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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6P.48/2005 
6S.160/2005 /pai 
 
Urteil vom 18. August 2005 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Zünd, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher 
Beat Kurt, 
 
gegen 
 
Y.________, 
Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Dr. Urs Oswald, 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Obergericht des Kantons Aargau, 
Beschwerdekammer in Strafsachen, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
6P.48/2005 
Art. 9 BV (Strafverfahren; willkürliche Beweiswürdigung) 
 
6S.160/2005 
Verdacht der Vergewaltigung und sexuelle Nötigung (Einstellungsverfügung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.48/2005) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.160/2005) gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 3. März 2005. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ erstattete am 24. Oktober 2003 Strafanzeige gegen ihren Onkel Y.________ wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs. 
B. 
Nach Abschluss der Ermittlungen beantragte das Bezirksamt Bremgarten mit Schlussbericht vom 19. November 2004 die Einstellung des Strafverfahrens wegen Verjährung. Gestützt darauf stellte die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau das Strafverfahren am 17. Dezember 2004 gegen den Beschuldigten ein. Dagegen erhob X.________ am 31. Dezember 2004 Beschwerde beim Obergericht des Kantons Aargau. Mit Entscheid vom 3. März 2005 bestätigte das Obergericht die angefochtene Einstellungsverfügung. 
C. 
Diesen Entscheid ficht X.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde an mit dem Antrag um Aufhebung des angefochtenen Urteils. Gleichzeitig führt sie Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau anzuweisen, Anklage gegen den Beschuldigten zu erheben, eventuell weitere Abklärungen vorzunehmen. 
Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme zu den Beschwerden. Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Nach Art. 270 lit. e Ziff. 2 BStP sind Opfer, die eine Verletzung von Rechten geltend machen, die ihnen das Opferhilfegesetz (OHG) einräumt, ohne weiteres zur Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert. Es wird nicht vorausgesetzt, dass sich der angefochtene Entscheid auf die Zivilansprüche auswirken kann (BGE 129 IV 179 E. 1.2 S. 182; 122 IV 79 E. 1a S. 81). Die Beschwerdeführerin ist daher befugt, mit Nichtigkeitsbeschwerde eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG zu rügen. 
 
Soweit Opfer jedoch keine Verletzung von Rechten gemäss Opferhilfegesetz rügen, ist die Nichtigkeitsbeschwerde nur zulässig, wenn sie sich vorher am Verfahren beteiligt haben und der Entscheid ihre Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann (Art. 270 lit. e Ziff. 1 BStP). Die gleiche Regelung gilt für die Ergreifung der staatsrechtlichen Beschwerde (BGE 120 Ia 101 E. 2b-e; 120 Ia 157 E. 2c S. 161 f.). Nach der Rechtsprechung ist freilich nicht erforderlich, dass bei der Anfechtung von Einstellungsbeschlüssen das Opfer Zivilforderungen bereits adhäsionsweise geltend gemacht hat. Es genügt, wenn das Opfer darlegt, dass sich der angefochtene Entscheid auf seine Zivilansprüche auswirken kann. Schliesslich ist auf eine Nichtigkeitsbeschwerde selbst bei Fehlen solcher Ausführungen einzutreten, sofern aus den Umständen unzweifelhaft hervorgeht, welche Zivilansprüche dem Opfer zustehen und dass sich der angefochtene Entscheid darauf negativ auswirken kann (BGE 127 IV 185 E. 1a S. 187). Da vorliegend die zuletzt genannte Voraussetzung erfüllt ist, kommt der Beschwerdeführerin die Legitimation zu den beiden erhobenen Rechtsmitteln auch zu, soweit sie keine Verletzung von Rechten nach dem Opferhilfegesetz rügt. 
2. 
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und beanstandet die Beweiswürdigung des Obergerichts als willkürlich. Das Verfahren hätte nicht einfach mit der Begründung eingestellt werden dürfen, dass ihre Angaben hinsichtlich der sexuellen Übergriffe des Beschwerdegegners im Zeitpunkt nach 1983 zu vage seien. Denn vage heisse nicht unwahr und auch nicht falsch, sondern indiziere vielmehr einen zusätzlichen Abklärungsbedarf. Unter diesen Umständen hätte zwingend eine ergänzende Befragung ihrerseits angeordnet werden müssen. Dies gelte umso mehr, als sie sich nur einmal zu den fraglichen Vorfällen habe äussern können. 
2.1 Der in Art. 29 Abs. 2 BV statuierte Anspruch auf rechtliches Gehör dient der Sachaufklärung und garantiert dem Betroffenen ein Recht auf Mitwirkung und Einflussnahme im Verfahren. Er soll sich vor Erlass des Entscheids zur Sache äussern können, erhebliche Beweise beibringen, Einsicht in die Akten nehmen und an der Erhebung von Beweisen mitwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis äussern können, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 129 II 497 E. 2.2; 127 I 54 E. 2b; 122 I 53 E. 4a, mit Hinweisen). 
 
Den Akten und dem angefochtenen Entscheid ist zu entnehmen, dass die Strafanzeige der Beschwerdeführerin an die Hand genommen und entsprechende Untersuchungshandlungen in die Wege geleitet bzw. vorgenommen wurden. Es ergibt sich daraus weiter, dass die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Einvernahme durch die Kantonspolizei Bern vom 25. November 2003 gestützt auf Art. 208 Abs. 2 des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 15. März 1995 [BSG 321.1] von ihrem Recht Gebrauch machte, die Aussagen bei der Polizei zu verweigern. Sie behielt sich vor, nur vor dem urteilenden Richter auszusagen. Aus dem gleichen Grund leistete sie auch den Vorladungen des Bezirksamts Bremgarten vom 11. bzw. 18. Dezember 2003, sich mündlich oder schriftlich als Geschädigte befragen zu lassen, keine Folge. Am 16. Februar 2004 liess sich die Beschwerdeführerin denn doch durch die Kantonspolizei Aargau vernehmen, wobei sie im Verlaufe ihrer Befragung angewiesen wurde, "detailliertere" bzw. "konkretere" Angaben zu machen. Ferner ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin in ihren Eingaben an das Bezirksamt Bremgarten von ihrem Äusserungsrecht Gebrauch machte, dass ihre Äusserungen zur Kenntnis genommen und ihre Beweismittel zu den behaupteten Vorfällen vor dem Jahre 1983 zu den Akten genommen wurden. Auch wurde die zweite polizeiliche Befragung des Beschwerdegegners im Beisein des Anwalts der Beschwerdeführerin durchgeführt. Aus den Akten ergibt sich weiter, dass der Beschwerdeführerin umfassende Akteneinsicht gewährt wurde und sie vor der Einstellung des Verfahrens Gelegenheit erhielt, sich zum Untersuchungsergebnis zu äussern und Ergänzungsanträge zu stellen. Dabei fällt auf, dass sie nie einen Beweisantrag um ergänzende persönliche Befragung gestellt hat. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, inwiefern das Obergericht den Gehörsanspruch der Beschwerdeführerin verletzt haben soll. Die Rüge erweist sich insoweit als nicht stichhaltig. 
2.2 Willkür liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt es nicht, wenn sich der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 129 I 8 E. 2.1; 127 I 38 E. 2a; 124 IV 86 E. 2a, je mit Hinweisen). 
 
Das Obergericht hat nicht nur die Aussagen der Beschwerdeführerin, sondern auch jene des Beschwerdegegners und von dessen Lebenspartnerin einer sorgfältigen Würdigung unterzogen. Dabei hat es erwogen, dass sich die Beschuldigungen der Beschwerdeführerin mindestens für die Zeit nach ihrer Heirat im Jahre 1983 als äusserst vage erwiesen. Für die in dieser Zeit angeblich vorgefallenen Straftaten habe die Beschwerdeführerin denn auch nie irgendwelche Beweismittel genannt. In Anbetracht der Tatsache, dass ihre Angaben vom Beschwerdegegner bestritten würden und dessen Aussagen von seiner Lebensgefährtin bestätigt würden, seien die Behauptungen der Beschwerdeführerin nicht geeignet, ein strafrechtlich relevantes Verhalten des Beschwerdegegners nachzuweisen. In seine Würdigung mit einbezogen hat das Obergericht dabei auch, dass sich die befragten Familienangehörigen der Beschwerdeführerin ausschliesslich zu den Ereignissen vor 1983, nicht aber zu den angeblich strafbaren Handlungen nach 1983 äusserten. Vor diesem Hintergrund durfte das Obergericht davon ausgehen, dass sich die dem Beschwerdegegner vorgeworfenen strafbaren Handlungen nach 1983 nicht nachweisen liessen, diejenigen vor 1983 aber verjährt seien. Die Folgerung des Gerichts, dass eine Verurteilung des Beschwerdegegners mithin höchst unwahrscheinlich sei, weshalb eine Anklageerhebung sinnlos erscheine, ist daher nicht willkürlich. 
2.3 Soweit die Beschwerdeführerin ihre Rechte auf persönliche Freiheit sowie auf geistige und körperliche Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV) als verletzt rügt, legt sie nicht dar und ist auch nicht ersichtlich, inwiefern diese Rechte ihr vorliegend einen über den Gehörsanspruch und das Willkürverbot hinausgehenden Schutz gewähren sollen. Auf die Beschwerde ist in diesem Umfang daher nicht einzutreten (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG). 
3. 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist kassatorischer Natur. Sie kann also im Falle ihrer Gutheissung nur zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen (Art. 277ter Abs. 1 BStP). Soweit die Beschwerdeführerin mehr als die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt, ist auf ihr Rechtsmittel deshalb nicht einzutreten. 
4. 
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 71 Abs. 2 aStGB. Der Beschwerdegegner habe sie sowohl vor als auch nach 1983 sowie bis in die jüngste Zeit sexuell belästigt und zu vergewaltigen versucht. Aufgrund dieser wiederholten Vergewaltigungsversuche sei von einer verjährungsrechtlichen Einheit auszugehen, zumal gleichartige Delikte vorlägen, die sich gegen das gleiche Rechtsgut richteten und auf einem andauernden pflichtwidrigen Verhalten des Beschwerdegegners beruhten. Indem die Vorinstanz die Frage nach dem Vorliegen einer verjährungsrechtlichen Einheit nicht geprüft habe, verletze sie Bundesrecht. 
 
 
Mit dieser Argumentation weicht die Beschwerdeführerin vom verbindlich festgestellten Sachverhalt ab. Wie bereits dargelegt wurde, durfte die Vorinstanz ohne Willkür davon ausgehen, dass nach 1983 keine sexuellen Übergriffe stattfanden (vgl. E.2.2). Unter diesen Umständen fällt eine verjährungsrechtliche Einheit von vornherein ausser Betracht. Auf die Beschwerde ist daher in diesem Punkt nicht einzutreten. Die Rechtsfigur der verjährungsrechtlichen Einheit hat das Bundesgericht im Übrigen aufgegeben (BGE 131 IV 83 E. 2), so dass ohnehin jede Handlung gesondert zu beurteilen wäre. 
5. 
Die Beschwerdeführerin rügt sodann eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG. Die Vorinstanz habe keinen auf einer soliden materiellen Grundlage beruhenden Entscheid gefällt. Indem sie sich mit einer unvollständigen Sachverhaltsabklärung begnügt und keine Untersuchung lege artis vorgenommen bzw. angeordnet habe, sei der Anspruch der Beschwerdeführerin auf einen gerichtlichen Entscheid nach OHG verletzt. 
5.1 Das Opfer hat nach Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG das Recht, einen Gerichtsentscheid zu verlangen, wenn das Verfahren nicht eingeleitet oder eingestellt wird. Damit wird ihm die Möglichkeit eingeräumt, einen Nichtanhandnahmeentscheid oder eine Einstellungsverfügung der Untersuchungsbehörde oder der Staatsanwaltschaft gerichtlich überprüfen zu lassen. Gegenstand der gerichtlichen Beurteilung ist dabei die Frage, ob die formell- und materiellrechtlichen Voraussetzungen der Nichtanhandnahme oder der Einstellung gegeben sind. Einen weiteren Anspruch gibt Art. 8 Abs. 1 lit. b OHG nicht (vgl. Eva Weishaupt, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Opferhilfegesetzes (OHG), Diss. Zürich 1998, S. 267 ff., 271). 
5.2 Die Beschwerdeführerin hat die durch die Staatsanwaltschaft verfügte Verfahrenseinstellung bei der Vorinstanz angefochten. Diese hat den fraglichen Entscheid in der Folge auf seine Rechtmässigkeit hin überprüft. Damit hat eine gerichtliche Instanz über die Einstellung des vorliegenden Strafverfahrens entschieden. Es ist insoweit nicht ersichtlich, weshalb bzw. inwieweit das in Art. 8 Abs. 1 lit. b OG statuierte Recht auf gerichtliche Beurteilung der Verfahrenseinstellung verletzt sein sollte. Die Beschwerdeführerin übersieht bei ihrer Kritik, dass die genannte Bestimmung keinen Anspruch auf bestimmte Untersuchungsmassnahmen durch die Strafverfolgungsbehörden oder das Gericht selbst gibt. Ob die Einstellung mit dem Bundesrecht bzw. der verfassungsmässigen Rechte im Einklang steht, ist bereits geprüft worden. 
6. 
Die staatsrechtliche Beschwerde und die Nichtigkeitsbeschwerde sind demnach abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Kosten (Art. 278 Abs. 1 BStP). Da die Beschwerden von vornherein aussichtslos erschienen (Art. 152 Abs. 1 OG; vgl. BGE 124 I 304 E. 2 mit Hinweisen), ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen. Den finanziellen Verhältnissen der Beschwerdeführerin ist bei der Festsetzung der Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
3. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
4. 
Die Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 1'600.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 18. August 2005 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: