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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_358/2010 
 
Urteil vom 18. November 2010 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Raselli, Eusebio, 
Gerichtsschreiberin Gerber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt 
Markus Peyer, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 
8026 Zürich. 
 
Gegenstand 
Untersuchungshaft, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 1. Oktober 2010 des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter. 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich ermittelt gegen X.________ wegen versuchter Tötung. Sie verdächtigt ihn, am 20. Mai 2010 um ca. 22.50 Uhr anlässlich einer Auseinandersetzung den Geschädigten Y.________ durch zwei Messerstiche lebensgefährlich verletzt zu haben. X.________ ist insoweit geständig, macht aber geltend, er habe in Notwehr gehandelt, weil der Geschädigte ihn mit einem Baseballschläger habe verletzen wollen. 
 
B. 
X.________ befindet sich seit dem 22. Mai 2010 in Untersuchungshaft. Am 22. September 2010 ersuchte er um Haftentlassung. Mit Verfügung vom 1. Oktober 2010 wies der Haftrichter am Bezirksgericht Zürich das Gesuch ab; somit dauere die Untersuchungshaft gemäss Verfügung des Haftrichters vom 20. August 2010 einstweilen fort bis zum 22. November 2010. Der Haftrichter ging davon aus, es bestehe weiterhin Kollusionsgefahr. 
 
C. 
Dagegen hat X.________ am 3. November 2010 Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht erhoben. Er beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und er sei sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen. 
Die Staatsanwaltschaft und der Haftrichter haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
D. 
Mit Eingabe vom 8. November 2010 ersuchte der Beschwerdeführer um die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Da alle Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen, ist auf die Beschwerde in Strafsachen einzutreten. 
 
2. 
Voraussetzung für die Anordnung von Untersuchungshaft ist nach zürcherischem Strafprozessrecht, dass der Angeschuldigte eines Vergehens oder Verbrechens dringend verdächtigt wird und zudem ein besonderer Haftgrund vorliegt, namentlich Kollusions-, Flucht-, oder Wiederholungsgefahr (§ 58 Abs. 1 StPO/ZH). Die Untersuchungshaft ist aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr bestehen. Sie darf nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (§ 58 Abs. 3 StPO/ZH). Sie ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO/ZH). 
 
3. 
Im vorliegenden Fall ist streitig, ob Kollusionsgefahr vorliegt. 
Kollusion bedeutet insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dass er Spuren und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbraucht, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. 
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes genügt indessen die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung der Haft oder die Nichtgewährung von Urlauben unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4c S. 261). Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des Angeschuldigten im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner Stellung und seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen (vgl. BGE 132 I 21 E. 3.2.1; 123 I 31 E. 3c S. 35; 117 Ia 257 E. 4b S. 261; je mit Hinweisen). Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 132 I 21 E. 3.2.2 S. 24 mit Hinweisen). 
 
4. 
Im vorliegenden Fall bejahte der Haftrichter Kollusionsgefahr mit folgender Begründung: Der gesamte Tathergang werde seitens der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft äusserst kontrovers dargestellt; streitig sei insbesondere, ob sich der Angeschuldigte in Bezug auf seinen Messereinsatz auf Notwehr berufen könne. Es bestehe eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass der Geschädigte und allenfalls auch Zeugen nochmals vor Gericht einvernommen werden müssten oder seitens der Verteidigung nach Anklageerhebung ensprechende Anträge gestellt würden. Zudem bestehe die Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft selber - im Hinblick auf die Klärung des Tathergangs - noch weitere Befragungen von Zeugen und Auskunftspersonen in Aussicht nehme oder allenfalls bisher befragte Zeugen nochmals befrage. Da sich der Angeschuldigte und der Geschädigte kennen, bestehe die Gefahr, dass der Angeschuldigte - auf freien Fuss gesetzt - den Geschädigten zur Rücknahme seiner Belastungen veranlassen könnte. 
Die Staatsanwaltschaft wies in ihrem Antrag vom 28. September 2010 auf Abweisung des Haftentlassungsgesuchs ebenfalls auf die Möglichkeit hin, dass der Geschädigte und Zeugen in der Hauptverhandlung nochmals befragt werden könnten. Weitere Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft wurden nicht erwähnt. 
 
5. 
Der Beschwerdeführer macht dagegen geltend, der Geschädigte und alle ermittelten Personen, die den Vorfall vom 20. Mai 2010 beobachtet hätten, seien als Zeugen - unter Hinweis auf Art. 307 StGB - untersuchungsrichterlich befragt worden. Die Staatsanwaltschaft habe der Verteidigung nach der letzten Zeugenbefragung am 22. September 2010 mitgeteilt, dass die Befragungen durch die Untersuchungsbehörden abgeschlossen seien. Auch der Beschwerdeführer habe keine weiteren Einvernahmen beantragt. Für den Abschluss der Untersuchung bzw. die Anklageerhebung sei somit einzig noch das von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebene psychiatrische Gutachten ausstehend. 
Die grundsätzliche Möglichkeit, dass Zeugen nochmals vom Gericht einvernommen werden könnten, rechtfertige keine Bejahung der Kollusionsgefahr; ansonsten wäre bei Personalbeweisen stets die Untersuchungshaft bis zur Durchführung der Hauptverhandlung anzuordnen. 
Der Beschwerdeführer kenne den Geschädigten nicht näher. Er habe ihn vor dem Vorfall vom 20. Mai 2010 lediglich ein- oder zweimal in der Wohnung von Z.________ kurz gesehen und habe keine näheren Kenntnisse von dessen persönlichen Verhältnissen. Der Geschädigte habe in seinen Einvernahmen bestätigt, dass sie nicht befreundet seien. Unter diesen Umständen sei es wenig wahrscheinlich, dass es dem Beschwerdeführer gelingen könnte, den Geschädigten zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Der Geschädigte erscheine auch in keiner Weise kollusionsgefährdet. Der Beschwerdeführer habe sich im bisherigen Verfahren stets korrekt und anständig verhalten sowie Reue und Einsicht gezeigt. Er habe keinerlei Neigung zu Kollusion erkennen lassen. 
 
6. 
Im vorliegenden Fall ist das Untersuchungsverfahren weit fortgeschritten; die Einvernahmen der Zeugen und des Geschädigten durch die Staatsanwaltschaft sind grundsätzlich abgeschlossen. Zwar ist es möglich und sogar wahrscheinlich, dass der Geschädigte und die Zeugen vor Gericht erneut einvernommen werden (vgl. Art. 343 der ab 1. Januar 2011 geltenden Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007). Dies allein genügt jedoch nicht zur Begründung von Kollusionsgefahr. Vielmehr bedarf es nach dem oben (E. 3) Gesagten konkreter Hinweise dafür, dass der Angeschuldigte bei einer Haftentlassung auf Zeugen Einfluss nehmen werde, um sie zu einem Widerruf oder zur Abschwächung ihrer belastenden Aussagen zu veranlassen (vgl. z.B. BGE 132 I 21 E. 3.4 und 3.5 S. 25 ff.: Ausübung von massivem Druck auf verschiedene Geschädigte und deren Angehörige; Urteil 1P.788/2000 vom 11. Januar 2001 E. 2d: Ausübung von emotionalem und finanziellem Druck auf die Ex-Ehefrau; Urteil 1P.612/2004 vom 11. November 2004 E. 3.4: besonderes Aggressionspotential des Angeschuldigten; Urteil 1P.548/1997 vom 27. Oktober 1997 E. 2d: geringes Alter des Opfers, das im selben Haus wohnte wie der Angeschuldigte und dessen Angehörigen). 
Es gibt keine Hinweise auf Versuche des Beschwerdeführers, Kontakt zum Geschädigten oder zu Zeugen aufzunehmen und diese zu beeinflussen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Geschädigte vom Beschwerdeführer leicht beeinflusst werden könnte, selbst wenn beide sich schon vor der Tat gekannt haben sollten. 
Insgesamt erscheint daher die Gefahr einer Beeinflussung des Geschädigten oder von Zeugen vor ihrer allfälligen richterlichen Einvernahme in der Hauptverhandlung nicht genügend konkret, um die Haft weiter aufrechtzuerhalten. 
 
7. 
Nach dem Gesagten ist die angefochtene Verfügung mangels Kollusionsgefahr aufzuheben. Fraglich ist jedoch, ob andere Haftgründe vorliegen. Der Haftrichter hat sich zu dieser Frage nicht abschliessend geäussert; insbesondere liess er ausdrücklich offen, ob Fluchtgefahr bestehe. 
Die Sache ist daher an den Haftrichter zur Prüfung anderer Haftgründe zurückzuweisen. Sollte weder Flucht- noch Wiederholungsgefahr bestehen, muss der Beschwerdeführer - allenfalls unter gewissen Auflagen - aus der Haft entlassen werden. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 BGG) und es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Damit wird das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter, vom 1. Oktober 2010 aufgehoben. Die Sache wird zu neuem Entscheid an den Haftrichter zurückgewiesen. 
 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3. 
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'800.-- zu entschädigen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 18. November 2010 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Féraud Gerber