Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
H 125/05
Urteil vom 17. Januar 2006
IV. Kammer
Besetzung
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Keel Baumann
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
G.________, 1972, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Bieler, Promenade 77,
7270 Davos Platz,
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur
(Entscheid vom 7. Juni 2005)
Sachverhalt:
A.
G.________ führt seit 1. Februar 1994 einen Coiffeursalon. Am 8. Februar 1994 meldete sie sich mittels amtlichem Formular bei der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden als Selbstständigerwerbende an und schätzte ihr jährliches Einkommen auf Fr. 36'000.-. Die Frage, ob sie Arbeitnehmende habe, beantwortete sie mit "nein". Gleichzeitig gab sie an, eine Person zu einer geschätzten Lohnsumme von Fr. 36'000.- zu beschäftigen. Mit Schreiben vom 23. Februar 1994 bestätigte die Ausgleichskasse die Aufnahme von G.________ als Selbstständigerwerbende und wies sie darauf hin, dass sie sich umgehend bei der Ausgleichskasse oder der örtlichen AHV-Zweigstelle melden solle, falls sie zu einem späteren Zeitpunkt Arbeitnehmende einstellen würde.
Ab 1. Juni 1994 war W.________ als Coiffeuse bei G.________ angestellt. G.________ zog ihr jeweils die AHV/IV/EO/ALV-Beiträge vom Lohn ab, unterliess es jedoch, diese zusammen mit den Arbeitgeberbeiträgen der Ausgleichskasse weiterzuleiten. Im August 2002 meldete G.________ eine neue Arbeitnehmerin bei der Ausgleichskasse an.
Am 22. Januar 2003 teilte G.________ der Kasse telefonisch mit, dass sie für W.________ nie Beitragszahlungen geleistet habe. Die Ausgleichskasse forderte daher nachträglich die geschuldeten Beiträge. Da die Beiträge der Jahre 1994 bis 1997 infolge Verwirkung nicht mehr eingefordert werden konnten, erliess sie am 28. Oktober 2004 eine Schadenersatzverfügung in der Höhe von Fr. 21'063.90 für die in den Jahren 1994 bis 1997 entgangenen bundes- und kantonalrechtlichen Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich Verwaltungskosten). Daran hielt sie auf Einsprache der G.________ fest (Entscheid vom 11. Januar 2005).
B.
Die von G.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 7. Juni 2005 gut und hob den Einspracheentscheid vom 11. Januar 2005 auf.
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Entscheides.
G.________ lässt auf Abweisung und die Ausgleichskasse auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweisen).
2.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
3.
Streitig und zu prüfen ist vorab, ob die Vorinstanz zu Recht entschieden hat, dass die Schadenersatzverfügung für die Jahre 1994 bis 1996 nicht rechtzeitig ergangen sei.
3.1 Der Arbeitgeber, welcher (der Ausgleichskasse) durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden zufügt (Art. 52 Abs. 1 AHVG in der ab 1. Januar 2003 geltenden, redaktionell umgearbeiteten Fassung) bzw. verschuldet (Art. 52 AHVG in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung), hat diesen (der Ausgleichskasse) zu ersetzen.
Gemäss Art. 82 Abs. 1 AHVV in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung verjährt die Schadenersatzforderung, wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird, auf jeden Fall aber mit Ablauf von fünf Jahren seit Eintritt des Schadens. Nach der Rechtsprechung handelt es sich dabei - entgegen dem Wortlaut - um Verwirkungsfristen (BGE 128 V 12 Erw. 5a, 17 Erw. 2a, je mit Hinweisen). Die diese Norm ablösende, auf 1. Januar 2003 (mit der Einführung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG] vom 6. Oktober 2000) in Kraft getretene Bestimmung des Art. 52 Abs. 3 AHVG sieht vor, dass der Schadenersatzanspruch zwei Jahre, nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat, und jedenfalls fünf Jahre nach Eintritt des Schadens verjährt (Satz 1). Diese Fristen können unterbrochen werden (Satz 2). Der Arbeitgeber kann auf die Einrede der Verjährung verzichten (Satz 3). Dabei handelt es sich, wie das Eidgenössische Versicherungsgericht unlängst unter Hinweis auf den Gesetzeswortlaut und die Materialien (BBl 1994 V S. 983 f., 1999 V S. 4763) entschieden hat, um Verjährungsfristen (in SJ 2005 I S. 272 publiziertes Urteil F. vom 30. November 2004, H 96/03, Erw. 5.1).
Weder das AHVG noch das ATSG enthalten eine spezielle Übergangsbestimmung betreffend die Anwendbarkeit der Verwirkungsfrist nach aArt. 82 Abs. 1 AHVV und der Verjährungsfrist nach Art. 52 Abs. 3 AHVG.
3.2 Der Schaden gilt als eingetreten, sobald anzunehmen ist, dass die geschuldeten Beiträge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr erhoben werden können (BGE 129 V 195 Erw. 2.2, 126 V 444 Erw. 3a, je mit Hinweisen). Dies trifft dann zu, wenn die Beiträge im Sinne von Art. 16 Abs. 1 AHVG verwirkt sind (vgl. z.B. BGE 112 V 156, 98 V 26) oder wenn ihre Entrichtung wegen Zahlungsunfähigkeit des beitragspflichtigen Arbeitgebers nicht mehr möglich ist (vgl. z.B. BGE 121 V 234, 240). Im ersten Fall gilt der Schaden als eingetreten, sobald die Beiträge verwirkt sind (BGE 123 V 15 Erw. 5b, 170 Erw. 2a, 112 V 157 Erw die 108 V 194 Erw. 2d, je mit Hinweisen), und im zweiten Fall, sobald die Beiträge wegen der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht mehr im ordentlichen Verfahren nach Art. 14 ff. AHVG erhoben werden können (BGE 123 V 16 Erw. 5b, 170 Erw. 2a, 121 III 384 Erw. 3bb, 113 V 256, 112 V 157 Erw. 2).
3.3 Das kantonale Gericht entschied die Frage des anwendbaren Rechts in Ermangelung einer speziellen Übergangsbestimmung (vgl. Erw. 3.1 hievor) gestützt auf den Grundsatz, wonach für den Fall einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen diejenige Ordnung Anwendung findet, welche zur Zeit galt, als sich der zu Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat, und gelangte auf diese Weise zur Anwendbarkeit des bei Schadenseintritt (Zeitpunkt der Beitragsverwirkung) in Kraft stehenden Rechts, mithin der bis 31. Dezember 2002 in Kraft gewesenen Bestimmung des aArt. 82 AHVV. Es erwog, die Ausgleichskasse habe am 22. Januar 2003, an welchem Tag G.________ ihr mitgeteilt habe, dass sie für eine bereits ab 1993 beschäftigte Angestellte nie Beiträge abgerechnet habe, Kenntnis des Schadens erlangt, weshalb die erst am 28. Oktober 2004, mithin nach Ablauf der (altrechtlichen) einjährigen Verwirkungsfrist ergangene Schadenersatzverfügung verspätet erfolgt sei.
3.4 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wendet sich das BSV zu Recht gegen die Anwendung der altrechtlichen Verwirkungsbestimmung des aArt. 82 Abs. 1 AHVV. Denn wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im zur Publikation in BGE 131 V bestimmten Urteil R. vom 27. September 2005, H 53/05, unter Hinweis auf die von Rechtsprechung (BGE 102 V 207 Erw. 2; BGE 111 II 193, 107 Ib 203 f. Erw. 7b/aa) und Lehre (Rhinow/Krähenmann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Nr. 15 B III d; Attilio Gadola, Verjährung und Verwirkung im öffentlichen Recht, in: AJP 1/95, S. 58) für den Bereich der Verjährung und Verwirkung entwickelten übergangsrechtlichen Grundsätze entschieden hat, gelangt auf Schadenersatzansprüche, die bei Inkrafttreten des neuen Rechts am 1. Januar 2003 noch nicht verwirkt waren, die eine zweijährige Verjährungsfrist vorsehende Norm des Art. 52 Abs. 3 AHVG zur Anwendung. Dies trifft auf die am 28. Oktober 2004 verfügungsweise geltend gemachte Schadenersatzforderung zu, steht doch fest und ist unbestritten, dass die Ausgleichskasse am 22. Januar 2003, als die Beschwerdegegnerin sie über die fehlende Beitragsabrechnung und -ablieferung ab Juni 1994 informierte, Kenntnis vom Schaden erlangt hat, so dass am 1. Januar 2003 die einjährige Verwirkungsfrist noch nicht einmal zu laufen begonnen hatte und die fünfjährige Frist seit Eintritt des Schadens (d.h. seit Beitragsverwirkung, welche für die 1994 geschuldeten Beiträge nach Ablauf des Jahres 1999, für die 1995 nach Ablauf des Jahres 2000 und für die 1996 geschuldeten nach Ablauf des Jahres 2001 eingetreten ist; Art. 16 Abs. 1 AHVG) jedenfalls noch nicht verstrichen war. Findet im vorliegenden Fall demnach die zweijährige Verjährungsfrist nach Art. 52 Abs. 3 AHVG Anwendung, hat die Ausgleichskasse die Schadenersatzforderung mit Verfügung vom 28. Oktober 2004 rechtzeitig geltend gemacht. Nicht entschieden zu werden braucht die auch im Urteil R. vom 27. September 2005, H 53/05 (Erw. 5.3), offen gelassene Frage, ob die unter altem Recht abgelaufene Zeit an die zweijährige Verjährungsfrist anzurechnen ist oder die zweijährige Frist erst mit Inkrafttreten des neuen Rechts zu laufen beginnt; denn vorliegend wurde die relative einjährige Verwirkungsfrist vor dem 1. Januar 2003 noch gar nicht in Gang gesetzt.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Schadenersatzforderung auch für die Beiträge, die der Ausgleichskasse in den Jahren 1994 bis 1996 entgangen sind, rechtzeitig geltend gemacht worden ist.
4.
Wie die Vorinstanz verbindlich festgestellt hat (vgl. Erw. 2 hievor) und aufgrund der Akten erstellt ist, blieb die Beschwerdegegnerin die für 1994 bis 1997 geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge schuldig. Damit verstiess sie gegen die Beitragszahlungs- und -abrechnungspflicht und missachtete Vorschriften im Sinne von Art. 52 AHVG (Art. 14 AHVG und Art. 34 AHVV [in der vorliegend anwendbaren, bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung]). Diese Verletzung der Beitragsablieferungspflicht ist nicht nur widerrechtlich (vgl. BGE 118 V 195 Erw. 2a mit Hinweisen), sondern gereicht der Beschwerdegegnerin in einer Weise zum Verschulden (vgl. BGE 108 V 202 Erw. 3a), die sie für den infolge Beitragsverwirkung entstandenen Schaden haftbar werden lässt. Denn nach der Rechtsprechung beweist der Arbeitgeber, welcher - wie die Beschwerdegegnerin - seinen Arbeitnehmern die Beiträge vom Lohn abzieht, Kenntnis der gesetzlichen Vorschriften und handelt grobfahrlässig oder gar absichtlich, soweit er die entsprechenden Lohnbeiträge der Ausgleichskasse nicht überweist (ZAK 1987 S. 206 f.). Nicht zu entlasten vermag die Beschwerdegegnerin - entgegen der im angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung - ihre Unerfahrenheit in kaufmännischen Belangen, gilt doch im Bereich von Art. 52 AHVG ein objektivierter Verschuldensmassstab und darf von der Inhaberin eines Coiffeursalons erwartet werden, dass sie die elementarsten sozialversicherungsrechtlichen Arbeitgeberpflichten kennt (was sie - wie gesehen - mit dem Abzug der Arbeitnehmerbeiträge bewiesen hat) und sich mit der notwendigen Sorgfalt um deren Erfüllung kümmert (vgl. auch BGE 108 V 203 oben). Wie das BSV zu Recht geltend macht, geht es auch nicht an, aufgrund von Unklarheiten in der Anmeldung vom 8. Februar 1994 ein Mitverschulden der Ausgleichskasse anzunehmen und die Beschwerdegegnerin gestützt hierauf von ihrer Verantwortung als Arbeitgeberin zu befreien. Denn abgesehen davon, dass die Pflicht zur Beitragsabrechnung und -ablieferung von Gesetzes wegen - ohne Mitwirkung der Ausgleichskasse - entsteht, hat die Ausgleichskasse die Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 23. Februar 1994 nochmals ausdrücklich und in hervorgehobener Schrift darauf hingewiesen, wie sie vorgehen müsse, falls sie (später) Arbeitnehmende beschäftige. Sodann hätte der Beschwerdegegnerin aufgrund der von ihr zu erwartenden Sorgfalt auffallen müssen, dass die an sie gerichteten Beitragsverfügungen lediglich ihre - als Selbstständigerwerbende geschuldeten - persönlichen Beiträge umfassten, was nicht nur aus der Bezeichnung der Verfügungen, sondern auch aus den daraus hervorgehenden Faktoren ohne weiteres erkennbar war. Da neben der Grobfahrlässigkeit auch die Haftungsvoraussetzung des adäquaten Kausalzusammenhanges zwischen dem schuldhaften Verhalten und dem der Ausgleichskasse entstandenen Schaden zu bejahen ist, weil mit überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Schaden entstanden wäre, wenn sich die Beschwerdegegnerin pflichtgemäss verhalten hätte (BGE 119 V 406 Erw. 4a mit Hinweisen; SVR 2005 AHV Nr. 18 S. 63 Erw. 5.4.2.3 [Urteil G. vom 2. Mai 2005, H 86/02]), ist nicht zu beanstanden, dass die Ausgleichskasse die Beschwerdegegnerin zur Leistung von Schadenersatz (im verfügten [vgl. aber Erw. 1 hievor] und in masslicher Hinsicht im Übrigen nicht bestrittenen Umfang) verpflichtet hat.
5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Entsprechend dem Ausgang des Prozesses hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 7. Juni 2005 aufgehoben.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'700.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden zugestellt.
Luzern, 17. Januar 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Vorsitzende der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: