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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_168/2020  
 
 
Urteil vom 17. März 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Stanger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Deecke, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 31. Januar 2020 (200 19 516 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1974 geborene A.________ meldete sich im März 2018 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch. Insbesondere zog sie ein vom Krankentaggeldversicherer in Auftrag gegebenes Gutachten des Dr. med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 25. Februar 2019bei. M it Verfügung vom 27. Mai 2019 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch. 
 
B.   
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 31. Januar 2020 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Rechtsbegehren, der Entscheid vom 31. Januar 2020 sei aufzuheben und es seien ihr die gesetzlichen Leistungen (Renten, berufliche Massnahmen) auszurichten. Eventualiter sei die Sache zu weiteren medizinischen Abklärungen an die IV-Stelle, subeventualiter zur Einholung eines Gerichtsgutachtens an das kantonale Gericht, zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit sowie bei der konkreten Beweiswürdigung handelt es sich um für das Bundesgericht grundsätzlich verbindliche Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen sind frei überprüfbare Rechtsfragen (Urteil 9C_194/2017 vom 29. Januar 2018 E. 3.2) die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG) und der Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352).  
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es einen Anspruch der Versicherten auf Leistungen der Invalidenversicherung verneinte. 
 
3.  
 
3.1. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren: Art. 61 lit. c ATSG) verlangt eine umfassende, inhaltsbezogene, verantwortliche und der behördlichen Begründungspflicht genügende Prüfung aller Beweismittel (BGE 140 V 193 E. 3.1 S. 195), unabhängig von ihrer Herkunft und ohne Bindung an förmliche Beweisregeln (BGE 137 V 210 E. 3.4.1.1 S. 248). Dennoch hat es die Rechtsprechung mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung als vereinbar erachtet, in Bezug auf bestimmte Formen medizinischer Berichte und Gutachten Richtlinien für die Beweiswürdigung aufzustellen (BGE 125 V 351 E. 3b S. 352).  
 
3.2. Den von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten, den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechenden Gutachten externer Spezialärzte (Administrativgutachten) darf voller Beweiswert zuerkannt werden, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 137 V 210 E. 1.3.4 S. 227; 135 V 465 E. 4.4 S. 470). Liegt - wie hier - ein vom Krankentaggeldversicherer nicht im gesetzlich vorgesehenen Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholtes Gutachten vor, kommt diesem der Beweiswert versicherungsinterner ärztlicher Feststellungen zu (Urteil 8C_71/2016 E. 5.3 vom 1. Juli 2016). Folglich sind an die Beweiswürdigung strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit einer solchen Expertise, so sind ergänzende Abklärungen in Form eines Gerichtsgutachtens oder einer versicherungsexternen medizinischen Begutachtung im Verfahren nach Art. 44 ATSG vorzunehmen (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229; 135 V 465 E. 4.4 S. 469).  
 
4.  
 
4.1. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat das kantonale Gericht erkannt, dass das vom Krankentaggeldversicherer in Auftrag gegebene psychiatrische Gutachten des Dr. med. B.________ vom 25. Februar 2019 beweiskräftig sei, wohingegen den davon abweichenden medizinischen Beurteilungen kein Beweiswert beigemessen werden könne. Insbesondere verneinte das kantonale Gericht auch nur geringe Zweifel an der Schlüssigkeit der Expertise vom 25. Februar 2019. Gestützt auf diese Beurteilung stellte es fest, dass ein invalidisierender (psychischer) Gesundheitsschaden nicht ausgewiesen sei, weshalb kein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung bestehe.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, das kantonale Gericht habe übersetzte und damit bundesrechtswidrige Anforderungen an die Würdigung von versicherungsinternen Expertisen gestellt. Bei einer bundesrechtskonformen Anwendung der Beweisgrundsätze wären geringen Zweifel zu bejahen.  
 
5.  
 
5.1. Geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit von nicht im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten Berichten können rechtsprechungsgemäss namentlich mit - nachvollziehbar begründeten - Stellungnahmen anderer medizinischer Fachpersonen geweckt werden (vgl. Urteil 8C_399/2020 vom 28. September 2020 E. 5 mit weiteren Hinweisen). Es würde einen Verstoss gegen Bundesrecht bedeuten, die Eignung der Berichte der behandelnden Ärztinnen und Ärzte zur Weckung derartiger Zweifel von letztlich unerfüllbaren Anforderungen abhängig zu machen. Wird die Schlüssigkeit der Feststellungen der versicherungsinternen Fachpersonen durch einen nachvollziehbaren Bericht eines behandelnden Arztes in Zweifel gezogen, so genügt deshalb der pauschale Hinweis auf dessen auftragsrechtliche Stellung nicht, um solche Zweifel auszuräumen. Ebenfalls kann nicht bloss darauf verwiesen werden, diese Berichte erfüllten die Anforderungen an Gutachten gemäss BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 nicht oder nur unvollständig. Damit die versicherte Person eine vernünftige Chance hat, ihre Sache dem Gericht zu unterbreiten, ohne gegenüber dem Versicherungsträger klar benachteiligt zu sein, darf bei Bestand solcher Zweifel nicht aufgrund der von der versicherten Person aufgelegten Berichte einerseits und den versicherungsinternen medizinischen Berichten andererseits eine abschliessende Beweiswürdigung vorgenommen werden. Um solche Zweifel auszuräumen, wird das Gericht vielmehr entweder ein Gerichtsgutachten anzuordnen oder die Sache an den Versicherungsträger zurückzuweisen haben, damit dieser im Verfahren nach Art. 44 ATSG eine Begutachtung veranlasst (BGE 135 V 465 E. 4.6 S. 471).  
 
5.2.  
 
5.2.1. In ihrem Bericht vom 13. März 2019 haben sich die behandelnden Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und lic. phil. D.________, eidg. anerkannte Psychotherapeutin, kritisch mit der Expertise des Dr. med. B.________ vom 25. Februar 2019 auseinandergesetzt. Das kantonale Gericht hat zu diesem Bericht erwogen, es würden keine neuen, dem Experten nicht bekannt gewesenen oder ungewürdigten Aspekte oder fachliche Fehler im Gutachten aufgezeigt. Vielmehr liege eine andere Würdigung desselben medizinischen Sachverhalts vor. Soweit Dr. med. C.________ die vom Experten festgestellte bewusstseinsnahe Aggravation angezweifelt habe, spiegle dies ebenfalls lediglich seine abweichende Einschätzung wieder, welche die Feststellung des Experten nicht zu entkräften vermöge. Was die unterschiedliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit durch Dr. med. B.________ und Dr. med. C.________ betreffe, weise die medizinische Folgenabschätzung - gerade, aber nicht nur im Bereich der Psychiatrie - eine hohe Variabilität auf und trage unausweichliche Ermessenszüge. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien die verschiedenen medizinisch-psychiatrischen Interpretationen denn auch zulässig und zu respektieren, sofern der Experte - wie hier - lege artis vorgegangen sei.  
 
5.2.2. Diesen Erwägungen des kantonalen Gerichts ist entgegenzuhalten, dass bei Vorliegen einer nicht nach Art. 44 ATSG eingeholten Expertise nicht bloss danach zu fragen ist, ob der Gutachter lege artis vorgegangen ist resp. ob die von der Versicherten aufgelegten Berichte anderer Fachpersonen die Feststellungen des Gutachters zu entkräften vermögen. Denn damit setzt das kantonale Gericht im Ergebnis den für ein Administrativgutachten anwendbaren Massstab an, wonach von der grundsätzlichen Beweiswertigkeit der Expertise auszugehen ist, solange nicht konkrete Indizien dagegen sprechen. Demgegenüber ist das - vorliegend massgebende - Kriterium des geringen Zweifels im Sinne der dargelegten Rechtsprechung (vgl. E. 3.2 i.V.m. E. 5.1) bereits dann erfüllt, wenn die von der Expertise abweichende Beurteilung anderer Fachpersonen nachvollziehbar begründet ist.  
 
5.3.  
 
5.3.1. Die Vorinstanz hat sich mit der Frage, ob der von der Expertise des Dr. med. B.________ abweichende Bericht vom 13. März 2019 nachvollziehbar begründet ist, nicht auseinandergesetzt. Diese Frage ist zu bejahen: Die Behandler äusserten sich insbesondere zu der vom Dr. med. B.________ diagnostizieren Neurasthenie und legten verständlich dar, weshalb diese Diagnose ihrer Einschätzung nach nicht gestellt werden könne, sondern vielmehr eine rezidivierende depressive Störung (ICD-10 F33) und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen, zwanghaften und histrionischen Anteilen (ICD-10 F61.0) vorliege (Bericht vom 13. März 2019, Seite 2 ff.). Weiter lässt sich dem Bericht eine ausführliche - auch retrospektive - Beurteilung der Arbeitsfähigkeit entnehmen (Seite 10 ff.), wobei Dr. med. C.________ und lic. phil. D.________ sich auch kritisch zu der von Dr. med. B.________ festgestellten bewusstseinsnahen Aggravation äusserten (Seite 10 f.).  
 
5.3.2. Indem das kantonale Gericht ohne nähere Begründung dem Bericht vom 13. März 2019 jeden Beweiswert abgesprochen und insbesondere trotz dessen Nachvollziehbarkeit auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der Expertise des Dr. med. B.________ verneinte, hat es bundesrechtswidrig zu hohe Anforderungen an die Erfüllung dieses Kriteriums (des geringen Zweifels) gesetzt.  
 
5.4. Nach dem Gesagten verletzte das kantonale Gericht Bundesrecht, als es gestützt auf die vorliegende medizinische Aktenlage eine abschliessende Beweiswürdigung vornahm. Der angefochtene Entscheid ist demzufolge aufzuheben und die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen. Diese wird im Verfahren nach Art. 44 ATSG ein psychiatrisches Gutachten einzuholen und anschliessend über den Leistungsanspruch neu zu verfügen haben.  
 
6.   
Mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens braucht auf die weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin, welche sich insbesondere gegen den Beweiswert der Expertise vom 25. Februar 2019 richten, nicht näher eingegangen zu werden. 
 
7.   
Die Rückweisung der Sache zu erneutem Entscheid gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (vgl. BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG), die der Beschwerdeführerin überdies eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten hat (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 31. Januar 2020 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 27. Mai 2019 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. März 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Stanger