Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 15/02 
 
Urteil vom 17. September 2002 
III. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Hochuli 
 
Parteien 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
L.________, 1964, Beschwerdegegner, 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
(Entscheid vom 28. November 2001) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1964 geborene L.________, verheiratet mit einer selbstständig erwerbstätigen Physiotherapeutin, leidet seit 1984 an den Folgen einer unfallbedingten Tetraplegie. Er ist als "Fachpsychologe für Psychotherapie FSP" teilerwerbstätig. Nach dem Abschluss der Ausbildung zum Fachpsychologen (per 31. März 1998) sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Wirkung ab 1. April 1998 eine ganze Invalidenrente zu. Seit Juli 1985 übernahm die Invalidenversicherung ambulante Physiotherapie nach ärztlicher Anordnung als medizinische Massnahme. Nach Auffassung des Hausarztes Dr. med. D.________, wird der Versicherte voraussichtlich auch in Zukunft dauernd physiotherapeutischer Vorkehrungen bedürfen (Bericht vom 8. Dezember 1998). Mit Verfügung vom 16. Juni 2000 lehnte die IV-Stelle eine weitere Verlängerung dieser medizinischen Massnahme ab. 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde des L.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 28. November 2001 gut und bejahte ab 1. April 2000 den fortgesetzten Anspruch auf Übernahme der Physiotherapie zu Lasten der Invalidenversicherung. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids. 
 
Während L.________ sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, ersucht die IV-Stelle um Gutheissung derselben. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch auf medizinische Massnahmen physiotherapeutischer Art bei Lähmungen und andern motorischen Funktionsausfällen (insbesondere Art. 12 Abs. 1 IVG sowie Art. 2 Abs. 3 IVV) und die dazu ergangene Rechtsprechung im Wesentlichen (vgl. auch BGE 120 V 279 Erw. 3a, 108 V 217, je mit weiteren Hinweisen) zutreffend dargelegt. Richtig ist auch, dass der Eingliederungserfolg, für sich allein be trachtet, im Rahmen des Art. 12 IVG kein taugliches Abgrenzungskriterium ist, zumal praktisch jede ärztliche Vorkehr, die medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen Leben eine entsprechende Verbesserung bewirkt (BGE 102 V 42 mit Hinweisen; AHI 1999 S. 127 Erw. 2b mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen. 
1.2 Zu ergänzen ist, dass sich stabilisierende Vorkehren nach der Rechtsprechung (AHI 1999 S. 127 f. Erw. 2d mit Hinweisen) stets gegen labiles pathologisches Geschehen richten. Deshalb muss eine kontinuierliche Therapie, die notwendig ist, um das Fortschreiten eines Leidens zu verhindern, als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden. Keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen ist daher ein Zustand, der sich nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht halten lässt, gleichgültig welcher Art die Behandlung sei (BGE 98 V 209). Ein solcher Zustand ist, solange er im Gleichgewicht bewahrt werden kann, wohl stationär, aber nicht im Sinne der Rechtsprechung stabil. Die medizinischen Vorkehren, die zur Aufrechterhaltung des stationären Zustandes erforderlich sind, können daher von der Invalidenversicherung nicht übernommen werden (AHI 1999 S. 127 f. Erw. 2d mit Hinweisen; Urteil K. vom 20. März 2000, I 164/99; Urteil Z. vom 1. Mai 2000, I 612/99). 
2. 
Streitig ist, ob der Versicherte über den 31. März 2000 hinaus weiterhin einen Anspruch auf Übernahme von Physiotherapie als medizinische Massnahme zu Lasten der Invalidenversicherung hat. 
2.1 Das BSV begründet die Verwaltungsgerichtsbeschwerde damit, zwar stellten irreversible Lähmungen, die auf unfallbedingte Para- oder Tetraplegie einerseits oder auf krankheitsbedingte Poliomyelitis andererseits zurückzuführen seien, einen stabilen Zustand dar. Dies gelte jedoch nicht für sekundäre Lähmungsfolgen wie beispielsweise die Bildung von Skoliosen, Kontrakturen, Beeinträchtigungen der Atmung, Kreislaufstörungen, Dekubiti und ähnliches mehr. Aus dem bisherigen Verlauf und dem Bericht des Dr. med. D.________ vom 8. Dezember 1998 zeige sich, dass der Versicherte mit grosser Wahrschein-lichkeit während seines ganzen Lebens dauerhaft auf Physiotherapie angewie-sen sein werde und diese Vorkehr zweifellos auch für den Erhalt der ausgeübten Erwerbstätigkeit eine erhebliche Rolle spiele. Weil der gegenwärtige Gesund-heitszustand beziehungsweise der Status quo nur mit konstanter Physiotherapie erhalten werden könne und sich ohne diese Dauermassnahme der Zustand verschlechtern würde, könne bestenfalls von einem stationären, nicht aber stabilen Zustand gesprochen werden, weshalb die Physiotherapie praxisgemäss auch mit Blick auf Art. 2 Abs. 3 IVV nicht als medizinische Massnahme nach Art. 12 IVG zu qualifizieren. 
2.2 Hiegegen wendet der Versicherte ein, das beschwerdeführende BSV weise einseitig ausschliesslich darauf hin, dass die Physiotherapie der Kontrakturenprophylaxe sowie der Verhinderung von sekundärem Krankheitsgeschehen diene und voraussichtlich dauerhaft notwendig sei, um einer sonst drohenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes vorzubeugen. Demgegenüber sei jedoch Physiotherapie gemäss Gutachten der Neurologischen Klinik des Spitals X.________ vom 22. Januar 1996 primär im Rahmen eines Trainings der motorischen Funktionen sowie zum weiteren Ausbau der praktischen Fertigkeiten dringend notwendig, während die Verhinderung eines sekundären Krankheits-geschehens als durchaus erwünschte Begleiterscheinung der Physiotherapie erwartet werden könne. Ein funktionserhaltendes Training sei für einen hochge-lähmten Tetraplegiker ausserhalb von stationären Rehabilitationsaufenthalten nur im Rahmen einer Physiotherapie möglich. Nur durch ständiges Training der verbleibenden, nicht gelähmten Restmuskulatur vermöge er die Funktionstüch-tigkeit zu erhalten oder sogar zu erhöhen. Das vom BSV herangezogene, an-geblich praktisch identische Beispiel (nicht veröffentlichtes Urteil E. vom 30. Dezember 1999, I 120/99) sei schon deshalb nicht mit seinem Fall zu vergleichen, weil er - im Gegensatz zum angeführten Beispiel - nicht über eine "verminderte", sondern über gar keine Rumpfstabilität verfüge und infolge seiner hochgradigen Lähmung auch nicht in der Lage sei, sich selbstständig in den und aus dem Rollstuhl zu transferieren. Der Erhalt oder die Erhöhung der Funktionalität sei nicht auf die Lösung der Spastik und Erhaltung der Gelenksfunktion (Kontrakturenprophylaxe) zurückzuführen, sondern (direkte) Folge des physiotherapeutischen Trainings. Der Haupteffekt der Physiotherapie sei die Erhaltung einer erhöhten Funktionalität und diene somit der Bewahrung vor einer wesentlichen Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit. 
2.3 Die Vorinstanz vertrat mit angefochtenem Entscheid die Auffassung, Ursache der dauerhaften Notwendigkeit von Physiotherapie sei nicht eine Rezidivgefahr oder ein instabiler Zustand, sondern die Schwere der Tetraplegie. Es liege ein stabiler Gesundheitszustand vor und bestehe offensichtlich keine Rezidivgefahr. Die Physiotherapie diene der Erhaltung oder sogar Verbesserung der motorischen Funktionen. Deshalb seien die Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 2 Abs. 3 IVV erfüllt, so dass die Physiotherapie weiterhin zu Lasten der Invalidenversicherung zu übernehmen sei. 
 
Zu Recht stellt das kantonale Gericht nicht in Abrede, dass der Versicherte voraussichtlich dauernd Physiotherapie benötigen wird. Unbestritten ist ferner, dass in der irreversiblen hochgradigen Lähmung durch die Tetraplegie ein sta-tionärer Zustand zu erblicken ist. Auch ist nicht zu verkennen, dass die Physio-therapie hinsichtlich der angestrebten Eingliederung durchaus erfolgswirksam ist. Entgegen der Vorinstanz steht jedoch fest, dass die zur Diskussion stehenden physiotherapeutischen Dauermassnahmen für die Durchbewegung zur Erhaltung der Gelenksfunktionen wichtig sind (Bericht des Dr. med. D.________ vom 8. Dezember 1998) und der Verhinderung sekundären Krankheitsgeschehens (Gutachten der Neurologischen Klinik des Spitals X.________ vom 22. Januar 1996) ebenso dient wie der Erhaltung der motorischen Funktionen. Denn käme es ohne Physiotherapie zu Kontrakturen, würden dadurch zweifelsohne auch die motorischen Funktionen beeinträchtigt. Daran ändert auch nichts, dass der Versicherte über keine Rumpfstabilität verfügt. Soweit sich aber sein Zustand in Bezug auf die sekundären Lähmungsfolgen nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht halten lässt, liegt praxisgemäss (Erw. 1.2 hievor) keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen vor. Daraus folgt, dass die Invalidenversicherung die anbegehrte, an sich zweckmässige und sinnvolle Physiotherapie, die zur Aufrechterhaltung des sta-tionären Zustandes erforderlich ist, nicht zu übernehmen hat. Die Massnahme gehört in den Bereich der Krankenversicherung. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 28. November 2001 aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und der IV-Stelle des Kantons Aargau zugestellt. 
Luzern, 17. September 2002 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: