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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_535/2021  
 
 
Urteil vom 19. Mai 2022  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichterin Jametti, 
Bundesrichter Haag, 
Gerichtsschreiber Härri. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Camill Droll, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, 4500 Solothurn. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Entsiegelung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Haftgerichts des Kantons Solothurn vom 27. August 2021 
(ZMAL.2021.25-HGRSTB). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen des Verdachts sexueller Handlungen mit einem Kind und mehrfacher harter Pornographie. Sie wirft ihm insbesondere vor, am 16. Mai 2021 mit seinem Mobiltelefon ein Video mit tatsächlichen sexuellen Handlungen eines Kindes verbreitet zu haben. 
Am 23. Juli 2021 nahm die Polizei bei A.________ eine Hausdurchsuchung vor. Dabei stellte sie sein Mobiltelefon sicher. A.________ verlangte dessen Siegelung. 
Am 30. Juli 2021 ersuchte die Staatsanwaltschaft das Haftgericht des Kantons Solothurn um Entsiegelung. 
Am 27. August 2021 hiess das Haftgericht das Entsiegelungsgesuch gut und gab das Mobiltelefon mitsamt SIM-Karte nach Eintritt der Rechtskraft seines Entscheids der Staatsanwaltschaft zur Auswertung frei. 
 
B.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid des Haftgerichts aufzuheben und das Entsiegelungsgesuch abzuweisen. Zudem stellt er Eventualanträge. 
 
C.  
Das Haftgericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt unter Verzicht auf Gegenbemerkungen die Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Die Vorinstanz hat gemäss Art. 248 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 380 StPO als einzige kantonale Instanz entschieden. Die Beschwerde ist somit nach Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. 
Der angefochtene Entscheid stellt einen Zwischenentscheid nach Art. 93 BGG dar. Dagegen ist gemäss Absatz 1 lit. a dieser Bestimmung die Beschwerde zulässig, wenn der Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann. Nach der Rechtsprechung muss es sich insoweit im Strafrecht um einen Nachteil rechtlicher Natur handeln (BGE 147 IV 188 E. 1.3.2 mit Hinweis). Ein derartiger Nachteil ist nach der Rechtsprechung bei einer Entsiegelung dann anzunehmen, wenn der Beschwerdeführer ein rechtlich geschütztes Geheimnisinteresse ausreichend substanziiert anruft (vgl. BGE 143 IV 462 E. 1; Urteil 1B_401/2021 vom 19. April 2022 E. 1.2 mit Hinweis). Insoweit genügt es nicht, wenn der Beschwerdeführer lediglich pauschal darlegt, in seinem Mobiltelefon befänden sich (irgendwo) Fotos und Nachrichten, die seine Intimsphäre berührten (Urteil 1B_78/2021 vom 11. November 2021 E. 3.2 f. mit Hinweis). 
Der Beschwerdeführer macht geltend, in seinem Mobiltelefon seien intime Bilder und Nachrichten enthalten, die er mit seiner Freundin ausgetauscht habe. Wo diese Daten im Mobiltelefon im Einzelnen zu finden sein sollen, legt er nicht dar. Er dürfte daher ein rechtlich geschütztes Geheimnisinteresse im Lichte der erwähnten Rechtsprechung nicht hinreichend substanziieren. Wie es sich damit verhält, braucht jedoch nicht abschliessend beurteilt zu werden. Wäre auf die Beschwerde einzutreten, wäre sie aus folgenden Erwägungen abzuweisen. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, bei der Hausdurchsuchung vom 23. Juli 2021 habe ihn die Polizei dazu aufgefordert, den Zugangscode zu seinem Mobiltelefon bekanntzugeben. Dem sei er nachgekommen. Die Polizei habe ihn jedoch nicht darüber informiert, dass er berechtigt sei, seine Aussage und Mitwirkung zu verweigern. Überdies habe er im Zeitpunkt der Hausdurchsuchung bereits einen notwendigen Verteidiger gehabt, der ihm nach Art. 130 lit. c StPO wegen kognitiven Defiziten beigegeben worden sei. Der Verteidiger sei bei der Hausdurchsuchung nicht anwesend gewesen. Der Code dürfe deshalb nicht verwendet werden. Es bestehe insoweit ein Beweisverwertungsverbot.  
 
2.2. Nach der Rechtsprechung ist die Beantwortung der Frage der Verwertbarkeit von Beweismitteln grundsätzlich dem Sachgericht vorbehalten. Allgemeine Beweisverwertungsverbote gestützt auf Art. 140 f. StPO sind im Entsiegelungsverfahren nur zu berücksichtigen, wenn die Unverwertbarkeit offensichtlich ist (BGE 143 IV 387 E. 4.4 mit Hinweisen).  
 
2.3. Der Beschwerdeführer bringt vor, als die Polizeibeamten bei der Hausdurchsuchung von ihm den Zugangscode zum Mobiltelefon erfragt hätten, habe es sich um eine Einvernahme gehandelt. In der Sache beruft er sich damit auf die Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Einvernahme der beschuldigten Person. Gemäss Art. 157 StPO können die Strafbehörden die beschuldigte Person auf allen Stufen des Strafverfahrens zu den ihr vorgeworfenen Straftaten einvernehmen (Abs. 1). Sie geben ihr dabei Gelegenheit, sich zu diesen Straftaten umfassend zu äussern (Abs. 2). Nach Art. 158 StPO weisen Polizei und Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person zu Beginn der ersten Einvernahme in einer ihr verständlichen Sprache darauf hin, dass sie die Aussage und die Mitwirkung verweigern kann (Abs. 1 lit. b). Einvernahmen ohne diesen Hinweis sind nicht verwertbar (Abs. 2).  
Die Polizeibeamten haben den Beschwerdeführer bei der Hausdurchsuchung nicht zu den ihm vorgeworfenen Straftaten befragt. Gemäss Art. 245 Abs. 2 Satz 1 StPO haben anwesende Inhaberinnen und Inhaber der zu durchsuchenden Räume der Hausdurchsuchung beizuwohnen. Dies dient unter anderem der Erleichterung der Hausdurchsuchung und erlaubt es den diese durchführenden Polizeibeamten insbesondere, dem Inhaber Fragen zu stellen etwa dazu, welche Räume er bewohnt und was sich in einem Behältnis befindet. Bei derartigen Fragen, welche die Hausdurchsuchung erleichtern sollen, dürfte es sich um keine Einvernahme handeln. Art. 157 f. StPO dürften deshalb nicht anwendbar sein. Jedenfalls ist die Anwendung dieser Bestimmungen nicht offensichtlich und damit auch nicht die Pflicht der Polizeibeamten, den Beschuldigten nach Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO darauf hinzuweisen, dass er die Aussage und die Mitwirkung verweigern kann. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher nach der dargelegten Rechtsprechung im vorliegenden Entsiegelungsverfahren nicht angenommen werden, weil die Polizeibeamten den Beschwerdeführer vor der Herausgabe des Codes nicht darüber aufgeklärt haben, dass er die Aussage und Mitwirkung verweigern kann. 
 
2.4. Nach der Rechtsprechung besteht auch bei notwendiger Verteidigung kein Beweisverwertungsverbot, wenn der Beschuldigte bei einer Hausdurchsuchung nicht verteidigt war (Urteil 6B_386/2020 vom 14. August 2020 E. 1.3 mit Hinweisen). Im Lichte dieser Rechtsprechung ist im vorliegenden Fall kein offensichtliches Beweisverwertungsverbot gegeben, weil der Verteidiger des Beschwerdeführers bei der Hausdurchsuchung vom 23. Juli 2021 nicht anwesend war.  
 
2.5. Der Beschwerdeführer beruft sich auf Art. 140 i.V.m Art. 141 Abs. 1 StPO. Gemäss Art. 140 StPO sind Zwangsmittel, Gewaltanwendung, Drohungen, Versprechungen, Täuschungen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheit einer Person beeinträchtigen können, bei der Beweiserhebung untersagt (Abs. 1). Solche Methoden sind auch dann unzulässig, wenn die betroffene Person ihrer Anwendung zustimmt (Abs. 2). Beweise, die in Verletzung von Artikel 140 erhoben wurden, sind nach Art. 141 Abs. 1 StPO in keinem Falle verwertbar.  
Art. 140 StPO dürfte hier schon deshalb nicht anwendbar sein, weil es sich nach der Rechtsprechung bei einer Hausdurchsuchung um keine Beweiserhebung handelt (Urteil 6B_386/2020 vom 14. August 2020 E. 1.3 mit Hinweisen). Im Übrigen ist nicht offensichtlich, dass sich die Polizeibeamten bei der Erfragung des Zugangscodes zum Mobiltelefon des Beschwerdeführers unzulässiger Methoden nach Art. 140 StPO bedient haben. Auch insoweit kann daher kein klares Beweisverwertungsverbot angenommen werden. 
Die Beschwerde ist in diesem Punkt demnach unbegründet. 
 
3.  
 
3.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die vollständige Entsiegelung des Mobiltelefons stelle eine Beweisausforschung aufs Geratewohl ("fishing expedition") dar. Die Entsiegelung müsse zeitlich eingeschränkt werden auf den 16. Mai 2021 und sachlich auf Bilder und Videos. Darüber hinaus fehle es am hinreichenden Tatverdacht.  
 
3.2. Die Durchsuchung eines Mobiltelefons muss verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 3 BV; Art. 197 Abs. 1 lit. c und d StPO). Sie muss sich zeitlich und sachlich auf das beschränken, was für die Strafuntersuchung von Bedeutung sein kann ("utilité potentielle"; Urteil 1B_602/2020 vom 23. Februar 2021 E. 5.2 mit Hinweisen).  
 
3.3. Die Staatsanwaltschaft führt gegen den Beschwerdeführer eine Untersuchung wegen mehrfacher harter Pornografie und sexueller Handlungen mit einem Kind. Es geht also nicht nur um den Vorfall vom 16. Mai 2021, bei dem der Beschwerdeführer mit seinem Mobiltelefon ein Video mit tatsächlichen sexuellen Handlungen eines Kindes verbreitet haben soll. Beim Beschwerdeführer bestehen Anzeichen für eine pädophile Neigung. Damit wäre es weltfremd anzunehmen, dass er Bilder kinderpornografischen Inhalts einzig am 16. Mai 2021 verschickt haben konnte. Vielmehr besteht ein hinreichender Verdacht, dass er solche Bilder auch an anderen Tagen verschickt haben könnte. Wenn die Vorinstanz die zeitliche Beschränkung der Durchsuchung des Mobiltelefons auf den 16. Mai 2021 abgelehnt hat, verletzt das daher kein Bundesrecht.  
Auch eine sachliche Beschränkung der Durchsuchung auf Bilder und Videos musste die Vorinstanz nicht vornehmen, da die Staatsanwaltschaft ein berechtigtes Interesse auch an der Ermittlung hat, ob und inwiefern der Beschwerdeführer insbesondere über Bilder und Videos kinderpornografischen Inhalts mit anderen Personen kommuniziert hat. Da ein hinreichender Verdacht vorliegt, handelt es sich um keine "fishing expedition". 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, die intimen Bilder und Chatnachrichten, die er mit seiner Freundin ausgetauscht habe, müssten in einer richterlichen Triage ausgesondert werden.  
 
4.2. Gemäss Art. 264 Abs. 1 lit. b SPO dürfen - ungeachtet des Ortes, wo sie sich befinden und des Zeitpunktes, in welchen sie geschaffen worden sind - nicht beschlagnahmt werden persönliche Aufzeichnungen und Korrespondenz der beschuldigten Person, wenn ihr Interesse am Schutz der Persönlichkeit des Strafverfolgungsinteresse überwiegt. Insoweit darf auch keine Entsiegelung verfügt werden (Urteil 1B_617/2020 vom 17. August 2021 E. 3 mit Hinweis).  
 
4.3. Wie dargelegt (oben E. 1), ist fraglich, ob der Beschwerdeführer in Bezug auf die intimen Bilder und Chatnachrichten, die er nach seinen Angaben mit seiner Freundin ausgetauscht hat, seiner Substanziierungspflicht genügt. Wollte man dies bejahen, änderte sich am Ergebnis nichts.  
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts der sexuellen Handlungen mit einem Kind nach Art. 187 Ziff. 1 StGB und der Pornografie nach Art. 197 Abs. 4 Satz 2 StGB. Für beide Tatbestände droht das Gesetz Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren an. Es handelt sich also um Verbrechen (Art. 10 Abs. 2 StGB). Damit besteht ein gewichtiges Strafverfolgungsinteresse. Dieses überwiegt das Interesse des Beschwerdeführers am Schutz seiner Privatsphäre. Die geltend gemachten intimen Bilder und Nachrichten des Beschwerdeführers und seiner Freundin können in einem sachlichen Zusammenhang zur Strafuntersuchung stehen. Da nach dem Gesagten Anhaltspunkte für eine pädophile Neigung des Beschwerdeführers bestehen, hat die Staatsanwaltschaft ein legitimes Interesse namentlich auch an der Prüfung, ob es sich bei der vom Beschwerdeführer genannten Freundin allenfalls noch um ein Kind unter 16 Jahren handelt. Wäre dem so, käme seine Strafbarkeit nach Art. 187 Ziff. 1 StGB auch insoweit in Betracht. 
 
5.  
Dem Gesuch des prozessbedürftigen Beschwerdeführers, dessen Begehren nicht von vornherein als aussichtslos erscheinen, um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist stattzugeben (vgl. Art. 64 BGG). Unter diesen Umständen sind für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben. Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers, handelnd durch den amtlichen Rechtsanwalt Camill Droll, ist aus der Bundesgerichtskasse angemessen zu entschädigen. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Camill Droll als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Rechtsanwalt Camill Droll wird aus der Gerichtskasse mit Fr. 1500.-- entschädigt. 
 
5.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Haftgericht des Kantons Solothurn schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. Mai 2022 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Der Gerichtsschreiber: Härri