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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
5A_575/2012 
 
Urteil vom 19. Oktober 2012 
II. zivilrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichterin Hohl, Präsidentin, 
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter von Werdt, 
Gerichtsschreiber Zingg. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Y.________, dieser vertreten durch Advokat Dr. Alex Hediger, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Vormundschaftsbehörde A.________, 
 
Gegenstand 
Vorläufiger Entzug der Handlungsfähigkeit, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen, vom 4. Juli 2012. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
X.________ unterzeichnete am 19. September 2011 zugunsten von Y.________ folgende Vollmacht: 
 
"Ich, der Unterzeichnende 
 
X.________, geboren am xxxx, von C.________, wohnhaft in A.________ 
 
bevollmächtige hiermit 
 
Herrn Y.________, geb. xxxx, deutscher Staatsangehöriger, in B.________ 
 
für mich für eine adäquate medizinische Versorgung zu sorgen und mich in sämtlichen medizinischen Belangen zu vertreten. Dazu gehören Ärzte in sämtlichen medizinischen Bereichen zu konsultieren und ihnen Aufträge zu erteilen und von ihnen sämtliche Auskünfte zu erhalten, um eine bestmögliche medizinische Versorgung zu erzielen, medizinische Untersuchungen anzuordnen, Krankenakten und Röntgenbilder herauszuverlangen, mich in Privatkliniken, Spitäler, Heime und nach Hause nach A.________ zu verlegen, das Haus in A.________ für meine Bedürfnisse entsprechend einzurichten, Auskünfte von Krankenkassen und Spitälern zu erhalten, usw. 
 
Der Bevollmächtigte ist berechtigt, Versicherungs- und Sozialleistungen zu beantragen und die finanziellen Verpflichtungen im Bereich der medizinischen Versorgung zu regeln. 
 
Der Bevollmächtigte ist zur Substitution dieser Vollmacht berechtigt. 
 
Die Vollmacht hat im Rahmen ihres Zweckes generellen Charakter. 
 
Diese Vollmacht gilt auch für den Fall meiner Urteilsunfähigkeit und über meinen Tod hinaus." 
 
B. 
Mit Beschluss vom 12. Dezember 2011 entschied die Vormundschaftsbehörde A.________, beim Bezirksgericht Rheinfelden eine Entmündigungsklage gegen X.________ einzureichen. Zugleich entzog sie X.________ gestützt auf Art. 386 Abs. 2 ZGB die Handlungsfähigkeit für die Dauer des gerichtlichen Entmündigungsverfahrens. 
Dieser Beschluss wurde X.________, seinem Beirat Z.________, sowie seinen Kindern S.________ und T.________ zugestellt sowie im Amtsblatt vom 27. Dezember 2011 publiziert. Hingegen wurde er Y.________ nicht zugestellt. 
 
C. 
Mit Beschwerde vom 6. Januar 2012 liess Y.________ durch einen von ihm beauftragten Rechtsanwalt namens und im Auftrag von X.________ die Aufhebung des verfügten Entzugs der Handlungsfähigkeit beantragen. 
 
Das Bezirksamt Rheinfelden trat auf die Beschwerde mit Entscheid vom 26. März 2012 nicht ein, da die Beschwerdefrist bereits am 27. Dezember 2012 abgelaufen sei. 
 
D. 
Mit Beschwerde vom 14. Mai 2012 an das Obergericht des Kantons Aargau liess Y.________ durch einen neuen Rechtsanwalt - wiederum im Namen von X.________ - beantragen, den Entscheid des Bezirksamts aufzuheben und die Angelegenheit an das Bezirksamt zur materiellen Behandlung zurückzuweisen. 
 
Mit Entscheid vom 4. Juli 2012 wies das Obergericht die Beschwerde ab. 
 
E. 
Am 8. August 2012 hat Y.________ durch einen Anwalt und wiederum im Namen von X.________ (Beschwerdeführer) Beschwerde in Zivilsachen gegen den obergerichtlichen Entscheid erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Rückweisung der Angelegenheit an das Bezirksamt zur materiellen Behandlung. 
 
Am 29. August 2012 (Postaufgabe) hat die Vormundschaftsbehörde A.________ mitgeteilt, dass das Bezirksgericht Rheinfelden am 4. Juli 2012 die Entmündigungsklage gutgeheissen habe und dass gegen dieses Urteil binnen Frist, die bis am 24. August 2012 gelaufen sei, keine Berufung erhoben worden sei. Da die Entmündigung an die Stelle des vorsorglichen Entzugs der Handlungsfähigkeit trete, sei das bundesgerichtliche Verfahren als gegenstandslos abzuschreiben. 
 
Dem Beschwerdeführer ist Gelegenheit gegeben worden, sich dazu zu äussern. Binnen verlängerter Frist hat sein Rechtsvertreter am 18. September 2012 mitgeteilt, weder der Beschwerdeführer noch Y.________ hätten Kenntnis vom Entmündigungsverfahren oder einem entsprechenden Urteil. Demgemäss würden sie sich einer Abschreibung widersetzen. 
 
Das Bundesgericht hat diese Stellungnahme der Vormundschaftsbehörde A.________ zur freigestellten Beantwortung und dem Obergericht zur Kenntnisnahme zugestellt. Binnen der angesetzten Frist hat sich die Vormundschaftsbehörde nicht geäussert und auch das Obergericht hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
Im Übrigen hat das Bundesgericht die Akten beigezogen, in der Sache aber keine Vernehmlassungen eingeholt. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Der angefochtene Entscheid betrifft die vorläufige Entziehung der Handlungsfähigkeit gemäss Art. 386 Abs. 2 ZGB. Dabei handelt es sich um eine vorsorgliche Massnahme (Art. 98 BGG) für die Dauer des Entmündigungsverfahrens. Selbständig eröffnete Massnahmenentscheide, die vor oder während eines Hauptverfahrens erlassen werden und nur für die Dauer des Hauptverfahrens bzw. unter der Bedingung, dass ein Hauptverfahren eingeleitet wird, Bestand haben, sind Zwischenentscheide im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 134 I 83 E. 3.1 S. 86 f.; 138 III 76 E. 1.2 S. 79; Urteil 5P.16/2004 vom 9. Februar 2004 E. 2). Eine Massnahme gemäss Art. 386 Abs. 2 ZGB kann einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; Urteil 5P.16/2004 vom 9. Februar 2004 E. 2). Bei Zwischenentscheiden folgt der Rechtsweg demjenigen der Hauptsache (BGE 137 III 380 E. 1.1 S. 382). Diese unterliegt der Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG) und hat keinen vermögensrechtlichen Charakter. Die Beschwerde richtet sich gegen einen kantonal letztinstanzlichen, auf Rechtsmittel hin erfolgten Entscheid (Art. 75 BGG) und ist rechtzeitig erfolgt (Art. 100 Abs. 1 BGG). 
 
1.2 Im Rahmen eines gegen den Entzug der Handlungsfähigkeit gerichteten Verfahrens bleibt der Beschwerdeführer zur Wahrung seiner Rechte befugt, ansonsten für ihn keine Möglichkeit bestünde, sich zur Wehr zu setzen (BGE 118 Ia 236 E. 3a S. 239 f.; Urteil 5P.16/2004 vom 9. Februar 2004 E. 1). Er kann auch einen Anwalt mit der Vertretung seiner Interessen beauftragen (Urteile 5P.16/2004 vom 9. Februar 2004 E. 1; 5A_194/2011 vom 30. Mai 2011 E. 3.2). Der Beschwerdeführer ist damit im vorliegenden Verfahren prozessfähig. 
 
1.3 Zur Beschwerdeführung ist berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (Art. 76 Abs. 1 lit. a BGG) und durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an seiner Aufhebung oder Änderung hat (Art. 76 Abs. 1 lit. b BGG). Dieses Interesse muss grundsätzlich aktuell sein, d.h. nicht nur bei der Beschwerdeeinreichung bestehen, sondern auch im Urteilszeitpunkt noch vorhanden sein (BGE 137 I 296 E. 4.2 S. 299; 136 III 497 E. 1.1 S. 499; Urteil 4A_134/2012 vom 16. Juli 2012 E. 2.1). Das Bundesgericht tritt auf eine Beschwerde nicht ein, wenn das schutzwürdige Interesse im Moment der Beschwerdeerhebung fehlt. Entfällt das Interesse im Laufe des Verfahrens, wird die Beschwerde gegenstandslos (BGE 136 III 497 E. 2.1 S. 500; Urteil 4A_134/2012 vom 16. Juli 2012 E. 2.1). 
 
Ein rechtskräftiges Entmündigungsurteil lässt das aktuelle Interesse an der Überprüfung des vorsorglichen Entzugs der Handlungsfähigkeit grundsätzlich entfallen (vgl. allerdings zum Vorbehalt des sog. virtuellen Interesses an der Überprüfung eines Entscheids BGE 136 III 497 E. 1.1 S. 499). Vorliegend behauptet die Vormundschaftsbehörde A.________, der Beschwerdeführer sei durch Urteil vom 4. Juli 2012 entmündigt worden, wobei dieses Urteil am 24. August 2012 rechtskräftig geworden sei. Der Beschwerdeführer hat bestritten, von einem solchen Urteil Kenntnis zu haben. Das Urteil findet sich weder in den Akten noch ist es von der Vormundschaftsbehörde eingereicht worden, und zwar auch dann nicht, nachdem ihr Gelegenheit zur Stellungnahme zu den Bestreitungen des Beschwerdeführers gegeben worden war. Zwar klärt das Bundesgericht von Amtes wegen, ob ein hinreichendes Interesse an der Beschwerdeführung besteht, doch trifft die Beteiligten eine Mitwirkungsobliegenheit, sofern über eine Prozessvoraussetzung Zweifel bestehen. Da das Urteil nicht vorgelegt wurde und der Beschwerdeführer behauptet, von ihm keine Kenntnis zu haben, kann nicht von einem nachträglichen Wegfall des Interesses an der Beschwerde ausgegangen werden. 
 
1.4 Mit der Beschwerde gegen vorsorgliche Massnahmen kann nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gerügt werden (Art. 98 BGG). Es gilt demnach das strenge Rügeprinzip gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG. Eine Verfassungsrüge muss präzise vorgebracht und begründet werden (BGE 134 I 83 E. 3.2 S. 88). Dies bedeutet, dass anhand der Erwägungen des angefochtenen Entscheids klar und detailliert darzulegen ist, inwiefern verfassungsmässige Rechte verletzt worden sein sollen (BGE 135 III 232 E. 1.2 S. 234 mit Hinweisen). 
 
2. 
Das Obergericht hat untersucht, ob Y.________ berechtigt war, als gewillkürter Stellvertreter von X.________ eine Beschwerde beim Bezirksamt gegen den Beschluss der Vormundschaftsbehörde einzureichen bzw. zu diesem Zweck einen Rechtsvertreter zu bestellen. Es hat dazu die Vollmacht vom 19. September 2011 ausgelegt (zitiert oben in lit. A) und ist zum Schluss gekommen, dass es sich dabei nicht um eine Generalvollmacht handle. Sie sei vielmehr sachlich darauf beschränkt worden, X.________ zum Zwecke der adäquaten medizinischen Versorgung in sämtlichen medizinischen Belangen zu vertreten. Sie enthalte jedoch keine Ermächtigung für Y.________, X.________ in rein vormundschaftsrechtlichen Angelegenheiten zu vertreten. Die Vollmacht decke offensichtlich die Beschwerde gegen den vorsorglichen Entzug der Handlungsfähigkeit nicht ab. Offen gelassen hat das Obergericht die Frage, ob X.________ bei Unterzeichnung der Vollmacht urteilsfähig gewesen sei. 
 
Das Bezirksamt sei somit im Ergebnis zu Recht nicht auf die Beschwerde eingetreten. 
 
3. 
Der Beschwerdeführer macht Willkür bei der Auslegung der Vollmacht geltend. Der Entzug der Handlungsfähigkeit sei offensichtlich deshalb erfolgt, weil der Beschwerdeführer im Sommer 2011 einen Hirnschlag erlitten habe und sich seither in stationärer spitalärztlicher Behandlung befinde. Nach Auffassung der Vormundschaftsbehörde sei er deshalb nicht mehr in der Lage, seine Interessen zu wahren. Die Anfechtung eines auf medizinische Gründe gestützten Entzugs der Handlungsfähigkeit gehöre zur Vertretung in medizinischen Fragen. Die Vollmacht von Y.________ beziehe sich auf sämtliche medizinischen Belange und deshalb auch auf die Vertretung in vormundschaftlichen Fragen, bei denen die Beurteilung medizinischer Fragen zentrales Thema sei. 
 
4. 
4.1 Willkür in der Rechtsanwendung liegt vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist. Dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5 mit Hinweisen). 
 
4.2 Das Auslegungsergebnis des Obergerichts ist nicht unhaltbar. Das Obergericht durfte - ohne in Willkür zu verfallen - aus der Vollmachtsurkunde ableiten, dass Y.________ den Beschwerdeführer nicht generell, sondern einzig in medizinischen Belangen vertreten dürfe. Der Beschwerdeführer behauptet zwar, der vorsorgliche Entzug der Handlungsfähigkeit beruhe auf einer medizinischen Frage. Er stützt sich dazu auf Tatsachenbehauptungen (Hirnschlag des Beschwerdeführers), über die sich im angefochtenen Urteil keine genauen Feststellungen finden. Selbst wenn die Behauptungen zutreffen, ist es jedoch nicht willkürlich, die Vollmacht so auszulegen, dass sie sich auf die Organisation der medizinischen Versorgung des Beschwerdeführers beschränkt und nicht alle Lebensbereiche umfasst, in denen medizinische Angelegenheiten vorfrageweise eine Rolle spielen könnten. Die Beschwerde ist somit abzuweisen. 
 
5. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 19. Oktober 2012 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Hohl 
 
Der Gerichtsschreiber: Zingg