Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_177/2022
Urteil vom 18. August 2022
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
nebenamtliche Bundesrichterin Truttmann,
Gerichtsschreiber Traub.
Verfahrensbeteiligte
Moove Sympany AG,
Peter Merian-Weg 4, 4052 Basel,
Beschwerdeführerin,
gegen
B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Ritter,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Krankenversicherung (Taggeld),
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungs-
gerichts des Kantons Aargau vom 23. Februar 2022 (VBE.2021.356).
Sachverhalt:
A.
A.________ (geb. 26. Januar 1962) war als Polier beim Baugeschäft B.________ angestellt und über seinen Arbeitgeber bei der Moove Sympany AG krankentaggeldversichert. Ab dem 30. März 2020 war er arbeitsunfähig gemeldet. Die Moove Sympany AG leistete Krankentaggelder und holte ein psychiatrisches Gutachten ein. Der Sachverständige Dr. C.________ diagnostizierte eine "gegenwärtig formal leichtgradig depressive Episode". Er hielt den Versicherten in seiner angestammten Tätigkeit als Polier zu 20 % eingeschränkt, in einer leidensangepassten Tätigkeit zu 10 %. Aufgrund eines erheblichen Konflikts am Arbeitsplatz sei aber von einer Rückkehr dahin abzuraten, da sich die ängstlich-depressive Symptomatik akzentuieren könnte (Expertise vom 12. Mai 2020; Ergänzungen vom 11. Oktober 2020 und 16. April 2021). Die Moove Sympany AG teilte A.________ am 8. Juni 2020 mit, sie werde die Taggeldleistung auf Ende Juli 2020 einstellen. Nach weiteren Abklärungen verfügte sie am 16. Dezember 2020 so.
A.________ erhob Einsprache. Die Moove Sympany AG hiess das Rechtsmittel teilweise gut und sprach A.________ zusätzlich für die Zeit einer stationären Behandlung vom 2. Dezember 2020 bis 12. Januar 2021 Taggelder auf Grundlage einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % zu, für die Zeit vom 13. bis 31. Januar 2021 auf Grundlage einer Arbeitsunfähigkeit von 30 % (Entscheid vom 17. Juni 2021).
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde gut. A.________ habe über den 31. Juli 2020 hinaus Anspruch auf Krankentaggelder auf der Grundlage einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit (Urteil vom 23. Februar 2022).
C.
Die Moove Sympany AG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und der Einspracheentscheid zu bestätigen.
A.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdegegner stellt Sachurteilsvoraussetzungen, namentlich die Einhaltung der Beschwerdefrist, infrage. Auf die Beschwerde könne nicht eingetreten werden, weil die Beschwerdeführerin nicht näher darlege, dass die Eintretensvoraussetzungen erfüllt seien.
Dieses Vorbringen ist unbegründet; das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die weiteren Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen (Art. 29 Abs. 1 BGG) und mit freier Kognition (vgl. BGE 146 V 331 E. 1; 146 II 276 E. 1). Sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen sind gegeben.
2.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Indessen sind tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein können, der bundesgerichtlichen Überprüfung - auf qualifizierte Rüge hin (Art. 106 Abs. 2 BGG) oder auch von Amtes wegen - zugänglich, wenn sie offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 BGG und Art. 105 Abs. 2 BGG). Die Rechtsanwendung erfolgt von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG).
3.
Streitig ist, ob (abgesehen vom Leistungszeitraum 2. Dezember 2020 bis 31. Januar 2021 [vgl. Einspracheentscheid vom 17. Juni 2021]) über den 31. Juli 2020 hinaus ein Taggeldanspruch besteht (vgl. Art. 72 KVG in Verbindung mit Art. 6 ATSG sowie Ziff. 8.1.4 und 8.2 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen [AVB], Lohnausfallversicherung [KVG], Ausgabe 2011).
4.
4.1. Im vorinstanzlichen Verfahren rügte der Beschwerdegegner unter anderem, die Beschwerdeführerin habe die vom Gutachter formulierte ungünstige Prognose über die Realisierbarkeit seines Leistungsvermögens nicht berücksichtigt.
Die Vorinstanz erwägt, der psychiatrische Gutachter - auf dessen Erkenntnisse abzustellen sei - habe angesichts eines Arbeitsplatzkonflikts und der Kündigung des Arbeitsverhältnisses von einer Rückkehr an die bisherige Stelle implizit abgeraten, indem er auf das Risiko hingewiesen habe, dass sich die bestehende ängstlich-depressive Symptomatik diesfalls verstärken könne. Er erachte den Beschwerdegegner in der bisherigen Tätigkeit als (grundsätzlich) arbeitsfähig, nicht aber am bisherigen Arbeitsplatz. Wenn die bisherige Tätigkeit nur unter der Gefahr einer Verschlimmerung des Gesundheitszustandes ausgeübt werden könne, liege insofern Arbeitsunfähigkeit vor. Eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit schliesse den Anspruch auf Taggelder nicht aus, sofern die Einschränkung krankheitsbedingt sei. Taggelder entschädigten eine vorübergehende Unfähigkeit, die angestammte Tätigkeit auszuüben. Diese Überbrückungsfunktion entfalle, sobald feststehe, dass eine Rückkehr in die bisherige Arbeit nicht mehr möglich sein werde. Nun beurteile sich die Arbeitsunfähigkeit bezogen auf alle zumutbaren Beschäftigungen. Stehe fest, dass der Versicherte seiner Schadenminderungspflicht mit einem Berufs- oder Stellenwechsel zu entsprechen habe, müsse ihn der Versicherer dazu auffordern und ihm eine angemessene Übergangsfrist von in der Regel drei bis fünf Monaten einräumen, während der das bisherige Krankentaggeld geschuldet bleibe. Der Beschwerdegegner sei nie zu einem Stellenwechsel aufgefordert worden. Er habe Ende März 2020 - zeitgleich mit Eintritt der Arbeitsunfähigkeit - die Kündigung erhalten; die folgende arbeitsrechtliche Auseinandersetzung sei erst mit einem im April 2021 geschlossenen Vergleich beigelegt worden, wonach das Arbeitsverhältnis rückwirkend auf Ende Januar 2021 aufzulösen sei. Somit habe erst im Frühjahr 2021 festgestanden, dass sich der Beschwerdegegner beruflich umzuorientieren hatte.
Eine berufliche Umstellung könne verlangt werden, wenn sie unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktsituation und der persönlichen Verhältnisse (verbliebene Leistungsfähigkeit, Alter, berufliche Stellung, familiäre Situation etc.) im Einzelfall zumutbar sei. Die Zumutbarkeitsfrage dürfe nicht allein mit Blick auf einen medizinisch-theoretisch angezeigten Berufswechsel beurteilt werden, wenn dieser in der Praxis nicht realisierbar sei. Das Gericht müsse sich vielmehr fragen, welche reellen Chancen der Versicherte namentlich angesichts seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung und seines Alters im Arbeitsmarkt noch habe. Der 1962 geborene Beschwerdegegner sei im Frühjahr 2021 bereits über 59 Jahre alt gewesen. Er plane, mit 60 Jahren in Pension zu gehen. Dies sei im Baugewerbe üblich (gesamtarbeitsvertraglich institutionalisierter flexibler Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe, FAR). Zudem habe er angegeben, "die Digitalisierung nicht mitgemacht zu haben" und mit entsprechenden Gerätschaften nicht zurecht zu kommen. Die Umstände liessen insgesamt nicht annehmen, dass er im konkreten Arbeitsmarkt noch die Möglichkeit habe, eine neue Stelle anzutreten. Die Einstellung der Krankentaggeldleistungen per 31. Juli 2020 verstosse daher gegen Bundesrecht.
4.2. Die beschwerdeführende Krankentaggeldversicherung rügt die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts als teilweise willkürlich. Die Annahme, wonach sie den Beschwerdegegner nicht zu einem Wechsel der Arbeitsstelle aufgefordert habe, sei aktenwidrig. Am 8. Juni 2020 habe sie ihn über die Ergebnisse des Gutachtens informiert und auf seine Schadenminderungspflicht hingewiesen; er müsse sich eine neue Stelle suchen resp. sich bei der Arbeitslosenversicherung anmelden. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz habe aus Sicht beider Parteien schon vor der vereinbarten Auflösung des Arbeitsverhältnisses festgestanden, dass der Beschwerdegegner nicht mehr an die bisherige Stelle zurückkehren werde. Er sei folglich schon vor dem 31. Januar 2021 faktisch arbeitslos gewesen und habe gewusst, dass er sich nach einer neuen Stelle umsehen müsse. Anders als die Vorinstanz meine, gehe es im Übrigen nicht um eine berufliche Umorientierung; in seiner angestammten Tätigkeit als Polier wäre der Beschwerdegegner - bei einem anderen Arbeitgeber - (weitgehend) arbeitsfähig.
Die Beschwerdeführerin fährt fort, die vorinstanzlichen Ausführungen über die Verwertbarkeit der attestierten Arbeitsfähigkeit seien gegenstandslos. Die Zumutbarkeit eines Berufswechsels stehe nicht zur Diskussion; medizinisch indiziert sei nur ein Wechsel der Stelle im gleichen Beruf zu einem anderen Arbeitgeber. Deswegen müsse auch keine Anpassungsfrist angesetzt werden. Entgegen der Vorinstanz sei ein Stellenwechsel keineswegs unzumutbar. Im Übrigen gehe das Risiko einer schweren Vermittelbarkeit nicht zulasten des Krankentaggeldversicherers.
4.3. Der Beschwerdegegner hält dagegen, die Beschwerdeführerin habe ihn unzutreffenderweise stets als generell, also auch an der bisherigen Stelle, arbeitsfähig betrachtet. Sie habe ihn denn auch nie angewiesen, sich eine andere Stelle zu suchen. Die bisherige Stelle hätte er ohnehin erst verlassen können, nachdem er im April 2021 mit seiner damaligen Arbeitgeberin vereinbart habe, das Arbeitsverhältnis rückwirkend auf Ende Januar 2021 zu beenden. Die Vorinstanz habe richtig erkannt, dass er - angesichts seines Jahrgangs (1962) und des mit Erreichen des 60. Altersjahrs (im Januar 2022) bevorstehenden flexiblen Altersrücktritts - nicht in der Lage gewesen wäre, eine andere Stelle anzunehmen, geschweige denn eine Umschulung zu beginnen.
5.
Soweit der Beschwerdegegner überdies geltend macht, auf die Schlussfolgerungen des psychiatrischen Sachverständigen könne punkto Diagnose (Schweregrad der Depression) und Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit nicht abgestellt werden, weicht er von gegenteiligen Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil ab, ohne die vorinstanzliche Beweiswürdigung - an deren Ergebnisse das Bundesgericht grundsätzlich gebunden ist - als willkürlich auszuweisen. Darauf kann nicht eingetreten werden (Art. 105 Abs. 1 und 2, Art. 106 Abs. 2 sowie Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ; BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 143 V 19 E. 2.2).
6.
6.1. Für den Begriff der Arbeitsunfähigkeit verweist Art. 72 KVG auf die Legaldefinition gemäss Art. 6 ATSG (vgl. auch AVB Ziff. 8.1.4). Nach der Rechtsprechung zu dieser Bestimmung ist nicht nur arbeitsunfähig, wer die bisherige Tätigkeit gesundheitsbedingt nicht mehr oder nur noch beschränkt ausüben kann, sondern auch, wer diese Arbeit nur unter der Gefahr, seinen Gesundheitszustand zu verschlimmern, weiter verrichten kann (Urteile 8C_407/2020 vom 3. März 2021 E. 6.1 a.E.; 9C_127/2008 vom 11. August 2008 E. 3.3 mit Hinweis auf BGE 130 V 343 E. 3.1). In diesem Sinn ist vorliegend, gestützt auf die gutachterlichen Ausführungen (oben E. 4.1), von einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit auszugehen; "arbeitsplatzbezogen" ist hier wörtlich, mit Bezug auf die konkrete Arbeitsstelle, zu verstehen (anders etwa BGE 146 II 89 E. 4.4, wo der Begriff synonym mit "bisherige Tätigkeit" im Sinn von Beruf - als Gegenstück zu "anderer Beruf" - verwendet wird). Ein
Berufswechsel steht, entgegen der vorinstanzlichen Ausdrucksweise, nicht zur Diskussion. Zu prüfen ist nur, ob - und gegebenenfalls zu welchem Zeitpunkt - es dem Beschwerdegegner zuzumuten war, seine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit zu neutralisieren, indem er die bisherige Tätigkeit als Polier bei einem anderen Arbeitgeber fortführt.
6.2. Die Vorinstanz hält fest, der Zeitpunkt, zum welchem diese schadenmindernde Vorkehr allenfalls verlangt werden könne, habe erst bei Abschluss des arbeitsrechtlichen Vergleichs festgestanden. Der Beschwerdegegner vertritt seinerseits die Auffassung, er sei bis im April 2021, als er mit seiner damaligen Arbeitgeberin vereinbart habe, das Arbeitsverhältnis rückwirkend auf Ende Januar 2021 zu beenden, an seine bisherige Stelle gebunden gewesen. Die Beschwerdeführerin macht hingegen geltend, der Beschwerdegegner sei schon vor dem 31. Januar 2021 faktisch arbeitslos gewesen und habe gewusst, dass er sich nach einer neuen Stelle umsehen müsse.
6.3. Nachdem der Beschwerdegegner ab dem 30. März 2020 arbeitsunfähig geschrieben war, hat ihn die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 8. Juni 2020 aufgefordert, seiner "Schadenminderungspflicht nachzukommen und den Stellenwechsel vorzunehmen oder sich bei der Arbeitslosenversicherung anzumelden". Im Interesse der Schadenminderung (vgl. BGE 141 V 642 E. 4.3.2) sind bei einer langdauernden Arbeitsunfähigkeit auch zumutbare Tätigkeiten in einem anderen Beruf zu betrachten (Art. 6 zweiter Satz ATSG); gemäss den AVB der Beschwerdeführerin ist ab sechs Monaten von einer langen Dauer auszugehen (Ziff. 8.1.4). Im Allgemeinen werden andere Tätigkeiten relevant, sobald Natur und Verlauf der gesundheitlichen Beeinträchtigung deutlich machen, dass eine Rückkehr in die bisherige Tätigkeit nicht mehr möglich sein wird (vgl. Urteile 9C_74/2007 vom 19. Oktober 2007 E. 3.2 und K 224/05 vom 29. März 2007 E. 3.2). Die Regel, dass bei langer Dauer der Arbeitsunfähigkeit auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf berücksichtigt wird, ist bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit freilich sinngemäss zu verstehen, das heisst bloss mit Bezug auf einen anderen Arbeitsplatz (statt auf einen anderen Beruf). Hat der Taggeldversicherer die versicherte Person schriftlich zum schadenmindernden Tätigkeitswechsel aufgefordert (BGE 133 III 527 E. 3.2.1; AVB Ziff. 9.2), beginnt eine Frist, während der sich die versicherte Person den veränderten Verhältnissen anpassen, das heisst eine geeignete Stelle suchen kann. Diese Anpassungsfrist ist ermessensweise festzusetzen, in der Regel auf drei bis fünf Monate (BGE 141 V 625 E. 4.1; Urteile 8C_489/2021 vom 8. Februar 2022 E. 5 und 4A_384/2019 vom 9. Dezember 2019 E. 5.3; Urteil K 224/05 E. 3.3). Erst anschliessend ist ein entsprechendes Einkommen anzurechnen.
Ein blosser Stellenwechsel wird wohl regelmässig weniger Zeit beanspruchen als ein Berufswechsel. Dennoch wäre eine Frist von knapp zwei Monaten auch hier zu kurz gewesen. Jedenfalls durfte die Beschwerdeführerin die Taggeldleistung nicht schon am 31. Juli 2020 einstellen, nachdem sie die Schadenminderung im Juni 2020 angemahnt hatte. Insoweit dauerte der Taggeldanspruch an sich fort, bis die aufgrund der konkreten Umstände zu bemessende Anpassungsfrist im Verlauf des Herbstes 2020 abgelaufen wäre.
6.4. Die schadenmindernde Vorkehr muss realisierbar sein. Diese Frage beurteilt sich grundsätzlich nach den Verhältnissen bei Ablauf der allfälligen Anpassungsfrist; eine solche anzusetzen erübrigt sich freilich, wenn vorauszusehen ist, dass das bestehende Leistungsvermögen zum massgebenden Zeitpunkt nicht verwertbar sein wird.
Der Beschwerdegegner war im Herbst 2020 fast 59 Jahre alt. In der Baubranche ist ein Altersrücktritt mit 60 Jahren unter bestimmten Voraussetzungen gewährleistet (Gesamtarbeitsvertrag für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe [GAV FAR], ab 1. April 2019 gültige Fassung; Bundesratsbeschluss über die Allgemeinverbindlicherklärung des GAV FAR, Fassung vom 29. Januar 2019; zu den Voraussetzungen der FAR-Überbrückungsrente vgl. Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 2 und Art. 14 des GAV; zur Koordination von Taggeldleistungen und Überbrückungsrente vgl. Art. 18 des Reglements FAR, gültig ab 1. April 2019). Die Vorinstanz geht in ihren Erwägungen - für das Bundesgericht verbindlich (oben E. 2) - von einer Anfang 2022 bevorstehenden Frühpensionierung aus. Nach Ablauf einer hypothetischen angemessenen Anpassungsfrist (oben E. 6.3) im Herbst 2020 wäre bis zur vorzeitigen Pensionierung (Ende Januar 2022) eine Beschäftigungsdauer von weniger als anderthalb Jahren verblieben. Die Frage, ob die gutachterlich attestierte erwerbliche Leistungsfähigkeit des Beschwerdegegners unter diesen Umständen noch verwertbar war, ist anhand der tatsächlichen arbeitsmarktlichen Verhältnisse zu beurteilen und nicht nach dem Massstab eines fiktiven ausgeglichenen Arbeitsmarkts im Sinn von Art. 7 Abs. 1 ATSG. Die im Geltungsbereich dieser Bestimmung entwickelte Kasuistik zur Frage der Verwertbarkeit einer Erwerbsfähigkeit im vorgerückten Alter (BGE 145 V 2 E. 5.3.1; Urteil 9C_847/2015 vom 30. Dezember 2015 E. 4 mit Hinweisen) ist daher nicht unmittelbar einschlägig.
Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, wenn sie annimmt, der Beschwerdegegner habe altersbedingt und mit Blick auf die bevorstehende Frühpensionierung keine realistische Chance mehr gehabt, eine Stelle als Polier zu finden. Dies zumal er jedenfalls noch im Winter 2020/21 gesundheitlich angeschlagen war (vgl. Austrittsbericht der Klinik D.________ vom 12. Januar 2021) und somit auch eine temporäre Beschäftigung kaum mehr infrage kam. Soweit die Vorinstanz diese Schlussfolgerung mit dem konkreten örtlichen Arbeitsmarkt begründet, werden die zugrundeliegenden Feststellungen nicht als willkürlich gerügt (vgl. E. 4.2).
Die Beschwerdeführerin wendet schliesslich ein, die schwierige Vermittelbarkeit eines Versicherten begründe keinen Anspruch auf das versicherte Krankentaggeld; sie sei bei der Ermittlung des zumutbaren Verdienstes zu berücksichtigen (BGE 129 V 460 E. 4.3). Diese Rechtsprechung ist in der vorliegenden Konstellation nicht einschlägig: Eine (schwierige) Vermittelbarkeit setzt voraus, dass der Berufs- resp. Stellenwechsel grundsätzlich realisierbar ist. Davon war nach dem Gesagten aber nicht mehr auszugehen.
6.5. Mithin hat die Vorinstanz zu Recht geschlossen, dass der Beschwerdegegner seine im Fall eines Stellenwechsels weitgehend intakte erwerbliche Leistungsfähigkeit nicht mehr verwerten konnte. In dieser Situation ist die auf dem Risiko einer gesundheitlichen Verschlechterung beruhende (oben E. 6.1) arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit weiterhin relevant. Die anhaltende Arbeitsunfähigkeit bleibt im Rahmen der gesetzlichen und reglementarischen Anspruchsvorgaben leistungsbegründend, dies über den Zeitpunkt hinaus, zu dem eine (bei fehlender Verwertbarkeit letztlich gegenstandslose) Anpassungsfrist geendet hätte.
7.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie bezahlt dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung ( Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdegegners für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2400.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, 3. Kammer, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 18. August 2022
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Der Gerichtsschreiber: Traub