Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_319/2023
Urteil vom 19. August 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichterin Koch, Bundesrichter Kölz,
Gerichtsschreiber Schurtenberger.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Gebhard,
Beschwerdeführerin,
gegen
1. Andrea Berger-Fehr, Richterin,
c/o Kantonsgericht, Herrenacker 26, 8200 Schaffhausen,
2. Daniel Harzbecker, Richter,
c/o Kantonsgericht, Herrenacker 26, 8200 Schaffhausen,
3. Rebecca Thaler, Ersatzrichterin,
c/o Kantonsgericht, Herrenacker 26, 8200 Schaffhausen,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Strafverfahren; Ausstand,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen, Einzelrichterin, vom 14. Februar 2023 (95/2022/17/B).
Sachverhalt:
A.
Am 10. Dezember 2021 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen beim Kantonsgericht Schaffhausen Anklage gegen A.________ wegen mehrfachen gewerblichen Betrugs, mehrfachen versuchten Betrugs, Diebstahls, Sachentziehung, Zechprellerei, Erpressung und mehrfacher Nötigung. Mit Schreiben vom 19. September 2022 lud das Kantonsgericht unter Hinweis auf verschiedene vom Privatkläger B.________ kurz zuvor eingereichte Unterlagen die Staatsanwaltschaft ein, sich zu einer materiellen Ergänzung der Anklageschrift zu äussern, und bat sie, gestützt auf die eingereichten Unterlagen allfällige notwendige Beweisergänzungen vorzunehmen.
B.
Mit Gesuch vom 23. September 2022 beantragte A.________ den Ausstand von Kantonsrichterin Andrea Berger-Fehr, Kantonsrichter Daniel Harbecker, Ersatzrichterin Rebecca Thaler sowie der a.o. Gerichtsschreiberin Kristine Bigler. Mit Entscheid vom 14. Februar 2023 wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen das Ausstandsgesuch gegen Kantonsrichterin Andrea Berger-Fehr, Kantonsrichter Daniel Harbecker und Ersatzrichterin Rebecca Thaler ab. Das Ausstandsgesuch gegen a.o. Gerichtsschreiberin Kristine Bigler schrieb es als gegenstandslos ab.
C.
Mit Eingabe vom 22. März 2023 erhob A.________ beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, soweit dieser nicht die Gegenstandslosigkeit des Ausstandsverfahrens feststellt, und die Gutheissung seines Ausstandsgesuchs gegen Kantonsrichterin Andrea Berger-Fehr, Kantonsrichter Daniel Harbecker und Ersatzrichterin Rebecca Thaler. Eventualiter beantragt sie die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zum erneuten Entscheid. Weiter ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren.
Die Vorinstanz sowie die vom Ausstandsgesuch betroffenen Gerichtspersonen haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein selbstständig eröffneter Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren im Rahmen eines Strafverfahrens. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht nach Art. 78 ff. BGG grundsätzlich offen (Art. 78 Abs. 1 BGG; Art. 59 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 80 BGG; Art. 92 Abs. 1 BGG). Die weiteren Eintretensvoraussetzungen sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
2.1. Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, das Kantonsgericht Schaffhausen habe in unzulässiger Weise "die Staatsanwaltschaft zur Erweiterung der Anklageschrift eingeladen", und damit "die Grenze zwischen [ihrer] eigenen Funktion und der des Strafverfolgers" überschritten. Damit sei ein Ausstandsgrund im Sinne von Art. 56 lit. f. StPO gegeben.
2.2. Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch darauf, dass ihre Streitsache von einem unbefangenen, unvoreingenommenen und unparteiischen Richter beurteilt wird. Es soll garantiert werden, dass keine sachfremden Umstände, die ausserhalb des Prozesses liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zulasten einer Partei auf das gerichtliche Urteil einwirken. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Die Garantie wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung der Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit besteht (BGE 147 III 379 E. 2.3.1; 144 I 159 E. 4.3; je mit weiteren Hinweisen). Art. 56 StPO konkretisiert diesen Grundsatz für das Strafverfahren (BGE 138 I 425 E. 4.2.1).
Fehlerhafte Verfügungen und Verfahrenshandlungen begründen für sich grundsätzlich keinen Anschein der Voreingenommenheit. Materielle oder prozessuale Rechtsfehler stellen einzig dann einen Ausstandsgrund gemäss Art. 56 lit. f StPO dar, wenn sie besonders krass sind oder wiederholt auftreten, sodass sie einer schweren Amtspflichtverletzung gleichkommen und sich einseitig zulasten einer der Prozessparteien auswirken; andernfalls begründen sie keinen Anschein der Befangenheit. Gegen Verfahrenshandlungen sind primär die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel auszuschöpfen (BGE 143 IV 69 E. 3.2; 141 IV 178 E. 3.2.3; 138 IV 142 E. 2.3).
2.3. Die Vorinstanz hält zusammengefasst fest, als Rechtsgrundlage für das (nicht weiter begründete) Vorgehen des Kantonsgerichts komme einzig Art. 333 Abs. 2 StPO in Frage. Ob die Voraussetzungen für ein Vorgehen nach dieser Bestimmung erfüllt gewesen seien, könne indessen offenbleiben, da das Verhalten des Kantonsgerichts jedenfalls nicht als ein besonders krasser Verfahrensfehler zu beurteilen sei. Die vom Gesetzgeber vorgesehenen Durchbrechungen des Anklageprinzips seien sodann nicht geeignet, einen Anschein der Befangenheit zu begründen. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die zusätzlichen fraglichen Deliktsvorwürfe in einem engen Zusammenhang mit den zur Anklage gebrachten Vorwürfen stünden, weshalb die von Kantonsrichterin Andrea Berger-Fehr in ihrer Stellungnahme im Ausstandsverfahren dargelegten prozessökonomischen Überlegungen grundsätzlich nachvollziehbar erschienen.
2.4. Die Beschwerdeführerin stellt nicht in Abrede, dass das Vorgehen des Kantonsgerichts jedenfalls nicht als schwerer Verfahrensfehler zu beurteilen sei. Stattdessen vertritt sie die Auffassung, die Befangenheit ergebe sich nicht aus einer falschen Rechtsanwendung der abgelehnten Gerichtspersonen, sondern darin, dass diese "faktisch in die Rolle des Strafverfolgers verfallen" seien.
Dem kann nicht gefolgt werden. Die Anwendung von Art. 333 Abs. 2 StPO durch ein Gericht führt grundsätzlich nicht zur Befangenheit der entsprechenden Gerichtspersonen (vgl. zu Art. 333 Abs. 1 StPO Urteil 1B_24/2017 vom 1. Mai 2017 E. 2.4 mit Hinweisen). Es liegen auch keine besonderen Umstände vor, die hier ausnahmsweise den Anschein von Befangenheit begründen würden (vgl. zu Art. 333 Abs. 1 StPO Urteil 6B_688/2017 vom 1. Februar 2018 E. 3.4.2). Insbesondere ist der Vorwurf der Beschwerdeführerin, die abgelehnten Gerichtspersonen hätten "die Grenze zwischen [ihren] eigenen Funktion[en] und der des Strafverfolgers" überschritten, offensichtlich unbegründet. Denn das Kantonsgericht hat nicht etwa, wie behauptet, die Staatsanwaltschaft dazu eingeladen, "den von ihr bereits getroffenen Entschluss zu überdenken, die betreffenden Vorwürfe nicht zur Anklage zu bringen", sondern sie lediglich dazu aufgefordert, sich angesichts der eingereichten Unterlagen des Privatklägers zu einer "materiellen Ergänzung der Anklageschrift zu äussern". Diese Gelegenheit nahm die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 12. Oktober 2022 wahr und informierte das Kantonsgericht darüber, dass ihr die fraglichen Sachverhalte bereits bekannt seien und sie bewusst darauf verzichtet habe, sie zur Anklage zu bringen. Ob das Schreiben vom 19. September 2022 überhaupt einen Entscheid im Sinne von Art. 333 Abs. 2 StPO darstellt oder ob ein solcher bloss in Aussicht gestellt wurde und den Parteien diesbezüglich das rechtliche Gehör gewährt wurde, kann in diesem Zusammenhang offenbleiben. So oder anders kann jedenfalls keine Rede davon sein, dass die abgelehnten Gerichtspersonen die "Rolle des Strafverfolgers" eingenommen hätten.
3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie beantragt indessen die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das Verfahren vor Bundesgericht. Diese setzt jedoch insbesondere voraus, dass die gestellten Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheinen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt, weshalb das Gesuch abzuweisen ist. Den finanziellen Verhältnissen der Beschwerdeführerin ist jedoch bei der Festsetzung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen, Einzelrichterin, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 19. August 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger