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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.566/2004 /sta 
 
Urteil vom 17. November 2004 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Beat Hess, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern, 
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, 6002 Luzern. 
 
Gegenstand 
Art. 9 und 31 Abs. 1 BV (Haftentlassung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer, vom 24. September 2004. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Luzern führen gegen X.________ eine Strafuntersuchung wegen Entziehens von Unmündigen (Art. 220 StGB) sowie wegen Freiheitsberaubung und Entführung unter erschwerenden Umständen (Art. 183 Ziff. 2 i.V.m. Art. 184 Abs. 4 StGB). Sie verdächtigen ihn, am 30. April 2003 sein Kind Y.________ (Jahrgang 1997) der damals obhutsberechtigten Z.________ gegen deren Willen weggenommen und nach Marokko entführt zu haben. X.________ wurde am 20. Januar 2004 in Marokko verhaftet und bis zum 25. Februar 2004 in Auslieferungshaft gehalten. Am 20. Juli 2004 wurde er den schweizerischen Behörden überstellt und tags darauf vom Amtsstatthalteramt Luzern in Untersuchungshaft genommen. 
 
X.________ stellte am 25. August 2004 ein Haftentlassungsgesuch, welches der Amtsstatthalter am 30. August 2004 abwies, da neben dringendem Tatverdacht Wiederholungs- und Fluchtgefahr bestehe. 
 
Das Obergericht des Kantons Luzern wies den Rekurs X.________s gegen diesen Entscheid am 24. September 2004 ab und bestätigte den erstinstanzlichen Haftentscheid. 
B. 
Mit eigenhändig verfasster staatsrechtlicher Beschwerde vom 29. September 2004 beantragt X.________ sinngemäss, er sei aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Seiner ersten Eingabe liess X.________ verschiedene Beschwerdeergänzungen folgen. Am 28. Oktober 2004 erhob sein amtlicher Anwalt für ihn - als Ergänzung zu den eigenhändigen Eingaben seines Mandanten - staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und Willkür (Art. 9 BV) mit den Anträgen, den Entscheid des Obergerichts vom 24. September 2004 aufzuheben und X.________ sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
C. 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht beantragen in ihren Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen, bzw. sie soweit abzuweisen, als darauf einzutreten sei. 
In ihren Repliken halten sowohl X.________ selber als auch sein Rechtsvertreter an der Beschwerde vollumfänglich fest. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Beim angefochtenen Haftentscheid handelt es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Endentscheid, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde zulässig ist (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten, wozu er befugt ist (Art. 88 OG). Da diese und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
1.1 Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft kann, ausser der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, auch die sofortige Entlassung aus der Haft verlangt werden (BGE 115 Ia 293 E. 1a). Der entsprechende Antrag des Beschwerdeführers ist daher zulässig. 
1.2 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen die Aufrechterhaltung von Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht die Auslegung und die Anwendung des kantonalen Rechts grundsätzlich frei (BGE 117 Ia 72 E. 1; 114 Ia 281 E. 3). 
2. 
Das Obergericht hat die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer bestätigt, weil es zur Überzeugung gelangte, es bestehe neben dringendem Tatverdacht Wiederholungsgefahr. 
2.1 Nach § 80 Ziff. 2 der Luzerner Strafprozessordnung vom 3. Juni 1957 darf ein Angeschuldigter (u.a.) in Untersuchungshaft genommen werden, wenn er eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und konkrete Hinweise für die Annahme vorliegen, dass der Angeschuldigte weitere strafbare Handlungen begehen werde. Von der Anordnung von Haft ist abzusehen, wenn sich der damit verfolgte Zweck mit milderen Massnahmen, wie namentlich der Anordnung der regelmässigen persönlichen Meldung bei einer Amtsstelle, des Nichtverlassens eines bestimmten Ortes, der Leistung einer Kaution oder der Verhängung der Schriftensperre, erreichen lässt (§ 80 Ziff. 4 StPO). Ist neben dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts der besondere Haftgrund der Wiederholungsgefahr gegeben, steht der Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft auch unter dem Gesichtspunkt von Art. 10 Abs. 2 BV grundsätzlich nichts entgegen. 
2.2 Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer seine Tochter der damals obhutsberechtigten Mutter entzog und dass damit der dringende Tatverdacht jedenfalls in Bezug auf den Tatbestand des Entziehens von Unmündigen (Art. 220 StGB) gegeben ist. Ob er auch der wesentlich schwerer wiegenden, mit Zuchthaus bedrohten qualifizierten Kindsentführung (Art. 183 Ziff. 2 i.V.m. Art. 184 Abs. 4 StGB) verdächtig ist, wie Staatsanwaltschaft und Obergericht entgegen der Auffassung des Verteidigers annehmen, kann offen bleiben und dem Strafrichter überlassen werden. 
2.3 Die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr soll den Angeschuldigten daran hindern, weitere Straftaten zu begehen, dient somit in erster Linie der Spezialprävention. Sie stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die persönliche Freiheit dar, weshalb bei der Annahme, der Angeschuldigte könnte weitere Straftaten begehen, Zurückhaltung geboten ist. Eine solche Anordnung ist verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte schwerer Natur sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen. Schliesslich gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten - dass sie nur als ultima ratio angeordnet oder aufrechterhalten werden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen (wie z.B. ärztliche Betreuung, regelmässige Meldung bei einer Amtsstelle, Anordnung von anderen evtl. stationären Betreuungsmassnahmen etc.) ersetzt werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen angeordnet werden (BGE 123 I 268 E. 2c mit Hinweisen). 
2.4 Das Obergericht nimmt Wiederholungsgefahr an, weil der Beschwerdeführer vom Amtsgericht Luzern-Land am 5. Juni 2003 wegen mehrfachen Entziehens von Unmündigen gemäss Art. 220 StGB zu einer Busse von 500 Franken verurteilt wurde und damit einschlägig vorbestraft ist. Im hängigen Verfahren werde ihm vorgeworfen, wiederholt seine Tochter Y.________ der obhutsberechtigten Mutter entzogen und vorenthalten zu haben. Dies zeige eine bedenkenlose Gleichgültigkeit des Angeschuldigten gegen den in familienrechtlichen Verfahren ausgefällten Entscheid über die Regelung des Besuchsrechts und der elterlichen Obhut. Seine krankheitsbedingt uneinsichtige Haltung komme auch in seiner Auffassung zum Ausdruck, wonach er mit dem Verbringen seiner Tochter nach Marokko im Sinne des Kindswohls gehandelt habe, da diese dort bessere Chancen habe als in der Schweiz. Das psychiatrische Gutachten von Dr. A.________ diagnostiziere beim Beschwerdeführer eine paranoide Persönlichkeitsstörung, welche sich in Misstrauen und einer starken Neigung, Erlebtes zu verdrehen, in streitsüchtigem und situationsunangemessenem Beharren auf eigenen Rechten und in der Tendenz zu stark überhöhtem Selbstwertgefühl auswirke. Er sei geistig mangelhaft entwickelt und könne sich in der heutigen komplexen Gesellschaft kaum zurechtfinden. Die Einsicht in das Unrecht seiner Verfehlungen sei zwar grundsätzlich vorhanden, die Steuerungsfähigkeit sei dagegen jedenfalls bei komplizierten und abstrakten Rechtsgeschäften herabgesetzt. Sein Unvermögen, andere Meinungen und Rechtsauffassungen zu akzeptieren, komme gerade beim Streit um die Obhut des gemeinsamen Kindes zum Tragen. Im Ergebnis habe der Gutachter eine Rückfallgefahr nicht ausgeschlossen, wogegen der Beschwerdeführer keine überzeugenden Einwände vorbringe. 
2.5 Der Beschwerdeführer ist der festen Überzeugung, dass sich seine Ehefrau in ihrer Wohnung prostituiert und seine Tochter, wenn sie bei ihr wohnt, den "Geschäftsverkehr" ihrer Mutter miterleben muss. Er erachtet es deswegen als seine väterliche Pflicht, ungeachtet der gerichtlichen Regelung der Obhutsberechtigung, dafür zu sorgen, dass Y.________ nicht bei ihrer Mutter wohnt. Ob diese Überzeugung des Beschwerdeführers einen realen Hintergrund hat oder auf einer möglicherweise krankheitsbedingt verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit beruht, ist, soweit ersichtlich, nicht geklärt, in unserem Zusammenhang indessen auch nicht entscheidend. Motiv für die "Entführung" seiner Tochter war jedenfalls, wie der Beschwerdeführer immer und immer wieder betonte und was vom Obergericht nicht in Frage gestellt wird, diese den (angeblich) schädlichen Einflüssen seiner Ehefrau zu entziehen. 
2.6 Der Beschwerdeführer bzw. sein Verteidiger machen geltend, das Obergericht habe bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr ausser Acht gelassen, dass der Gemeinderat der Stadt Kriens am 16. Juli 2003 der Ehefrau des Beschwerdeführers die elterliche Obhut über die Tochter Y.________ entzogen und die Beistandsperson angewiesen habe, diese an einem Ort unterzubringen, wo es dem Beschwerdeführer nicht mehr ohne weiteres möglich sei, sie nach Belieben mitzunehmen. Ausserdem ordnete er an, dem Beschwerdeführer nur noch begleitete Besuche bei seiner Tochter zu bewilligen. 
Mit dieser Rüge, das Obergericht habe mit der Verfügung des Krienser Gemeinderates ein für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr wesentliches Beweismittel nicht berücksichtigt, erhebt der Beschwerdeführer sinngemäss eine Gehörsverweigerungsrüge. 
2.7 Mit der Fremdplatzierung von Y.________ ist diese einerseits den nach der Auffassung des Beschwerdeführers schädlichen Einflüssen ihrer Mutter weitgehend entzogen, sodass für ihn nach seiner eigenen Logik kein Grund mehr bestehen dürfte, sie sofort wieder zu sich nehmen zu müssen, um sie vor Schaden zu bewahren, und anderseits ist das Kind vor seinem allfälligen Zugriff wesentlich besser geschützt als vorher. Das Obergericht wirft ihm zwar Uneinsichtigkeit vor, weil er nach wie vor mit seiner Tochter in Marokko leben möchte, übergeht dabei aber, dass der Beschwerdeführer an der Einvernahme durch den Amtsstatthalter vom 17. August 2004 dazu ausdrücklich erklärt hat, er werde in der Schweiz bleiben, bis die offenen Fragen geklärt seien. Es erscheint auch durchaus plausibel, dass dem Beschwerdeführer damit ernst ist, musste er doch am eigenen Leib erfahren, dass Marokko kein rechtsfreier Raum ist, sondern dass er auch dort dem Zugriff der Luzerner Strafverfolgungsbehörden unterliegt. 
2.8 Die vom Gemeinderat Kriens am 16. Juli 2003 angeordnete Fremdplatzierung von Y.________ ist somit für die Beurteilung der Wiederholungsgefahr von erheblicher Bedeutung, weil sie sowohl das Motiv des Beschwerdeführers schwächt, seine Tochter zu entführen, als auch seine Möglichkeiten, dies zu tun, stark einschränkt. Das Obergericht hat daher das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt, indem es Wiederholungsgefahr bejahte, ohne sich mit der Verfügung des Gemeinderates Kriens vom 16. Juli 2003 auseinanderzusetzen. Die Rüge ist begründet. 
3. 
Der angefochtene Entscheid ist somit aufzuheben. Da nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass trotz dieser gemeinderätlichen Verfügung weiterhin Wiederholungsgefahr besteht oder ein anderer Haftgrund gegeben sein könnte, ist das Haftentlassungsgesuch abzuweisen. Es ist am Obergericht, ohne Verzug einen neuen Haftenscheid zu fällen und die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer in verfassungskonformer Weise zu bestätigen, oder ihn, allenfalls unter begleitenden Massnahmen im Sinne von § 80 Ziff. 4 StPO, aus der Haft zu entlassen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat der Kanton Luzern den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 159 OG). Damit wird sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern vom 24. September 2004 aufgehoben. 
2. 
Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen. 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
4. 
Der Kanton Luzern hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 17. November 2004 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: