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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_697/2024  
 
 
Urteil vom 16. Dezember 2024  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Haag, 
Gerichtsschreiberin Gerber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel U. Walder, 
 
gegen  
 
Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung, Bundesrain 20, 3003 Bern. 
 
Gegenstand 
Auslieferung an Italien, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Bundesstrafgerichts, Beschwerdekammer, 
vom 21. November 2024 (RR.2024.105). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der türkische Staatsangehörige A.________ wurde am 19. März 2015 als Flüchtling anerkannt und es wurde ihm in der Schweiz Asyl gewährt. 
Gestützt auf einen Haftbefehl des Untersuchungsrichters am Gericht in Mailand vom 3. Mai 2024 ordnete das Bundesamt für Justiz (BJ) am 17. Mai 2024 die vorläufige Auslieferungshaft und am 23. Mai 2024 die Auslieferungshaft gegen A.________ an. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde am 18. Juni 2024 vom Bundesstrafgericht abgewiesen. 
 
B.  
Mit Schreiben vom 28. Mai 2024 übermittelte das italienische Justizministerium dem BJ das formelle Ersuchen um Auslieferung von A.________. Am 3. Juni 2024 ersuchte der Rechtsvertreter von A.________ das BJ um Übersetzung der nur in italienischer Sprache vorliegenden Aktenstücke durch einen akkreditierten Übersetzer. Das BJ wies diesen Antrag mit Schreiben vom 4. Juni 2024 sinngemäss ab, worauf der Rechtsvertreter ein Gesuch um Wiedererwägung bzw. um Erlass einer anfechtbaren Verfügung stellte. 
Am 11. Juni 2024 wurde A.________ durch die Kantonspolizei Zürich (mithilfe eines türkischsprachigen Dolmetschers) zum Auslieferungsersuchen einvernommen. Am 11. Juli 2024 reichte sein Rechtsvertreter eine Stellungnahme zum Auslieferungsersuchen ein. 
Mit Entscheid vom 15. August 2024 bewilligte das BJ die Auslieferung von A.________ an ltalien für die dem Auslieferungsersuchen des italienischen Justizministeriums vom 28. Mai 2024 zugrunde liegenden Straftaten. In seinen Erwägungen verneinte es einen Anspruch auf Übersetzung der italienischsprachigen Aktenstücke in die deutsche Sprache. 
Gegen den Auslieferungsentscheid liess A.________ am 18. September 2024 Beschwerde beim Bundesstrafgericht einreichen, wobei er u.a. erneut eine Übersetzung der Unterlagen verlangte. Die Beschwerdekammer wies die Beschwerde am 21. November 2024 ab. 
 
C.  
Dagegen hat A.________ am 5. Dezember 2024 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht erhoben. Er beantragt, der Entscheid des Bundesstrafgerichts sei aufzuheben und das Auslieferungsgesuch von Italien sei abzuweisen. Eventualiter sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen an das Bundesstrafgericht zurückzuweisen. Er beantragt sodann die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren. 
Es wurden die Akten, aber keine Vernehmlassungen eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ist nur zulässig, wenn diese u.a. eine Auslieferung betrifft und es sich um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Art. 84 Abs. 1 BGG). Ein besonders bedeutender Fall liegt "insbesondere" vor, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass elementare Verfahrensgrundsätze verletzt worden sind oder das Verfahren im Ausland schwere Mängel aufweist (Art. 84 Abs. 2 BGG). Das Gesetz enthält eine nicht abschliessende, nur beispielhafte Aufzählung von möglichen besonders bedeutenden Fällen. Darunter fallen nicht nur Beschwerden, die Rechtsfragen von grundsätzlicher Tragweite aufwerfen, sondern auch solche, die aus anderen Gründen besonders bedeutsam sind (BGE 145 IV 99 E. 1.1 mit Hinweisen). Nach der Praxis des Bundesgerichts kann auch die Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze im schweizerischen Rechtshilfeverfahren (und nicht nur im ausländischen Verfahren) einen besonders bedeutenden Fall begründen (BGE 145 IV 99 E. 1.3), sofern dafür ernsthafte Anhaltspunkte objektiv vorliegen (BGE 145 IV 99 E. 1.4 mit Hinweisen; MARC FORSTER, in: Basler Kommentar zum BGG, 3. Aufl., 2018, Art. 84 N. 31). 
Art. 84 BGG bezweckt die wirksame Begrenzung des Zugangs zum Bundesgericht im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein besonders bedeutender Fall gegeben ist, steht dem Bundesgericht ein weiter Ermessensspielraum zu. Die besondere Bedeutung des Falles ist in der Beschwerdeschrift darzulegen; hierfür gilt eine qualifizierte Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 Satz 2 BGG; FORSTER, a.a.O., Art. 84 N. 33). 
Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, der Fall weise in zweierlei Hinsicht besondere Bedeutung auf. 
 
2.  
Zum einen macht er geltend, die Vorinstanz habe das Vorliegen offensichtlicher Lücken und Widersprüche im Rechtshilfeersuchen zu Unrecht verneint, weil es einzig auf das formelle Rechtshilfeersuchen abgestellt habe, ohne Widersprüche und Lücken zu berücksichtigen, die sich aus einem Abgleich zwischen diesem und den Beilagen, namentlich dem Haftbefehl des Untersuchungsrichters vom 3. Mai 2024 ergäben. Es bedürfe der höchstrichterlichen Klärung, dass auch solche Widersprüche und Lücken zu berücksichtigen seien und zur Rückweisung des Auslieferungsgesuchs führen müssten. 
 
2.1. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers besteht insoweit kein Klärungsbedarf. Nach ständiger Rechtsprechung ist die ersuchte Behörde an die Sachverhaltsdarstellung im Rechtshilfeersuchen gebunden, soweit diese nicht durch offensichtliche Fehler, Lücken oder Widersprüche entkräftet wird (vgl. BGE 142 IV 250 E. 6.3; BGE 136 IV 4 E. 4.1; 133 IV 76 E. 2.2; je mit Hinweisen). Die Sachverhaltsdarstellung kann im Ersuchen oder in dessen Beilagen enthalten sein (Art. 10 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Februar 1982 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen [IRSV; SR 351.11]), z.B. im Haftbefehl, der gemäss Art. 12 Abs. 2 lit. a des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR 0.353.1) dem Ersuchen beigefügt wird. Insofern können sich offensichtliche Widersprüche oder Lücken auch aus den Beilagen und Ergänzungen ergeben.  
 
2.2. In diesem Sinne berücksichtigte die Vorinstanz bei der Prüfung des Sachverhalts nicht nur die sehr kurze Zusammenfassung der an den Beschwerdeführer und drei weitere Personen gerichteten Vorwürfe der Generalstaatsanwaltschaft vom 6. Mai 2024, sondern ausdrücklich auch die weit ausführlichere und detailliertere Sachverhaltsdarstellung im Haftbefehl vom 3. Mai 2024 (E. 7.3.1-7.4 des angefochtenen Entscheids). Sie gelangte indessen zum Ergebnis, dass die unterschiedlichen Ansichten der Staatsanwaltschaft und des Untersuchungsrichters lediglich die Beweislage hinsichtlich des Vorwurfs der Beteiligung des Beschwerdeführers an einer bewaffneten Gruppierung beträfen und den Sachverhalt des Auslieferungsersuchens zum Besitz und Tragen einer Schusswaffe nicht in Frage stellten, der nach schweizerischem Recht prima facie unter den Tatbestand von Art. 33 Abs. 1 lit. a des Waffengesetzes vom 20. Juni 1997 (WG SR 514.54) subsumiert werden könne und die Auslieferung erlaube. Darin ist keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung erkennbar.  
 
3.  
Zum anderen rügt der Beschwerdeführer eine schwere Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes des fairen Verfahrens (Art. 29 Abs. 1 und 2 BV; Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. a und b EMRK), weil die umfangreichen italienischsprachigen Rechtshilfeunterlagen nicht, wie von ihm mehrfach beantragt, auf deutsch übersetzt worden seien. Das Auslieferungsverfahren greife tief in die Rechtsposition der betroffenen Person ein. Die massgeblichen Akten seien dem Beschwerdeführer nie offiziell in einer ihm verständlichen Sprache vorgehalten worden, weshalb er sich nicht effektiv habe wehren können. 
 
3.1. Die Vorinstanz verwies auf Art. 33a Abs. 4 VwVG (SR 172.021), wonach die Behörde eine Übersetzung anordne, wo dies nötig sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall, werde doch von schweizerischen Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen, zumindest im Bereich der internationalen Rechtshilfe, die passive Kenntnis der Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch erwartet. Anderenfalls läge es an diesen selbst, für die notwendige Übersetzung von in italienischer Sprache verfasster Akten zu sorgen. Die spezifisch strafrechtlichen Garantien von Art. 6 Abs. 3 EMRK seien im Auslieferungsverfahren grundsätzlich nicht anwendbar.  
 
3.2. Gegenstand des Auslieferungsverfahrens ist die Prüfung der Auslieferungsvoraussetzungen und nicht der strafrechtlichen Schuld oder Unschuld, weshalb es sich nach ständiger Rechtsprechung nicht um eine strafrechtliche Anklage i.S.v. Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 EMRK handelt (vgl. Urteil des EGMR i.S. Martuzevicius c. Grossbritannien vom 24. März 2015 Rn. 32 mit Rechtsprechungshinweisen; grundlegend Entscheid der Kommission Nr. 10227/82 i.S. H. c. Spanien vom 15. Dezember 1983, DR 37, 93 f.; BGE 139 II 404 E. 6; Urteil 1C_113/2018 E. 3.6 vom 26. März 2018 E. 3.6; je mit Hinweisen).  
Dennoch gelten selbstverständlich auch im Auslieferungsverfahren das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 29 Abs. 1 BV) und auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV). Diese Grundsätze werden im Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG; SR 351.1) konkretisiert (vgl. insbes. Art. 52 Abs. 1 IRSG i.V.m. Art. 17 f. IRSV: Anspruch auf Orientierung und Anhörung der verfolgten Person in einer ihr verständlichen Sprache; Art. 21 Abs. 1 IRSG: Verbeiständung). Subsidiär gelten die allgemeinen Verfahrensgarantien des VwVG (Art. 12 IRSG). 
Ein Anspruch auf Übersetzung des Rechtshilfeersuchens und dessen Beilagen wird anerkannt, sofern diese aufgrund der staatsvertraglichen Regelung einzig in der Sprache des ersuchenden Staats eingereicht werden, welche die verfolgte Person und ihre Rechtsvertretung nicht verstehen (Urteil 1A.127/1989 vom 23. November 1989 E. 3b; ROBERT ZIMMERMANN, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 5. Aufl., 2019, Rz. 291 S. 308). Regelmässig müssen jedoch ausländische Ersuchen und ihre Unterlagen in deutscher, französischer oder italienischer Sprache eingereicht werden (vgl. Art. 28 Abs. 5 IRSG und den schweizerischen Vorbehalt zu Art. 23 EAUe). Wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, können von Rechtsanwälten oder -anwältinnen, die im Bereich der internationalen Rechtshilfe tätig sind, zumindest passive Kenntnisse dieser Amtssprachen der Schweiz erwartet werden (vgl. Urteile des Bundesgerichts 2C_201/2013 vom 24. Januar 2014, in BGE 140 II 194 nicht publizierte E. 4.2; 1A.275/2003 vom 27. Januar 2004 E. 2.2; 1A.43/2003 vom 23. April 2003 E. 2.2; 1A.37/2001 vom 12. Juli 2001 E. 3b). Heutzutage besteht zudem die Möglichkeit, die Hilfe eines Online-Übersetzungsprogramms in Anspruch zu nehmen. Sollten Zweifel zur Bedeutung gewisser, spezifisch in Italien üblicher Rechtstermini verbleiben, können diese (sofern ausnahmsweise entscheidrelevant) in der Stellungnahme zum Auslieferungsersuchen thematisiert und von der Rechtshilfebehörde geklärt werden. 
 
3.3. Der vorliegende Fall gibt weder Anlass, diese Rechtsprechung grundsätzlich zu überdenken, noch liegen Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Verletzung von Verfahrensgarantien im Rechtshilfeverfahren vor. Wie die Stellungnahme und die Rechtsschriften belegen, hat der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers die Rechtshilfeunterlagen (möglicherweise mithilfe eines Online-Übersetzungstools) verstanden und konnte diesbezügliche Einwände sachgerecht erheben (z.B. oben E. 2 zu angeblichen Widersprüchen zwischen verschiedenen Passagen).  
 
4.  
Da auch sonst kein besonders bedeutender Fall vorliegt, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Es rechtfertigt sich dennoch, dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.  
Rechtsanwalt Daniel U. Walder wird als amtlicher Vertreter des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 2'000.-- ausgerichtet. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung, und dem Bundesstrafgericht, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 16. Dezember 2024 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Gerber