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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
6B_485/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 17. August 2016  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin Jametti, 
Gerichtsschreiber M. Widmer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
2. A.A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Renate Senn, 
Beschwerdegegnerinnen. 
 
Gegenstand 
Sexuelle Handlungen mit Kindern; besondere Umstände gemäss Art. 187 Ziff. 3 StGB
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, vom 1. März 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
X.________ (Jahrgang 1993) wird unter anderem vorgeworfen, zwischen dem 21. Juli und dem 9. August 2012 mehrfach mit der kurz zuvor 14 Jahre alt gewordenen A.A.________ sexuell verkehrt zu haben. 
 
B.  
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 8. Juli 2013 wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 30.-- sowie zu einer Busse von Fr. 900.--. 
Dagegen erhob X.________ Einsprache. Am 9. Oktober 2013 sprach ihn das Bezirksgericht Zurzach vom Vorwurf der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind frei und verurteilte ihn wegen der nicht bestrittenen Verkehrsregelverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 30.-- sowie zu einer Busse von Fr. 800.--. 
Auf Berufung der Staatsanwaltschaft sowie von A.A.________ verurteilte das Obergericht des Kantons Aargau X.________ am 12. August 2014 im schriftlichen Verfahren wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu Fr. 30.-- sowie zu einer Busse von Fr. 1'350.--. 
 
C.  
Das Bundesgericht hiess die dagegen gerichtete Beschwerde in Strafsachen von X.________ gut, hob das obergerichtliche Urteil vom 12. August 2014 auf und wies die Sache zur Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung mit Befragung der Parteien an das Obergericht zurück (Urteil 6B_939/2014 vom 11. Juni 2015). 
 
D.  
Am 1. September 2015 wies das Obergericht das Ausstandsgesuch von X.________ gegen die am Urteil vom 12. August 2014 beteiligten Gerichtspersonen ab. Seine dagegen gerichtete Beschwerde in Strafsachen wies das Bundesgericht ab (Urteil 1B_306/2015 vom 9. Dezember 2015). 
 
E.  
Am 1. März 2016 fand die Berufungsverhandlung statt. Das Obergericht befragte X.________ als beschuldigte Person, A.A.________ als Auskunftsperson und B.A.________ als Zeugin. Es verurteilte X.________ gleichentags erneut wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand und belegte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu Fr. 50.-- sowie einer Busse von Fr. 1'350.--. 
 
F.  
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil vom 1. März 2016 sei aufzuheben. Von einer Bestrafung wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind sei abzusehen. Eventualiter sei die Sache an das Obergericht zurückzuweisen. X.________ ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
G.  
Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verweisen auf die Ausführungen im obergerichtlichen Urteil und verzichten auf Gegenbemerkungen. A.A.________ liess sich nicht vernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer macht besondere Umstände im Sinne von Art. 187 Ziff. 3 StGB geltend. 
 
1.1. Nach Art. 187 StGB wird bestraft, wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt, es zu einer solchen Handlung verleitet oder es in eine sexuelle Handlung einbezieht (Ziff. 1); die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt (Ziff. 2); hat der Täter zur Zeit der Tat oder der ersten Tathandlung das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt und liegen besondere Umstände vor oder ist die verletzte Person mit ihm die Ehe oder eine eingetragene Partnerschaft eingegangen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen (Ziff. 3).  
 
1.2. Gemäss Art. 187 Ziff. 3 StGB kann von der Bestrafung abgesehen werden, wenn der Täter zur Tatzeit das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt hat und ausserdem "besondere Umstände" vorliegen. Was unter diesen besonderen Umständen zu verstehen ist, beantwortet sich nach der Grundidee der Gesetzesänderung vom 21. Juni 1991, die am 1. Oktober 1992 in Kraft trat. Damit wollte der Gesetzgeber einerseits den veränderten gesellschaftlichen Auffassungen Rechnung tragen, andererseits Fälle von Jugendliebe flexibler als bisher handhaben. Die Gesetzesänderungen beim Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern zeigen, dass der Gesetzgeber eine Entkriminalisierung von Fällen beabsichtigte, in denen die Beteiligten praktisch gleichaltrig sind, besondere Umstände vorliegen oder sich eine Liebesbeziehung entwickelt hat. Eine Strafnorm wurde unter solchen Umständen als nicht mehr gerechtfertigt betrachtet (BGE 119 IV 138 E. 3d S. 143 f. mit Hinweisen auf Materialien und Beratungen in E. 2). Dieser Gedanke der Entkriminalisierung sexueller Beziehungen von Jugendlichen führt vorab zu einer grosszügigen Auslegung des Begriffs der besonderen Umstände. Darunter kann etwa die Liebesbeziehung zwischen jugendlichen Beteiligten fallen. Eine solche ist insbesondere dann zu bejahen, wenn der Täter in guten Treuen annehmen darf, die sexuellen Handlungen erfolgten im Rahmen einer Beziehung, getragen von gegenseitiger Zuneigung. Damit ist zugleich gesagt, dass ein Ausnutzen des Partners eine Liebesbeziehung im Sinne der besonderen Umstände von Art. 187 Ziff. 3 StGB ausschliesst (Urteil 6S.101/1994 vom 25. März 1994 E. 1c/aa; STRATENWERTH/JENNY/BOMMER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I: Straftaten gegen Individualinteressen, 7. Aufl. 2010, § 7 N. 19 S. 170; MICHEL DUPUIS ET AL., Petit commentaire du Code pénal, 2. Aufl. 2012, N. 51 zu Art. 187 StGB; BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Vol. I, 3. Aufl. 2010, N. 41 zu Art. 187; PHILIPP MAIER, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 3. Aufl. 2013, N. 33 zu Art. 187 StGB; ANDREAS DONATSCH, Strafrecht III, Delikte gegen den Einzelnen, 10. Aufl. 2013, S. 497; TRECHSEL/BERTOSSA, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 13 zu Art. 187 StGB; JÖRG REHBERG, Das revidierte Sexualstrafrecht, AJP 1993 S. 19; HANS WIPRÄCHTIGER, Aktuelle Praxis des Bundesgerichts zum Sexualstrafrecht, ZStrR 117/1999 S. 125; STEFAN TRECHSEL, Fragen zum neuen Sexualstrafrecht, ZBJV 129/1993 S. 590).  
 
1.3. Die Vorinstanz erwägt, es lägen keine besonderen Umstände im Sinne von Art. 187 Ziff. 3 StGB vor. Es reiche nicht aus, dass sich der Beschwerdeführer und die Beschwerdegegnerin 2 "während der Woche, in welcher es zu den sexuellen Kontakten kam, geliebt hatten". Der Altersunterschied zur 14-jährigen Beschwerdegegnerin 2 habe fast fünf Jahre betragen. Die Initiative zum Geschlechtsverkehr sei vom Beschwerdeführer gekommen. Er leugne die sexuellen Kontakte konsequent. Wenn überhaupt von einer Beziehung gesprochen werden könne, habe diese sehr kurz gedauert.  
 
1.4. Der Beschwerdeführer trägt vor, die Vorinstanz würdige das Beweisergebnis der Berufungsverhandlung vom 1. März 2016 nicht hinreichend. Die Beschwerdegegnerin 2 habe dort erstmals detaillierte Angaben zu ihrer Beziehung zu ihm gemacht. In der Ferienwoche vom 23. bis 27. Juli 2012 sei es täglich mehrmals zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gekommen. Der Beschwerdeführer und die Beschwerdegegnerin 2 hätten an der Berufungsverhandlung betont, sie seien in jenem Sommer ineinander verliebt gewesen und hätten die Beziehung schön gefunden. Der Beschwerdeführer habe der Beschwerdegegnerin 2 zum Geburtstag eine Kette geschenkt samt Anhänger in Herzform mit Gravur der Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen. Die Beschwerdegegnerin 2 habe ausgesagt, der Beschwerdeführer sei sehr eifersüchtig gewesen und habe Angst gehabt, sie würde ihn betrügen, weshalb sie ihm fortwährend habe sagen müssen, dass sie ihn liebe und ihm treu sein werde. Die Beschwerdegegnerin 2 habe betont, der Verlust des Beschwerdeführers habe sie tief verletzt. Er selber habe ein schlechtes Gewissen gehabt, als er die Beziehung beendet habe. Die Mutter der Beschwerdegegnerin 2 habe ausgesagt, sie habe eine Vertrauensbeziehung zum Beschwerdeführer aufgebaut. Er und ihre Tochter seien jeweils im anderen Elternhaus zu Besuch gewesen.  
Der Beschwerdeführer macht geltend, die detaillierten Aussagen der Parteien an der Berufungsverhandlung liessen erkennen, dass sich die nur wenige Wochen dauernde Beziehung Schritt für Schritt entwickelt habe und beide dazu beigetragen hätten, dass sie früh in einen Geschlechtsverkehr gemündet sei. Insbesondere der freie und offene Bericht der Beschwerdegegnerin 2 an der Berufungsverhandlung habe deutlich gemacht, dass sie damals nicht unerfahren gewesen sei und den Geschlechtsverkehr gewollt, gesucht und aktiv mitgestaltet habe. Sie sei es gewesen, die sich jeweils zum Beschwerdeführer nach Hause begeben und von sich aus Kondome besorgt habe. Die Initiative zum Geschlechtsverkehr sei zumindest ebenso von der geschlechtsreifen und nicht unerfahrenen Beschwerdegegnerin 2 ausgegangen. Namentlich habe sie eingeräumt, der Sex mit dem Beschwerdeführer habe ihr gefallen mit Ausnahme des ersten Mals, als sie ein schlechtes Gewissen geplagt habe wegen der Eltern. 
 
1.5. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den vorinstanzlichen Feststellungen, dass zwischen dem Beschwerdeführer und der Beschwerdegegnerin 2 eine Jugendliebe im Sinne der aufgezeigten Rechtsprechung und Lehre bestand (vgl. oben E. 1.2). Es liegen keine Umstände vor, die darauf hindeuten würden, dass der Beschwerdeführer den Altersunterschied ausgenutzt hätte. Es bestand eine echte Zuneigung, die zu den sexuellen Kontakten führte, weshalb besondere Umstände im Sinne von Art. 187 Ziff. 3 StGB vorliegen. Daran ändert nichts, dass der Altersunterschied mehr als vier Jahre betrug und der Beschwerdeführer die sexuellen Handlungen bis zuletzt leugnete.  
So erkannte das Bundesgericht denn auch in einem vergleichbaren Fall besondere Umstände gemäss Art. 187 Ziff. 3 StGB: Die Beteiligten waren während rund zwei Jahren näher befreundet. Nach einigen Monaten wurde die Beziehung intimer, beide wollten diese Intimitäten, und das Kind unter 16 Jahren fühlte sich nicht überfordert. Es wurde nicht ausgenützt, sondern fand die sexuellen Handlungen gut. Gemäss übereinstimmenden Aussagen liebten sich die beiden. Das Bundesgericht führte aus, von einer Beziehung junger Beteiligter dürfe nicht eine Intensität im Sinne eines eheähnlichen Verhältnisses verlangt werden. Auch sei nicht entscheidend, dass der Altersunterschied der Beteiligten über vier Jahre betrug und das Kind im Zeitpunkt der sexuellen Beziehungen noch nicht 14-jährig gewesen war (Urteil 6S.101/1994 vom 25. März 1994 E. 1c/bb). 
 
1.6. Der Beschwerdeführer hat zur Zeit der Tathandlungen das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt. Indem die Vorinstanz besondere Umstände verneint und Art. 187 Ziff. 3 StGB nicht anwendet, verletzt sie Bundesrecht.  
 
2.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Für das bundesgerichtliche Verfahren sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG), die praxisgemäss dem Rechtsvertreter auszurichten ist. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird damit gegenstandslos. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Aargau hat den Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Kenad Melunovic, für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. August 2016 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: M. Widmer