche Massnahmen und entsprechende Taggelder zu. Im Oktober 1997 (Postaufgabe) meldete sich der Versicherte erneut zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Im Feststellungsblatt vom 12. Oktober 1998 zum Rentenbeschluss vermerkte die IV-Stelle als Ausgangsbasis "Jugendinvalidität"; sodann errechnete sie einen Invaliditätsgrad von 85,39 %. Mit Verfügung vom 4. Dezember 1998 sprach sie A.________ eine ganze Invalidenrente ab 1. Juli 1997 zu. Mit Verfügung vom 7. Februar 2003, Mitteilung vom 15. Juni 2007 und Verfügung vom 13. Mai 2008 wurde der bisherige Rentenanspruch jeweils (ohne nähere Überprüfung der entsprechenden Voraussetzungen) bestätigt.  
 
Im Februar 2014 leitete die Verwaltung erneut ein Revisionsverfahren ein. Am 10. Februar 2015 bot die IV-Stelle Luzern A.________ Unterstützung bei der Stellensuche an. Ab März 2015 kam sie für zwei Arbeitsversuche während jeweils sechs Monaten auf. Zu einer anschliessenden Festanstellung kam es nicht. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 2. Juni 2016 die Invalidenrente wiedererwägungsweise auf Ende Juli 2016 auf. 
 
A.b. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 3. Februar 2017 gut. Es hob die Verfügung vom 2. Juni 2016 auf und bejahte einen weiterhin bestehenden Anspruch auf eine ganze Rente. Die daraufhin von der IV-Stelle erhobene Beschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil 9C_254/2017 vom 21. August 2017 teilweise gut. Es hob das Urteil vom 3. Februar 2017 und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 2. Juni 2016 auf, soweit sie den Rentenanspruch ab 1. August 2016 betrafen, und wies die Sache zu neuer Verfügung an die IV-Stelle Luzern zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.  
 
A.c. Die Verwaltung holte insbesondere das Gutachten des Dr. med. C.________ (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Neurologie) vom 15. Oktober 2018 (samt neuropsychologischem Teilgutachten der Dr. sc. hum. D.________) ein. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens bestätigte die IV-Stelle mit Verfügung vom 16. Dezember 2019 die Rentenaufhebung auf Ende Juli 2016 mangels eines invalidisierenden Gesundheitsschadens.  
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Luzern mit Urteil vom 1. Februar 2021 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Urteils vom 1. Februar 2021 und der Verfügung vom 16. Dezember 2019 sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm über den 1. August 2016 hinaus eine ganze Invalidenrente auszurichten. Eventualiter sei die Angelegenheit an das kantonale Gericht zurückzuweisen und dieses anzuweisen, nach Einholung eines psychiatrischen Gerichtsgutachtens neu zu entscheiden; subeventualiter sei die Sache zur Invaliditätsbemessung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen ergänzen oder berichtigen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig bedeutet dabei willkürlich (BGE 133 II 249 E. 1.2.2). Analoges gilt für die Beweiswürdigung. In diese greift das Bundesgericht nur ein, wenn die Vorinstanz in Willkür verfällt, wenn sie offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder solche grundlos ausser Acht lässt (BGE 144 V 50 E. 4.2). 
 
2.  
 
2.1. Das Bundesgericht bejahte bereits im Urteil 9C_254/2017 vom 21. August 2017 E. 3.3.2 die Voraussetzungen für die Wiedererwägung der Verfügung vom 4. Dezember 1998. Bei dieser prozessualen Ausgangslage ist der Rentenanspruch ex nunc et pro futuro frei zu prüfen (BGE 140 V 514 E. 5.2). Ebenfalls im Urteil 9C_254/2017 vom 21. August 2017 E. 4.4 hielt das Bundesgericht fest, dass der Versicherte nach der wiedererwägungsweisen Aufhebung der ursprünglichen Verfügung vom 4. Dezember 1998 hinsichtlich eines weiteren Rentenanspruchs (ab dem 1. August 2016) grundsätzlich die objektive Beweislast, d.h. die Folgen der Beweislosigkeit trägt.  
 
2.2. Die Vorinstanz hat die Anspruchsvoraussetzungen für eine Invalidenrente (Art. 7 f. ATSG, Art. 4 Abs. 1 und Art. 28 IVG) richtig dargelegt. Zutreffend sind auch die Ausführungen zum im Sozialversicherungsprozess geltenden Beweismass (vgl. BGE 126 V 353 E. 5b), zum Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 352 E. 3a), zum Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 und Art. 61 lit. c ATSG; vgl. auch BGE 138 V 218 E. 6) und zur invalidenversicherungsrechtlichen Bedeutung von Intelligenzminderungen (Urteile 8C_302/ 2020 vom 24. Juni 2020 E. 5.1; 9C_601/2019 vom 7. Januar 2020 E. 3.5.2). Darauf wird verwiesen.  
 
3.  
Das kantonale Gericht mass dem psychiatrischen Gutachten des Dr. med. C.________ (samt neuropsychologischem Teilgutachten der Dr. sc. hum. D.________) Beweiskraft zu. Auf dieser Grundlage verneinte es einen invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden, schloss auf 100% Arbeitsfähigkeit in sämtlichen Hilfsarbeitstätigkeiten und sah von der Durchführung des Einkommensvergleichs ab. Berufliche Massnahmen verwarf es mit Hinweis auf die bundesgerichtlichen Erwägungen in E. 5 des Rückweisungsurteils 9C_254/2017 vom 21. August 2017. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer bestreitet die Beweiskraft des psychiatrischen Gutachtens (samt neuropsychologischem Teilgutachten). Zudem hält er die vorinstanzliche Beweiswürdigung für willkürlich.  
 
Ob ein Gutachten beweiskräftig ist, stellt eine frei überprüfbare Rechtsfrage dar (Urteil 9C_18/2019 vom 14. Juni 2019 E. 2.2 mit Hinweis). Hingegen betreffen die konkrete Beweiswürdigung (vgl. E. 1) sowie die gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit Tatfragen (Urteil 9C_210/2021 vom 2. Juni 2021 E. 2.2.2). 
 
4.2.  
 
4.2.1. Das neuropsychologische Teilgutachten hält u.a. fest, der Beschwerdeführer habe zwei Symptomvalidierungsverfahren mit Werten absolviert, die extrem weit unter den bei motivierter Mitarbeit zu erreichenden Werten liegen. In einem sprachfreien Intelligenztest habe der Beschwerdeführer einen Intelligenzquotienten (IQ) von 73 erreicht. Die Zusammenstellung der Befunde der Leistungstests lasse auf ein starkes Aggravationsverhalten schliessen. Daher könnten deren Ergebnisse nicht inhaltlich ausgewertet werden und lieferten wegen mangelnder Mitarbeit keine verwertbaren Befunde. Unter diesen Umständen bestehe auch das Risiko, dass tatsächliche und spezifische kognitive Defizite differenzialdiagnostisch nicht festgestellt werden konnten.  
 
4.2.2. Soweit der Beschwerdeführer pauschal rügt, die neuropsychologische Testung sei nicht ergebnisoffen durchgeführt worden, zeigt er nichts Substanzielles gegen das Teilgutachten auf. In diesem begründete die Neuropsychologin insbesondere nachvollziehbar und einleuchtend, weshalb und inwiefern sie Aggravation erkannte. Der Versicherte weist zwar zutreffend darauf hin, die Expertin habe tatsächliche kognitive Defizite nicht ausschliessen können. Dieser Umstand beruhte aber auf dessen aggravatorischem Verhalten.  
 
4.3.  
 
4.3.1. Dr. med. C.________ stellte folgende Diagnosen ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit: Angst und depressive Störung, gemischt, bei Status nach einer Anpassungsstörung (ICD-10: F.41.2/F.43.22); Verdacht auf eine leichte ausgeprägte undifferenzierte Somatisierungsstörung mit Kopfschmerzen, Schwindel und Nackenschmerzen (ICD-10: F.45.1); Probleme verbunden mit Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung im Sinne von selbstunsicheren und paranoiden Persönlichkeitszügen (ICD-10: Z73.1) sowie kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten (ICD-10: F81.3). Hingegen verwarf er Diagnosen mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Weder sei beim Beschwerdeführer unter psychiatrischen Aspekten ein Leidensdruck erkennbar noch seien die geklagten Beschwerden kongruent mit den Einschränkungen im Lebensalltag.  
 
4.3.2. Der psychiatrische Experte begründete seine Einschätzungen einleuchtend und äusserst ausführlich, wobei er sich insbesondere auf die Aktenlage, die Angaben des Versicherten und die Ergebnisse der eigenen Untersuchung (Befunderhebung) stützte. Er legte dar, weshalb er erhebliche kognitive Defizite resp. ein selbständiges invalidisierendes Geschehen im Zusammenhang mit Aggravation und Intelligenzminderung resp. psychischer Störung (vgl. dazu SVR 2016 IV Nr. 56 S. 185, 9C_296/2016 E. 3.1 in fine; Urteil 9C_659/2017 vom 20. September 2018 E. 4.1) verneinte. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass er die "biografischen Daten" (Lernbehinderung, Sonderschulung, gescheiterte Ausbildung und Berufsintegration) oder die von der Neuropsychologin festgestellten "Hinweise" auf selbstunsichere und paranoide Persönlichkeitsakzentuierung sowie ADHS ungenügend berücksichtigt haben soll, sind nicht ersichtlich. Zudem setzte er sich auch mit dem vom Beschwerdeführer angerufenen Bericht des behandelnden Psychiaters Dr. med. E.________ vom 10. Mai 2018 (recte: 2016) auseinander.  
 
Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde leidet das psychiatrische Gutachten nicht an einem Widerspruch, weil der Experte auf der einen Seite Diagnosen stellte und auf der anderen Seite eine invalidisierende Störung verneinte. Diagnosen sind Instrumente für die standardisierte Zuordnung von Beeinträchtigungen (Symptomen) zu Krankheiten und anderen medizinischen Befunden und für das Verständlichmachen der dazwischen bestehenden Zusammenhänge (BGE 130 V 396 E. 6.2.1). Von einer Diagnose kann nicht direkt auf die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit geschlossen werden (BGE 145 V 215 E. 6.1; 143 V 418 E. 6). Der Beschwerdeführer übergeht mit seiner Kritik ausserdem die nachvollziehbare, an Kriterien des ICD-10 orientierte Diskussion der psychischen Befundlage im Gutachten. 
 
4.4. Der behandelnde Psychiater bestätigte in seiner Stellungnahme vom 7. November 2018 die formelle Qualität, Vollständigkeit und inhaltliche Konsistenz des psychiatrischen Gutachtens des Dr. med C.________. Er kritisiert lediglich, die Experten hätten nicht in Erwägung gezogen, dass der Beschwerdeführer "tatsächlich so schlechte Testergebnisse produziert", und die biografischen Daten hätten mehr Gewicht in der Gesamtbeurteilung erhalten müssen.  
 
Die Stellungnahme enthält keine konkreten Indizien, die gegen die Zuverlässigkeit der von der Verwaltung eingeholten Expertise sprechen (vgl. BGE 135 V 465 E. 4.4; Urteil 9C_86/2018 vom 20. August 2018 E. 5.1). Ebenso wenig lässt lässt sie auf Willkür in der Beweiswürdigung schliessen, zumal bei dieser sowohl dem Unterschied zwischen Behandlungs- und Begutachtungsauftrag (vgl. BGE 125 V 351 E. 3b/bb und cc; Urteil 9C_561/2018 vom 8. Februar 2019 E. 5.3.2.2) als auch dem Ermessensspielraum der Experten (vgl. BGE 137 V 210 E. 3.4.2.3 S. 253; Urteil 9C_397/2015 vom 6. August 2015 E. 5.3) Rechnung zu tragen ist. Ohnehin beschränkt sich der Beschwerdeführer auf weiten Strecken darauf, lediglich die Beweise abweichend von der Vorinstanz zu würdigen resp. appellatorische Kritik an deren Sachverhaltsfeststellung anzubringen, was indessen nicht genügt (BGE 145 I 26 E. 1.3; Urteil 9C_517/2019 vom 4. November 2019 E. 3.5). 
 
4.5. Nach dem Gesagten genügt das psychiatrische Gutachten des Dr. med. C.________ (samt neuropsychologischem Teilgutachten der Dr. sc. hum. D.________) den Anforderungen an die Beweiskraft. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung und die weiteren Sachverhaltsfeststellungen beruhen nicht auf einer Rechtsverletzung. Sie sind auch nicht offensichtlich unrichtig, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich bleiben (vgl. E. 1).  
 
5.  
Schliesslich erblickt der Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verzicht auf eine Invaliditätsbemessung eine Verletzung von Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 26 IVV
 
Der Versicherte litt in der hier zu beurteilenden Zeitspanne (vom 1. August 2016 bis zum 16. Dezember 2019) nicht an einem invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden (vgl. E. 4.5). Damit fehlt es an einem notwendigen Element der Erwerbsunfähigkeit, die ihrerseits Voraussetzung der Invalidität ist (vgl. Art. 7 f. ATSG; vgl. auch Art. 28 Abs. 1 lit. c IVG). Die Vorinstanz hat somit zu Recht keinen Einkommensvergleich durchgeführt. Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet. 
 
6.  
Ausgangsgemäss trägt der Beschwerdeführer die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.00 werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. Juni 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann