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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
8C_56/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 16. Juli 2013  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiber Grünvogel. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau,  
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
R.________, 
vertreten durch Helsana Rechtsschutz AG, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Rentenanstalt X.________.  
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Arbeitsunfähigkeit, vorinstanzliches Verfahren), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 30. Oktober 2012. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1974 geborene R.________ litt nach einer Infekterkrankung im Herbst 2007 zunehmend unter Schmerzen und Spannungszuständen bis hin zu Blockaden im Nackenbereich mit einer seitlichen Fehlhaltung des Kopfes. Nach verschiedenen Abklärungen und Therapieversuchen meldete sie sich Anfang Juni 2008 bei der IV-Stelle des Kantons Aargau zum Leistungsbezug an wegen des zwischenzeitig diagnostizierten Torticollis spasmodicus (Schiefhals), assoziierter Kopf- und Nackenschmerzen, unwillkürlicher Kopfrotation und Anspannung der Nacken- und Schultermuskulatur. Nach erwerblichen und medizinischen Abklärungen, u. a. dem Beizug eines polydisziplinären Gutachtens der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ vom 16. März 2010, stellte die IV-Stelle am 7. Juni 2010 die Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente für die Zeit vom 1. März bis 31. Mai 2009 in Aussicht. Daraufhin liess R.________ eine Stellungnahme des sie behandelnden Neurologen PD Dr. med. M.________ vom 25. August 2010 nachreichen. Die IV-Stelle legte diesen dem RAD-Arzt Dr. med. S.________ vor, welcher am 3. Juni 2011 Bericht erstattete. Gestützt darauf hielt die IV-Stelle mit Verfügung vom 29. Juli 2011 an der Befristung der Rente fest. 
 
B.  
Dagegen liess R.________ Beschwerde erheben. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau unterbreitete PD Dr. med. M.________ in Ergänzung zu seinem Bericht vom 25. August 2010 verschiedene Fragen, welche er am 28. August 2012 beantwortete. Die IV-Stelle liess sich dazu nicht vernehmen. Mit Entscheid vom 30. Oktober 2012 hob das kantonale Gericht die Verfügung vom 29. Juli 2011 auf und sprach R.________ eine ganze Invalidenrente für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 2009 und eine halbe für die Zeit vom 1. Februar (recte: Mai) 2009 bis 31. August 2010 zu. Zugleich wies es die Angelegenheit an die IV-Stelle zurück, damit diese nach ergänzenden Abklärungen über den Rentenanspruch für die Zeit ab 1. September 2010 neu verfüge. 
 
C.  
Die IV-Stelle lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der vorinstanzliche Entscheid vom 30. Oktober 2012 sei aufzuheben. 
 
R.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht, die Rentenanstalt X.________ und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Es wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft grundsätzlich aber nur die geltend gemachten Rügen. Es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). Es kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). 
Der auf Grund medizinischer Untersuchungen gerichtlich festgestellte Gesundheitszustand und die damit einhergehende Arbeitsfähigkeit betreffen eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Rechtsverletzungen sind demgegenüber die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, der Beweiswürdigungsregeln (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG) und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 f. E. 5.1 mit Hinweis). 
 
2.  
Den im Rahmen des Verwaltungsverfahrens durch die IV-Stelle eingeholten Gutachten von externen Spezialärzten, welche aufgrund eingehender Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten Bericht erstatten und bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen gelangen, ist bei der Beweiswürdigung volle Beweiskraft zuzuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (vgl. BGE 125 V 351 Erw. 3b/bb S. 353; RKUV 1993 Nr. U 167 S. 96 Erw. 5a mit weiteren Hinweisen [Urteil U 9/92 vom 2. April 1993]). Auch Berichte von behandelnden Spezialärzten sind Äusserungen von Sachverständigen, welche zur Feststellung eines medizinischen Sachverhaltes beweismässig etwas beitragen können. Daraus folgt indessen nicht, dass ein solcher Bericht oder ein solches Gutachten den gleichen Rang wie ein vom Gericht oder von einem Invalidenversicherer nach dem vorgegebenen Verfahrensrecht eingeholtes Gutachten besitzt. Es verpflichtet indessen - wie jede substanziiert vorgetragene Einwendung gegen ein solches Gutachten - das Gericht, den von der Rechtsprechung aufgestellten Richtlinien für die Beweiswürdigung folgend, zu prüfen, ob es in rechtserheblichen Fragen die Auffassungen und Schlussfolgerungen des vom Gericht oder vom Versicherer förmlich bestellten Gutachters derart zu erschüttern vermag, dass davon abzuweichen ist (vgl. BGE 125 V 261 E. 3c S. 354). 
 
3.  
Die Vorinstanz stellte für die Festlegung der bei der Invaliditätsbemessung Ausgangspunkt bildenden Arbeitsfähigkeit nicht auf das von der Verwaltung eingeholte polydisziplinäre Gutachten der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ vom 16. März 2010 ab, wonach seit der im Jahr 2008erfolgreich begonnenen, ab Juni 2009 zu Beschwerdefreiheit führenden Botulinus-Behandlung des Schiefhalses kein die Arbeitsfähigkeit beeinflussender Befund mehr auszumachen sei. Dies im Wesentlichen mit der Begründung, das Therapieprogramm sei zum Zeitpunkt der Untersuchung der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ im März 2010 noch nicht abgeschlossen gewesen, was von den Experten zwar erkannt worden sei, nicht jedoch - und das sei von entscheidender Bedeutung -, dass diese Weiterführung der Botox-Injektionen aktenkundig der Bekämpfung der für einen Schiefhals typischerweise schwankenden und damit nicht allein anhand der anlässlich der Untersuchung der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ im März aktuell festgestellten Symptomatik diente. 
 
 Damit folgte das Gericht den Ausführungen des das Therapieprogramm durchführenden Arztes PD Dr. med. M.________ vom 25. August 2010 und 28. August 2012, der sich das Abweichen der Ärzte der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ von seiner Einschätzung der Arbeitsfähigkeit (50 % seit Januar 2009) damit erklärte, dass a) diese die Beschwerdegegnerin in einem klinisch günstigen Zeitpunkt gesehen hätten und b) anscheinend keine Erfahrung über den Verlauf fokaler Dystonien und über die Behandlungseffekte mit Botulinumtoxin hätten. Seine Einschätzung begründete er mit einer im Verlauf der Therapie ab Anfang 2009 zwar verbesserten, aber nach wie vor belastungsabhängig jeweils verstärkt aufgetretenen Symptomatologie. Das Gericht verzichtete darauf, den Ärzten der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ die Äusserungen von PD Dr. med. M.________ zur Stellungnahme zu unterbreiten. 
 
3.1. Die Beschwerdeführerin wendet ein, den Berichten des behandelnden Arztes könne nicht die volle Beweiskraft beigemessen werden, da es sich dabei lediglich um Stellungnahmen und nicht um eine Expertise, welche den von der Rechtsprechung entwickelten inhaltlichen Anforderungen gerecht wird, handle. Dem ist beizupflichten. Denn wie von der Verwaltung treffend ausgeführt, gab PD Dr. med. M.________ seine Einschätzung nicht in Kenntnis sämtlicher Vorakten ab bzw. setzte sich mit diesen inhaltlich nicht erkennbar auseinander, so insbesondere mit den verschiedenen Berichten des Zentrums B.________ aus der Zeit von Juni bis August 2009, worin - wie auch im Bericht der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ - etwa invaliditätsfremde psychosoziale Faktoren als Mitursache der Beschwerden vermutet und das Vorhandensein einer neuropathologischen Schmerzzunahme als unwahrscheinlich bezeichnet wurden.  
 
3.2. Eine andere Frage ist, ob diese Berichte - der Auffassung der Vorinstanz folgend - allenfalls geeignet waren, die Beweiskraft des von der Verwaltung bei der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ eingeholten Gutachtens externer Spezialärzte in Frage zu stellen. Soweit das kantonale Gericht diesen Schluss gezogen hat, kann dies nicht als offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich betrachtet werden, wenngleich allein die unterschiedliche Beurteilung der Auswirkungen des Leidens auf die Arbeitsfähigkeit zwischen den Gutachtern der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ und anderen involvierten Ärzten, die zu einer anderen Beurteilung gelangten, für sich allein noch nicht gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens spricht. Denn wie weit die zumindest teilweise auf der Grundlage eigener Wahrnehmungen getroffenen Aussagen des die Botulinum-Behandlung durchführenden Arztes zur schwankenden Symptomatik des Schiefhalses und der damit verbundenen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit auf 50 % für die Zeit nach Anfang 2009 den Gutachtern der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ bekannt waren, ist unklar, erfassten sie doch in ihrer medizinischen Anamnese nichts Derartiges. Als jüngster Bericht des behandelnden Arztes ist jener vom 10. September 2008 aufgeführt. Nicht zutreffend ist indessen die Feststellung der Vorinstanz, die Experten der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ hätten im Widerspruch zu den übrigen medizinischen Akten einen Torticollis verneint. Die Gutachter diagnostizierten einen entsprechenden Status, erachteten ihn indessen seit Eintritt der Beschwerdefreiheit im Juni 2009 als nicht (mehr) invalidisierend.  
 
 
3.3. Die Vorinstanz hätte demnach weitere Abklärungen vornehmen müssen, sei es, indem sie - naheliegenderweise - den Experten der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ die Stellungnahme des behandelnden Arztes mit möglichen zusätzlichen Fragen unterbreitet hätte, sei es, dass sie - allenfalls auch im Anschluss an die Antworten - ein Obergutachten eingeholt hätte. Daran ändert nichts, dass es die IV-Stelle war, welche nach eingereichten Stellungnahmen des behandelnden Arztes zum Gutachten der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ diese lediglich noch dem RAD-Arzt vorgelegt hatte, welcher alsdann seiner Antwort eine falsche Sachverhaltsannahme (keine fortdauernde Behandlung mit Botulinumtoxin) zu Grunde gelegt hatte. Die Untersuchungsmaxime gebietet dies.  
Indem das kantonale Gericht sich über die Beurteilung des Gesundheitszustandes und die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit der Medizinischen Abklärungsstation Y.________ ohne weitere Abklärungen hinweggesetzt hat, verletzte es den Untersuchungsgrundsatz und die Beweiswürdigungsregeln. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde ist die Sache daher an das kantonale Gericht zur Klärung der noch offenen Fragen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit zurückzuweisen (vgl. BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 S. 264). Danach hat sie über die Beschwerde erneut zu entscheiden. 
 
4.  
Die Rückweisung der Sache an das kantonale Gericht zu erneuter Abklärung (mit noch offenem Ausgang) gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235). Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten daher der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Trotz Obsiegens steht der IV-Stelle nach Massgabe von Art. 68 Abs. 3 BGG keine Parteientschädigung zu. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 30. Oktober 2012 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rentenanstalt X.________, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. Juli 2013 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Leuzinger 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünvogel