Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9F_4/2024, 9F_5/2024
Urteil vom 20. März 2024
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber,
Gerichtsschreiberin Dormann.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Gesuchsteller,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Gesuchsgegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Revisionsgesuche gegen die Urteile des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_599/2016 vom 29. März 2017 (9F_4/2024) und 9C_484/2019 vom 25. September 2019 (9F_5/2024).
Sachverhalt:
A.
A.a. Der 1954 geborene A.________ bezog von der Invalidenversicherung eine halbe Rente ab September 1996 resp. eine ganze Rente ab 1. Juni 1999 (nebst Zusatzrenten für die Ehefrau und fünf Kinder). Die IV-Stelle des Kantons Zürich berücksichtigte in einem Rentenrevisionsverfahren insbesondere die Ergebnisse einer von der Unfallversicherung veranlassten Observation durch Privatdetektive. Die IV-Stelle hob die Invalidenrenten mit Verfügung vom 12. Juni resp. 4. August 2015 rückwirkend per 1. November 2003 auf, was das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 31. Mai 2016 und schliesslich das Bundesgericht mit Urteil 9C_599/2016 vom 29. März 2017 bestätigte.
A.b. Auf Strafanzeige der Unfallversicherung hin erkannte das Obergericht des Kantons Zürich A.________ am 24. Oktober 2017 des mehrfachen Betrugs und des versuchten Betrugs im Zusammenhang mit dem Rentenbezug schuldig. Mit Urteil 6B_14/2018 vom 8. März 2019 wies das Bundesgericht die dagegen erhobene Beschwerde des A.________ ab, soweit es darauf eintrat.
A.c. Die IV-Stelle verpflichtete A.________ mit Verfügung vom 28. April 2017, ihr für vom 1. November 2003 bis zum 31. Mai 2008 zu Unrecht bezogene Renten den Betrag von Fr. 113'625.- zurückzuerstatten. Die Beschwerden betreffend die Rückerstattung wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 29. Mai 2019 resp. das Bundesgericht mit Urteil 9C_484/2019 vom 25. September 2019 ab.
B.
Am 26. September 2017, 29. August 2019 resp. 18. November 2019 erhob A.________ gegen die Urteile des Bundesgerichts vom 29. März 2017, 8. März 2019 resp. 25. September 2019 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nachfolgend: EGMR) Beschwerden nach Art. 34 EMRK wegen Verletzung von Art. 6 und 8 EMRK (Verfahren 71522/17, 47646/19 resp. 61114/19). Er machte im Wesentlichen geltend, die Überwachung durch Privatdetektive sei ohne gesetzliche Grundlage durchgeführt und in den verschiedenen Verfahren berücksichtigt worden, was einen unzulässigen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens darstelle. Dass die innerstaatlichen Gerichte das polydisziplinäre MEDAS-Gutachten, das hauptsächlich auf den Ergebnissen der illegalen Überwachung basiert habe, als Beweismittel herangezogen hatten, verstosse gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Zudem habe das Verfahren betreffend die Rentenaufhebung übermässig lange gedauert.
Mit Urteil vom 12. Dezember 2023 vereinigte der EGMR die Verfahren (Dispositiv-Ziffer 1). Er erklärte die Rügen betreffend Art. 8 EMRK für zulässig und die Beschwerden im Übrigen, d.h. insbesondere soweit sie sich auf Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) stützten, für unzulässig (Dispositiv-Ziffer 2). Er stellte eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest (Dispositiv-Ziffer 3). Zudem sprach er A.________ eine Entschädigung von 8'000 Euro als Genugtuung und 10'700 Euro als Ersatz für seine Kosten zu (Dispositiv-Ziffer 4).
C.
Mit Eingabe vom 26. Februar 2024 stellt A.________ Revisionsgesuche mit dem Antrag, die Urteile 9C_599/2016 vom 29. März 2017 (Verfahren 9F_4/2024) und 9C_484/2019 vom 25. September 2019 (Verfahren 9F_5/2024) seien aufzuheben und die Sache sei von der IV-Stelle neu zu prüfen, damit er ein faires Verfahren habe. Zudem ersucht er um unentgeltliche Prozessführung.
Erwägungen:
1.
Der Gesuchsteller stellt in einer einzigen Eingabe Revisionsgesuche gegen zwei unterschiedliche Bundesgerichtsurteile; die Eingabe betrifft die gleichen Parteien, den gleichen Sachverhalt und die gleichen Rechtsfragen. Es rechtfertigt sich daher, die Verfahren 9F_4/2024 und 9F_5/2024 zu vereinigen (Art. 24 BZP [SR 273] i.V.m. Art. 71 BGG).
2.
2.1. Urteile des Bundesgerichts erwachsen am Tag ihrer Ausfällung in Rechtskraft (Art. 61 BGG). Eine nochmalige Überprüfung der einem Urteil des Bundesgerichts zu Grunde liegenden Streitsache ist grundsätzlich ausgeschlossen. Das Gericht kann auf seine Urteile nur zurückkommen, wenn einer der in den Art. 121 ff. BGG abschliessend aufgeführten Revisionsgründe vorliegt. Die um Revision eines bundesgerichtlichen Urteils ersuchende Person hat gemäss Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG namentlich einen vom Gesetz vorgesehenen Revisionsgrund zu nennen und aufzuzeigen, weshalb das revisionsbetroffene Urteil an einem revisionserheblichen Mangel leidet; fehlt eine entsprechende Begründung, wird auf das Gesuch nicht eingetreten (Urteil 9F_20/2022 vom 8. Januar 2024 E. 1.1, zur Publikation vorgesehen).
Das Revisionsverfahren vor Bundesgericht verläuft in mehreren Schritten. Zunächst prüft das Bundesgericht die Zulässigkeit des Revisionsgesuchs. Erachtet das Bundesgericht das Revisionsgesuch als zulässig, tritt es auf dieses ein und prüft, ob die Begründung des Gesuchs zutrifft. Wenn dies der Fall ist, fällt das Bundesgericht, normalerweise in einem einzigen Urteil, nacheinander zwei verschiedene Entscheide. Im ersten hebt es das Urteil auf, das Gegenstand des Revisionsgesuchs ist, und im zweiten befindet es über die Beschwerde, mit der es sich zuvor befasst hatte (vgl. Art. 128 Abs. 1 BGG; Urteil 9F_20/2022 vom 8. Januar 2024 E. 1.2, zur Publikation vorgesehen). Trifft die Begründung des Revisionsgesuchs nicht zu, wird es vom Bundesgericht abgewiesen.
2.2. Gemäss Art. 122 BGG kann die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts wegen Verletzung der EMRK verlangt werden, wenn der EGMR in einem endgültigen Urteil (Art. 44 EMRK) festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, oder den Fall durch eine gütliche Einigung (Art. 39 EMRK) abgeschlossen hat (lit. a), eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen (lit. b), und die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen (lit. c). Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein (BGE 143 I 50 E. 1.2). Das Gesuch ist beim Bundesgericht innert 90 Tagen einzureichen, nachdem das Urteil des EGMR gemäss Art. 44 EMRK endgültig geworden ist (Art. 124 Abs. 1 lit. c BGG).
2.3. Der Gesuchsteller beruft sich auf den Revisionsgrund von Art. 122 BGG. Das ihn betreffende Urteil des EGMR ist am 12. Dezember 2023 ergangen. Mit der Einreichung des Revisionsgesuchs am 26. Februar 2024 ist die 90-tägige Frist gewahrt. Der Gesuchsteller macht im Wesentlichen geltend, der EGMR habe einen schweren Eingriff in seine Privatsphäre festgestellt. Die ihm deswegen zugesprochene Entschädigung von 8'000 Euro decke bei Weitem nicht den Schaden, der ihm "durch das IV-Verfahren" entstanden sei, zumal er Renten zurückerstatten solle. Das Verfahren sei unfair gewesen, weil bei der Erstellung des MEDAS-Gutachtens die Ergebnisse der illegalen Observation berücksichtigt worden seien. Es brauche eine neue medizinische Begutachtung durch neutrale Experten. Ob der Gesuchsteller damit den Revisionsgrund von Art. 122 BGG genügend substanziiert darlegt, kann angesichts des Ausgangs des Verfahrens offenbleiben.
3.
3.1. In seinem Urteil vom 12. Dezember 2023 stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Das Urteil erging durch einen Ausschuss von drei Richtern (vgl. Art. 26 Ziff. 1 und Art. 28 Ziff. 1 EMRK ) und ist gemäss Art. 28 Ziff. 2 EMRK endgültig. Damit ist die Voraussetzung des Art. 122 lit. a BGG - auch wenn darin betreffend die Endgültigkeit des EGMR-Urteils nur Art. 44, nicht aber Art. 28 Ziff. 2 EMRK erwähnt wird (vgl. Urteil 5F_22/2023 vom 7. Dezember 2023 E. 2) - hinsichtlich des Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens erfüllt.
Hingegen scheidet die Revision der hier interessierenden Bundesgerichtsurteile wegen Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) von vornherein aus: Diesbezüglich qualifizierte der EGMR die Verwendung der heimlich aufgenommenen Dokumente in den interessierenden Verfahren des Gesuchstellers nicht als Verstoss gegen die garantierten Anforderungen an die Fairness; er hielt die Beschwerde im entsprechenden Umfang für offensichtlich unbegründet und daher unzulässig. Betreffend die Verfahrensdauer begründete er die Unzulässigkeit der Beschwerde mit der fehlenden Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe.
3.2. Für die Revision eines bundesgerichtlichen Urteils besteht kein Anlass mehr, wenn der EGMR eine die Folgen der Konventionsverletzung ausgleichende Entschädigung gesprochen hat. Möglich bleibt die Revision nur insoweit, als sie geeignet und erforderlich ist, um über die finanzielle Abgeltung hinaus fortbestehende, konkrete nachteilige Auswirkungen der Konventionsverletzung im Rahmen des ursprünglichen Verfahrens zu beseitigen. Stehen materielle Interessen zur Diskussion, bezüglich welcher die Konventionsverletzung zwar mit einer Entschädigung grundsätzlich vollständig gutgemacht werden könnte, hat der EGMR aber eine Entschädigung abgelehnt, weil ein Schaden fehlt, oder hat er sich mangels eines entsprechenden Begehrens über das Vorliegen eines Schadens nicht ausgesprochen, so kommt die Revision durch das Bundesgericht nicht mehr in Frage (BGE 143 I 50 E. 2.2).
Der Gesuchsteller machte beim EGMR u.a. einen Schadenersatz zufolge der Rentenaufhebung von rund 12'000'000 Euro und eine Genugtuung von rund 36'000 Euro geltend. Der EGMR erkannte keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung von Art. 8 EMRK und dem behaupteten materiellen Schaden (dommage matériel), weshalb er den Antrag auf Schadenersatz abwies. Weil er der Ansicht war, dass die festgestellte EMRK-Verletzung dem Betroffenen eine gewisse Not und Angst verursacht haben musste (dommage moral), sprach er ihm eine Entschädigung für immateriellen Schaden von 8'000 Euro zu. Damit kann nicht gesagt werden, dass die durch den EGMR zugesprochene Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der festgestellten Konventionsverletzung auszugleichen. Die Voraussetzung des Art. 122 lit. b BGG ist nicht erfüllt.
3.3. Schliesslich wurde der hier interessierende Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens bereits mit der Beendigung der Observation beseitigt; die Revision eines Bundesgerichtsurteils ist dafür nicht notwendig. Damit fehlt es auch an der Voraussetzung des Art. 122 lit. c BGG. Die Revisionsgesuche sind unbegründet.
4.
Nach dem Gesagten scheidet die unentgeltliche Prozessführung wegen Aussichtslosigkeit der Revisionsgesuche aus (Art. 64 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer wird grundsätzlich kostenpflichtig, indessen kann umständehalber auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet werden (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verfahren 9F_4/2024 und 9F_5/2024 werden vereinigt.
2.
Die Revisionsgesuche werden abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 20. März 2024
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Dormann