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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
6B_653/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 20. März 2014  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Mathys, Präsident, 
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1.  Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28, Postfach 157, 4502 Solothurn,  
 Beschwerdegegnerin, 
2. Y.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Corinne Saner, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Teileinstellung (versuchte Vergewaltigung, sexuelle Nötigung), falsche Anwendung von Art. 319 Abs. 1 StPO
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, vom 5. Juni 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
 X.________ zeigte Y.________ am 11. April 2012 bei der Kantonspolizei Solothurn wegen sexueller Belästigung, eventuell sexueller Nötigung an. Am 4. Mai 2012 liess sie in der gleichen Sache Anzeige wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn stellen. 
Diese eröffnete am 14. Mai 2012 eine Strafuntersuchung gegen Y.________ wegen versuchter Vergewaltigung, eventuell wegen sexueller Belästigung. 
 
B.  
 
 Mit Strafbefehl vom 30. August 2012 sprach die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn Y.________ wegen sexueller Belästigung schuldig. Sie bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 500.--. Grundlage für den Schuldspruch bildet folgender Sachverhalt: 
 
"Am 10. April 2012, von 20:00 Uhr bis 20:15 Uhr, in A.________, belästigte Y.________ die Geschädigte sexuell. Konkret fasste er X.________ gegen ihren Willen mit der rechten Hand an das Gesäss und mit der linken Hand an die Brüste. Er küsste sie auf die Wangen, versuchte, sie auf die Lippen zu küssen, und hielt sie dabei fest. Zudem drückte er seine erigierten Genitalien an jene der Geschädigten, rieb sich an ihr und hielt ihr zugleich mit der rechten Hand den Mund zu." 
X.________ erhob gegen den Strafbefehl am 17. September 2012 Einsprache. 
Das Verfahren wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung stellte die Staatsanwaltschaft am 15. Februar 2013 ein. Sie ordnete an, dass nach Rechtskraft der Teileinstellungsverfügung das Strafverfahren wegen sexueller Belästigung weitergeführt werde. Die Akten würden zur Behandlung der Einsprache dem zuständigen Richteramt zugestellt. 
X.________ erhob gegen die Teileinstellungsverfügung vom 15. Februar 2013 Beschwerde. Das Obergericht des Kantons Solothurn wies diese Beschwerde am 5. Juni 2013 ab. 
 
C.  
 
 Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, es sei das obergerichtliche Urteil vom 5. Juni 2013 aufzuheben. Sie ersucht ferner um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
D.  
 
 Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Solothurn verzichten auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. Der Beschwerdegegner beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
 Der angefochtene Entscheid betrifft eine Strafsache und ist kantonal letztinstanzlich. Die Beschwerdeführerin wurde als Opfer in ihrer sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt. Sie leitete mit ihrer Anzeige das Verfahren ein, focht die Teileinstellungsverfügung an und nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil. Der angefochtene Entscheid kann sich auf ihre Zivilforderungen auswirken. Auf die Beschwerde in Strafsachen ist einzutreten (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 2, Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5). 
 
2.  
 
 Die Vorinstanz bestätigt die staatsanwaltliche Teileinstellung des Verfahrens wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung im Wesentlichen mit der Begründung, es fehle an der erforderlichen Intensität einer Zwangseinwirkung im Sinne von Art. 189 und Art. 190 StGB. Die Beschwerdeführerin sei nicht zum Widerstand unfähig gemacht worden. Eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung sei deshalb weit weniger wahrscheinlich als ein Freispruch. Die Staatsanwaltschaft habe das Strafverfahren daher zu Recht teilweise eingestellt. Dieses sei wegen sexueller Belästigung weiterzuführen (Entscheid, S. 2 f.). 
Die Beschwerdeführerin hält die Teileinstellung des Verfahrens wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung für bundesrechtswidrig. Sie weist darauf hin, dass der Teileinstellungsverfügung und dem Strafbefehl der gleiche Lebenssachverhalt zugrunde liegen würde. Die Einstellung der Verfolgung einzelner Straftatbestände, die in unechter Idealkonkurrenz zueinander stünden, sei unzulässig (Beschwerde, S. 6 ff.). 
 
3.  
 
3.1. Die Staatsanwaltschaft verfügt die Einstellung des Verfahrens (Art. 319 Abs. 1 StPO), wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt (lit. a) oder wenn kein Straftatbestand erfüllt ist (lit. b). Mit der Einstellung schliesst die Staatsanwaltschaft das Verfahren ab. Eine rechtskräftige Einstellungsverfügung kommt einem freisprechenden Endentscheid gleich (Art. 320 Abs. 4 StPO). Einer erneuten strafrechtlichen Verfolgung wegen der gleichen Tat stehen deshalb grundsätzlich das Prinzip "ne bis in idem" (Urteil 6B_160/2008 vom 9. Juli 2008 E. 5; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, S. 495 Rz. 1409; Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, Art. 320 Rz. 4) entgegen sowie das Institut der materiellen Rechtskraft, welche bewirkt, dass eine formell rechtskräftig beurteilte Tat nicht mehr Gegenstand eines späteren Verfahrens gegen dieselbe Person sein kann ("Sperrwirkung der materiellen Rechtskraft"). Das Verbot der doppelten Strafverfolgung bildet ein Verfahrenshindernis im Sinne von Art. 339 Abs. 2 lit. c StPO (siehe Thomas Fingerhuth, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Zürich 2010, Art. 339 Rz. 11).  
 
3.2. Die Staatsanwaltschaft kann das Verfahren vollständig oder teilweise einstellen. Von einer teilweisen Einstellung spricht man, wenn einzelne Komplexe eines Verfahrens zu einer Anklageerhebung führen oder durch einen Strafbefehl beurteilt, andere Komplexe des Verfahrens hingegen mit einer Einstellung abgeschlossen werden. Eine solche Teileinstellung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn mehrere Lebensvorgänge oder Taten im prozessualen Sinn zu beurteilen sind, die einer separaten Erledigung zugänglich sind. Soweit es sich hingegen nur um eine andere rechtliche Würdigung ein und desselben Lebensvorgangs handelt, scheidet eine teilweise Verfahrenseinstellung aus (vgl. Nathan Landshut, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Zürich 2010, Art. 319 Rz. 10 mit Hinweis; Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, 2007, § 35 Rz. 3; siehe auch Oberholzer, a.a.O., S. 455 Rz. 1283 zur Verfahrenserledigung durch Freispruch). Wegen ein und derselben Tat im prozessualen Sinn kann nicht aus einem rechtlichen Gesichtspunkt verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt werden. Es muss darüber einheitlich entschieden werden.  
 
3.3. Der Teileinstellungsverfügung vom 15. Februar 2013 liegt derselbe Lebensvorgang zugrunde wie dem Strafbefehl vom 30. August 2012. Dieser Lebensvorgang bildet eine einzige Tat im prozessualen Sinn. Sie wurde im Strafbefehl rechtlich als sexuelle Belästigung gewürdigt. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin als Opfer Einsprache. Sie rügte u.a. eine zu milde Qualifikation der Tat und beantragte eine Verurteilung des Beschwerdegegners wegen eines sexuellen Nötigungsdelikts. Da es insoweit allein darum geht, wie die dem Beschwerdegegner zur Last gelegte Tat rechtlich zu würdigen ist, besteht im Lichte der vorstehenden Ausführungen kein Raum für eine Teileinstellung des Verfahrens. Würde anders entschieden, könnte das Sachgericht - was die Vorinstanz und der Beschwerdegegner verkennen - das Verfahren trotz hängiger Einsprache gegen den Strafbefehl nach Eintritt der Rechtskraft der Teileinstellungsverfügung nicht weiterführen. Es müsste das Verfahren wegen des Grundsatzes "ne bis in idem" und der Sperrwirkung der materiellen Rechtskraft der Einstellungsverfügung vielmehr ebenfalls einstellen. Dem Sachgericht wäre es mithin verwehrt, den in Frage stehenden Lebensvorgang statt als blosse sexuelle Belästigung rechtlich als sexuelle Nötigung oder versuchte Vergewaltigung zu würdigen und den Beschwerdegegner deswegen zu verurteilen. Aus den gleichen Gründen fiele auch ein allfälliger Freispruch ausser Betracht. Die Staatsanwaltschaft hätte es deshalb beim Erlass des Strafbefehls vom 30. August 2012 bewenden lassen müssen. Die Teileinstellung wegen sexueller Nötigung und versuchter Vergewaltigung erweist sich als bundesrechtswidrig.  
Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf die weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin einzugehen. 
 
4.  
 
 Die Beschwerde ist gutzuheissen und das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Für das bundesgerichtliche Verfahren sind die Kosten der unterliegenden Partei, jedoch nicht dem Kanton, aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Solothurn und der Beschwerdegegner haben der Beschwerdeführerin eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil vom 5. Juni 2013 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird als gegenstandslos abgeschrieben. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
4.   
Der Beschwerdegegner und der Kanton Solothurn haben der Beschwerdeführerin eine Entschädigung von je Fr. 1'500.-- auszurichten. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Beschwerdekammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. März 2014 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Mathys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill