Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_302/2023
Urteil vom 17. September 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichter Kölz, Bundesrichter Hofmann,
Gerichtsschreiber Schurtenberger.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokatin Constanze Seelmann,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel.
Gegenstand
Strafverfahren; Befehl für erkennungsdienstliche Erfassung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 11. Mai 2023 (BES.2022.34).
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Sachbeschädigung sowie Hinderung einer Amtshandlung. Mit Verfügung vom 19. Februar 2022 ordnete sie seine erkennungsdienstliche Erfassung ("Feststellung Körpermerkmale und Herstellung Abdrücke von Körperteilen") an.
B.
Die von A.________ gegen die Verfügung vom 19. Februar 2022 erhobene Beschwerde sowie sein damit verbundenes Gesuch um amtliche Verteidigung wies das Appellationsgericht Basel-Stadt mit Entscheid vom 11. Mai 2023 ab.
C.
C.a. Dagegen erhob A.________ mit Eingabe vom 26. Juni 2023 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Feststellung der Nichtigkeit der Verfügung vom 19. Februar 2022, eventualiter deren Aufhebung oder die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Aufhebung der Verfügung. Die erstellten Fotos sowie abgenommenen Fingerabdrücke und weitere Abdrücke identifizierender Körperteile seien umgehend zu vernichten und allfällige bereits erfolgte Einträge in entsprechenden daktyloskopischen Datenbanken umgehend zu löschen. Weiter beantragt er, ihm sei für das Verfahren vor der Vorinstanz die amtliche Verteidigung zuzusprechen.
C.b. In prozessualer Hinsicht beantragte A.________ die Sistierung des bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens bis zum Vorliegen eines Entscheids hinsichtlich seines zugleich beim Appellationsgericht eingereichten Wiedererwägungsgesuchs. Mit Vernehmlassung vom 5. Juli 2023 informierte das Appellationsgericht das Bundesgericht darüber, dass A.________ mit Eingabe vom 27. Juni 2023 bei ihr ein Wiedererwägungsgesuch gestellt habe, ohne sich jedoch zum Antrag auf Sistierung ausdrücklich zu äussern. Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen.
Mit Verfügung vom 10. August 2023 setzte der Präsident der II. strafrechtlichen Abteilung das Verfahrens aus bis zum Entscheid des Appellationsgerichts über das Wiedererwägungsgesuch, da sich die Verfahrensbeteiligten dem Sistierungsgesuch nicht widersetzt bzw. sich dazu nicht hatten vernehmen lassen.
Mit Schreiben vom 1. Dezember 2023 stellte das Appellationsgericht dem Bundesgericht seinen Entscheid vom 22. November 2023 über das Wiedererwägungsgesuch von A.________ zu.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer strafrechtlichen Angelegenheit, gegen den die Beschwerde in Strafsachen grundsätzlich offensteht (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG ). Die verfahrensgegenständliche Zwangsmassnahme dient nicht der Aufklärung der Straftaten, deren der Beschwerdeführer im laufenden Strafverfahren verdächtigt wird, sondern wurde vielmehr mit Blick auf allfällige andere - bereits begangene oder künftige - Delikte angeordnet. Ihr kommt somit eine über das Strafverfahren hinausgehende eigenständige Bedeutung zu. Der vorinstanzliche Entscheid ist deshalb praxisgemäss als Endentscheid zu behandeln, der nach Art. 90 BGG anfechtbar ist (Urteil 7B_176/2023 vom 24. Mai 2024 E. 1.1 mit Hinweisen). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
2.
Im angefochtenen Entscheid vom 11. Mai 2023 erwog die Vorinstanz zusammengefasst, der Beschwerdeführer sei mit Strafbefehl vom 15. Dezember 2014 wegen Hausfriedensbruchs und Hinderung einer Amtshandlung und mit Strafbefehl vom 20. Juni 2019 zudem wegen Landfriedensbruchs verurteilt worden. Aufgrund der Erheblichkeit dieser Vorstrafen und deren Einschlägigkeit bestehe Anlass zur Vermutung, er könnte in weitere Delikte verwickelt sein, weshalb sich die zu beurteilende Zwangsmassnahme als verhältnismässig erweise.
Mit Entscheid vom 22. November 2023 tritt die Vorinstanz auf das Wiedererwägungsgesuch des Beschwerdeführers ein. Sie anerkennt ausdrücklich, der Beschwerdeführer sei "bereits vor Ergehen des Entscheids vom 11. Mai 2023 im Zuge von Revisionsverfahren freigesprochen [worden]", womit "dies eine andere Situation darstellt als jene, von welcher im streitbetroffenen Entscheid ausgegangen wurde". Das Appellationsgericht habe den in Wiedererwägung zu ziehenden Entscheid vom 11. Mai 2023 demnach auf falsche Prämissen abgestützt. Sie hält indessen fest, dass sich die vorliegend zu beurteilende erkennungsdienstliche Erfassung trotz des Wegfalls von zwei Vorstrafen "immer noch knapp als verhältnismässig" erweise. Das Dispositiv des erneuten Entscheids lautet darauf, die Beschwerde werde "wiedererwägungsweise abgewiesen".
3.
Es stellt sich die Fragen nach der rechtlichen Wirkung des Wiedererwägungsentscheids der Vorinstanz für das vorliegende Verfahren.
3.1. Der Rechtsbehelf der Wiedererwägung ist in der eidgenössischen Strafprozessordnung nicht ausdrücklich vorgesehen. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine Wiedererwägung dessen ungeachtet zulässig sein kann, braucht vorliegend indessen nicht abschliessend geklärt zu werden (vgl. Urteil 1B_74/2022 vom 20. Mai 2022 E. 3.3 mit Hinweisen). Mit der Beschwerde an das Bundesgericht verliert die Vorinstanz nämlich die Herrschaft über den Streitgegenstand und ist entsprechend nicht mehr befugt, darüber zu verfügen (siehe Urteile 9C_481/2021 vom 9. Januar 2023 E. 1.4; 2C_229/2008 vom 13. Oktober 2008 E. 2). Demnach hat die Vorinstanz ihre funktionale Zuständigkeit überschritten, wenn sie ungeachtet des hängigen bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens mit Entscheid vom 22. November 2023 den angefochtenen Entscheid in Wiederwägung gezogen hat. Ihr Entscheid ist daher als nichtig zu betrachten und im vorliegenden Verfahren als Antrag der Vorinstanz auf Gutheissung der Beschwerde entgegenzunehmen (vgl. Urteil 9C_481/2021 vom 9. Januar 2023 E. 1.4 mit Hinweisen).
3.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz habe den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt. Diese Rüge erweist sich mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen als begründet. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist es nicht Aufgabe des Bundesgerichts, den Sachverhalt zu berichtigen und als erste (und einzige) Instanz neu über die Zulässigkeit der streitigen erkennungsdienstlichen Erfassung zu entscheiden. Vielmehr ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese gestützt auf den berichtigten Sacherhalt erneut über die Sache befindet. Damit erübrigt es sich, die weiteren Rügen des Beschwerdeführers zu behandeln.
4.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben ( Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG ). Der Kanton Basel-Stadt hat dem obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
1.1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
1.2. Der angefochtenen Entscheids wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Basel-Stadt hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.--- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 17. September 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger