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[AZA 0] 
1P.219/2000/boh 
 
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG 
********************************** 
 
20. April 2000 
 
Es wirken mit: Bundesrichter Nay, präsidierendes Mitglied 
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter 
Aeschlimann, Bundesrichter Favre und Gerichtsschreiber Störi. 
 
--------- 
 
In Sachen 
E.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Gino Keller, Seidenstrasse 36, Brugg, 
 
gegen 
Bezirksgericht Brugg, Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, 
 
betreffend 
persönliche Freiheit sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK 
(Haftentlassung), hat sich ergeben: 
 
A.- Das Bezirksgericht Brugg verurteilte E.________ am 22. Februar 2000 wegen mehrfachen Verweisungsbruches (Art. 291 StGB), mehrfachen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Ziff. 1 BetmG), Fahrens in angetrunkenem Zustand (Art. 91 Abs. 1 SVG) sowie Nichtbeachtens eines polizeilichen Haltezeichens (Art. 27 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 90 Ziff. 1 SVG) zu 18 Monaten Gefängnis unbedingt, unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungshaft von 333 Tagen, und einer Busse von Fr. 1'000.--. Gleichzeitig beschloss das Gericht, der Angeklagte habe "zur Sicherheit des Strafvollzuges in Haft" zu bleiben. 
 
 
 
Gegen die Anordnung von Sicherheitshaft beschwerte sich E.________ beim Obergericht des Kantons Aargau mit dem Antrag, sie aufzuheben und ihn sofort, eventuell am 20. März 2000, aus der Haft zu entlassen. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, wenn er das erstinstanzliche Urteil akzeptiere, würde er nach 2/3 der Strafdauer in wenigen Tagen aus der Haft entlassen. In Kenntnis dieser Sachlage gedenke er, das Urteil anzufechten, was aber nicht dazu führen dürfe, dass er deswegen länger in Haft gehalten werde. 
 
Mit Entscheid vom 22. März 2000 wies die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aargau die Beschwerde von E.________ ab (Dispositiv-Ziffer 1). Es auferlegte ihm die Verfahrenskosten (Dispositiv-Ziffer 2) und entschädigte den amtlichen Verteidiger aus der Gerichtskasse (Dispositiv-Ziffer 3). 
 
Am 7. April 2000 erhob E.________ beim Obergericht Berufung gegen das Urteil des Bezirksgerichts Brugg vom 22. Februar 2000. 
B.-Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom gleichen Tag wegen Verletzung von Art. 4 aBV, der persönlichen Freiheit, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und § 67 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO) beantragt E.________: 
 
 
"1. Das Urteil der Beschwerdekammer in Strafsachen des 
Aargauischen Obergerichts vom 22.03.2000, 
ST.2000. 00169, eb,Ziff. 1 und 2, sei aufzuheben und 
der Beschwerdeführer sei umgehend aus der Haft zu 
entlassen. Zudem seien die obergerichtlichen Kosten 
auf die Staatskasse des Kantons Aargau zu nehmen. 
 
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten 
der Staatskasse des Kantons Aargau. 
 
3. Auf die Erhebung eines Kostenvorschusses sei zu 
verzichten. 
 
4. Dem Beschwerdeführer sei für das obergerichtliche 
und das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche 
Rechtspflege zu bewilligen und der unterzeichnete 
Anwalt sei als dessen unentgeltlicher Anwalt 
einzusetzen.. " 
 
Das Bezirksgericht Brugg und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht eine Verletzung der persönlichen Freiheit, von Art. 4 aBV und von Art. 6 Ziff. 1 EMRK vor. Er beruft sich damit auf die EMRK und die alte Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, die im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheides nicht mehr in Kraft war. 
Das schadet ihm insofern nicht, als die von ihm angerufenen Grundrechte ins neue Recht überführt worden sind. Er macht somit sinngemäss die Verletzung von Art. 9 und Art. 10 Abs. 2 der Bundesverfassung vom 18. April 1999 (BV) geltend, wozu er legitimiert ist (Art. 88 OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c; 121 I 334 E. 1c), einzutreten ist. 
 
b) Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Anordnung von Sicherheitshaft kann, ausser der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, auch die sofortige Entlassung aus der Haft verlangt werden (BGE 115 Ia 293 E. 1a). Der entsprechende Antrag des Beschwerdeführers ist daher zulässig. 
 
c) Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen die Haftanordnung erhoben werden, prüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts grundsätzlich frei (BGE 117 Ia 72 E. 1; 114 Ia 281 E. 3). 
 
2.- a) Das Bezirksgericht Brugg hat im Urteil vom 22. Februar 2000 seinen Beschluss, den Beschwerdeführer in Sicherheitshaft zu nehmen, nicht begründet. Dem angefochtenen Urteil des Obergerichts lässt sich nicht entnehmen, aufgrund welcher gesetzlicher Grundlagen er sich in Haft befindet. Der Beschwerdeführer rügt dies indessen nicht, sondern geht unwidersprochen und damit wohl zu Recht davon aus, dass er in Anwendung von § 67 Abs. 2 StPO "zur Sicherung des Strafvollzuges nach der Beurteilung" in Haft genommen wurde. Unter dem Gesichtswinkel von Art. 10 Abs. 2 BV ist die Anordnung von Sicherheitshaft grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn ausser dem dringenden Tatverdacht, der unbestritten ist und mit der erstinstanzlichen Verurteilung ohnehin feststeht, Fluchtgefahr gegeben ist. 
 
 
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts genügt die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein nicht für die Annahme von Fluchtgefahr. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 2a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6). 
 
c) Der Beschwerdeführer hat mittlerweile rund 13 Monate seiner erstinstanzlichen Strafe verbüsst, weshalb die zu verbüssende Reststrafe als Fluchtanreiz nur noch wenig - und stark abnehmend - ins Gewicht fällt. Immerhin hat der Beschwerdeführer, gegen den eine lebenslängliche Landesverweisung besteht, keinen ersichtlichen Grund, eine allfällige Reststrafe freiwillig zu verbüssen, so dass das Obergericht ohne Verletzung der Verfassung Fluchtgefahr annehmen durfte. Dies umso mehr, als keineswegs schon feststeht, dass dem Beschwerdeführer die für die bedingte Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe nach Art. 38 Abs. 1 StGB erforderliche gute Prognose ohne weiteres gestellt werden kann. Aus diesem Grund erweist sich auch der Vorwurf, seine weitere Inhaftierung verstosse gegen das von Art. 6 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren, weil er bei einem Rückzug seiner Berufung umgehend aus der Haft entlassen werden müsste, als von vornherein unbegründet. 
Das Obergericht konnte daher auch stillschweigend darüber hinweggehen, ohne das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers zu verletzen. 
 
d) Allerdings ist das Obergericht darauf hinzuweisen, dass sich die verbüsste Strafe rasch der zu erwartenden Maximalstrafe von 18 Monaten nähert, die auf Berufung des Beschwerdeführers hin nur bestätigt oder gesenkt, nicht aber erhöht werden kann. Will es den Beschwerdeführer bis zu seinem Berufungsurteil in Sicherheitshaft behalten, so wird es binnen kürzester Frist über die Berufung zu entscheiden haben. 
Unter den gegebenen Umständen wird die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft über 3/4 der Maximalstrafe hinaus verfassungsrechtlich immer problematischer. 
 
3.- a) Das Obergericht hat auf Gesuch des Beschwerdeführers hin die Kosten seines Vertreters auf die Gerichtskasse genommen, ihm aber die Verfahrenskosten auferlegt. Zur Begründung führt es an, nach aargauischer Strafprozessordnung erschöpfe sich die unentgeltliche Rechtspflege in der Beiordnung eines unentgeltlichen Verteidigers. Im Übrigen könne der Beschwerdeführer nicht als mittellos bezeichnet werden, seien doch bei ihm laut bezirksgerichtlichem Urteil über 11'000 Franken beschlagnahmt worden. 
 
Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe seine Mittellosigkeit willkürlich verneint, da er über die beschlagnahmten Werte nicht verfügen könne. 
 
b) Das Obergericht hat es mit zwei voneinander unabhängigen Begründungen abgelehnt, die Verfahrenskosten auf die Gerichtskasse zu nehmen. Der Beschwerdeführer greift in der staatsrechtlichen Beschwerde nur eine davon an, was nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur Folge hat, dass auf die Rüge als Ganzes nicht einzutreten ist (BGE 115 II 288 E. 4; 113 Ia 94 E. 1a/bb). 
 
4.- Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). 
Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war und die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ausreichend glaubhaft gemacht ist (Art. 152 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen: 
 
a) Es werden keine Kosten erhoben. 
b) Fürsprecher Gino Keller wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter eingesetzt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt. 
 
3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksgericht Brugg und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
______________ 
Lausanne, 20. April 2000 
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Das präsidierende Mitglied: 
 
Der Gerichtsschreiber: