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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1162/2021  
 
 
Urteil vom 17. November 2021  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Fürsprecher Bruno C. Lenz, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern. 
 
Gegenstand 
Teilkostenerlass- und Ratenzahlungsgesuch, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts 
des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 30. August 2021 (SK 21 281). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerdeführerin ersuchte die Vorinstanz am 30. Juni 2021, für die ihr mit Urteil der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 3. Juni 2016 auferlegten Verfahrenskosten von Fr. 65'078.40 monatliche Ratenzahlungen von Fr. 100.-- während 36 Monaten zu gewähren und ihr anschliessend die Restschuld zu erlassen. 
Die Vorinstanz hiess das Gesuch am 30. August 2021 teilweise gut. Für einen Betrag von Fr. 21'600.-- bewilligte sie monatliche Ratenzahlungen von Fr. 600.--. Den Restbetrag in Höhe von Fr. 43'478.40 stundete sie bis zum 31. Oktober 2024. 
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Beschwerdeführerin die Aufhebung des vorinstanzlichen Beschlusses vom 30. August 2021 und eine gebührende Herabsetzung der ihr auferlegten Ratenzahlungen (auf maximal Fr. 100.-- bis Fr. 200.-- pro Monat). Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie rügt, das betreibungsrechtliche Existenzminimum sei nicht korrekt ermittelt worden. Die vorliegende Beschwerde richte sich ausschliesslich gegen die Höhe der monatlichen Ratenzahlungen, hingegen nicht gegen die Nichtgewährung des beantragten späteren Erlasses der Restschuld. 
 
2.  
Gegen letztinstanzliche Entscheide im Rahmen von Gesuchen um Kostenerlass (Art. 425 StPO) ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig (Art. 78 ff. BGG). 
 
3.  
Forderungen aus Verfahrenskosten können von den Strafbehörden gestundet oder unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der kostenpflichtigen Person herabgesetzt oder erlassen werden (Art. 425 StPO). Das Gesetz belässt den Strafbehörden mit der "Kann-Vorschrift" ein weites Ermessen, in welches das Bundesgericht nur bei bundesrechtswidriger Ermessensausübung eingreift (Urteile 6B_610/2014 vom 28. August 2014 E. 3; 6B_955/2016 vom 12. Oktober 2016 E. 4). 
Die konkrete Ausgestaltung der Voraussetzungen von Stundung oder Erlass überlässt das Bundesrecht weitgehend der kantonalen Ausführungsgesetzgebung. Damit ist hier das Dekret des Kantons Bern vom 24. März 2010 betreffend die Verfahrenskosten der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft (Verfahrenskostendekret [VKD; BSG 161.12]) massgebend, worauf sich die Vorinstanz vorliegend im Wesentlichen stützt. Das Dekret orientiert sich an den betreibungsrechtlichen Regeln. Verfahrenskosten (und weitere finanzielle Leistungen) werden denn auch nach den Bestimmungen des SchKG eingetrieben (Art. 442 Abs. 1 StPO). 
Diese Rechtslage hat zur Folge, dass das Bundesgericht - angesichts des weiten Ermessens bei der Anwendung von Art. 425 StPO - eine Stundung oder den Erlass von Verfahrenskosten durchwegs unter Willkürgesichtspunkten prüft, und zwar nicht nur hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen, sondern auch der massgebenden Kriterien in den kantonalrechtlichen Ausführungsgesetzgebungen (vgl. Urteile 6B_239/2021 vom 26. Mai 2021 E.2; 6B_73/2019 vom 12. Februar 2019 E. 1.1; 6B_500/2016 E. 3 vom 9. Dezember 2016). 
 
4.  
Die Vorinstanz erwägt in Anwendung von Art. 10 VKD, dass die der gesuchstellenden Person auferlegten Verfahrenskosten ganz oder teilweise erlassen oder gestundet werden, sofern die Bezahlung der Kosten eine unzumutbare Härte darstelle oder Uneinbringlichkeit feststehe oder anzunehmen sei. Die Frage, ob die Bezahlung eine unzumutbare Härte darstelle, richte sich einerseits nach dem monatlichen Einkommen und andererseits nach dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum der gesuchstellenden Person. Die bei ihren Eltern lebende Beschwerdeführerin verfüge bei einem Arbeitspensum von derzeit 60% über Einkünfte von durchschnittlich netto Fr. 2'446.15 pro Monat. Ausgabenseitig seien der Beschwerdeführerin Wohnkosten von Fr. 500.-- anzurechnen. Weiter falle monatlich ein Betrag für eine Lagerraummiete von Fr. 120.-- und die Prämie für die Grundversicherung von Fr. 495.95 an. Hinzuzurechnen seien weitere Ausgaben in Höhe von insgesamt Fr. 690.-- u.a. für Kleidung, auswärtige Verpflegung, Abonnemente und Freizeit. Nach Berücksichtigung sämtlicher Ausgaben resultiere ein Einkommensüberschuss von Fr. 676.20. Die Beschwerdeführerin sei erst gut 48 Jahre alt und seit knapp einem Jahr zu 60% in einer unbefristeten Anstellung. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie zukünftig ihr Pensum erhöhe oder eine Lohnerhöhung erhalte. Entsprechend würden die monatlichen Raten auf Fr. 600.-- festgesetzt, womit ein Betrag von Fr. 21'600.-- innert der nächsten drei Jahre abbezahlt werden könne. Mit dem ihr verbleibenden monatlichen Überschuss von Fr. 76.20 könne sie sich ein Polster ansparen. Die verbleibende Forderung in Höhe von Fr. 43'478.40 werde nochmals bis Ende Oktober 2024 gestundet. Dannzumal werde die Situation aufgrund der aktuellen Verhältnisse neu zu beurteilen sein. 
 
5.  
 
5.1. Wie in der Beschwerde zu Recht vorgebracht wird, hat es die Vorinstanz unterlassen, bei der Notbedarfsrechnung den Grundbetrag zu berücksichtigen (Ziff. I.1 der SchKG-Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums, die im Kreisschreiben Nr. B1 des Obergericht des Kantons Bern enthalten sind). Die erwachsene Beschwerdeführerin lebt bei ihren Eltern. Für einen in einer Haushaltsgemeinschaft mit erwachsenen Personen lebenden alleinstehenden Schuldner setzen die anwendbaren SchKG-Richtlinien den Grundbetrag auf Fr. 1'200.-- fest, der aufgrund der durch das Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft gemachten Einsparungen angemessen, d.h. minimal um Fr. 100.-- bzw. maximal um Fr. 350.--, zu reduzieren ist (vgl. Ergänzungen und Präzisierungen zu den SchKG-Richtlinien). Entsprechend hätte die Vorinstanz bei der vorliegenden Bedarfsrechnung minimal von einem Grundbetrag von Fr. 850.-- ausgehen müssen. Zu diesem Grundbetrag hätte sie sodann nicht nur die Wohnkosten (Fr. 500.--), die Lagerraummiete (Fr. 120.--) und die Krankenkassenprämie für die Grundversicherung (Fr. 495.95) hinzurechnen müssen, sondern darüberhinaus auch die Zuschläge für die erstellten unumgänglichen Berufsauslagen wie Fahrten zum Arbeitsplatz und auswärtige Verpflegung (Ziff. II.4 der SchKG-Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums). Dies hat die Vorinstanz nicht getan. Stattdessen hat sie (neben der nicht strittigen Anrechnung der Wohnkosten, der Lagerraummiete und der Krankenkassenprämie) gestützt auf das von der Beschwerdeführerin erstellte Budget einen Pauschalbetrag in Höhe von Fr. 690.-- ermittelt, mit welchem sie offensichtlich nicht nur den Grundbetrag nach Ziff. I.1 der SchKG-Richtlinien, sondern auch Zuschläge zum Grundbetrag (z.B. für auswärtige Verpflegung) gemäss Ziff. II.4 der SchKG-Richtlinien abgelten will. Diese Vorgehensweise hat zur Folge, dass der Notbedarf falsch ermittelt und bei korrekter Berechnung das betreibungsrechtliche Existenzminimum der Beschwerdeführerin unterschritten wird, was ohne Weiteres willkürlich ist. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie unter Berücksichtigung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums über die Höhe allfälliger monatlicher Ratenzahlungen neu verfügt.  
 
5.2. Die übrigen Einwände der Beschwerdeführerin in Bezug auf die in der Bedarfsrechnung angeblich zu berücksichtigenden Steuern, Mobiliar- und Haftpflichtversicherungsprämien und Telekommunikationsauslagen sind unbegründet, soweit darauf überhaupt einzutreten ist. Steuern sind bei der Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums nach ständiger Rechtsprechung nicht zu berücksichtigen (BGE 140 III 337 E. 4.4.2). Grundsätzlich keinen Zuschlag rechtfertigen zudem die geltend gemachten Prämien für Mobiliar- und Haftpflichtversicherungen (BGE 116 III 75 E. 7a). Die blosse Behauptung, im Kanton Bern herrsche insofern eine andere Praxis, ist nicht geeignet, Willkür oder eine sonstige Bundesrechtsverletzung nachzuweisen. Entsprechendes gilt für die in der Bedarfsrechnung geltend gemachten Telekommunikationskosten (vgl. Urteil 2C_48/2017 vom 16. Juni 2017 E. 3.2.1).  
 
6.  
Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109 BGG gutzuheissen. Auf die Einholung einer Vernehmlassung der Vorinstanz kann verzichtet werden, da dies vorliegend einem Leerlauf gleichkäme (vgl. Urteil 6B_73/2019 vom 12. Februar 2019 E. 2). Der vorinstanzliche Beschluss vom 30. August 2021 ist aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Für das bundesgerichtliche Verfahren sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Der Kanton Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss ihrem Rechtsvertreter auszurichten. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern vom 30. August 2021 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Kosten auferlegt. 
 
3.  
Der Kanton Bern hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 17. November 2021 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill