Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_292/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 20. September 2016  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Ursula Sintzel, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. März 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
 
A.a. Der 1961 geborene A.________ ist seit Geburt gehörlos (mit Hörrest). Er schloss im Jahr 1982 eine durch die Invalidenversicherung finanzierte erstmalige berufliche Ausbildung zum Karosserieschlosser ab und arbeitete seit dem 10. März 1989 als Mitarbeiter Produktion für die B.________ AG.  
 
A.b. Am 7. Juli 2014 meldete eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle für Gehörlose und Hörbehinderte A.________ bei der IV zur Früherfassung an, da er seine Stelle bei der B.________ AG per Ende 2014 betriebsbedingt verlieren werde. Die Anmeldung zum Leistungsbezug bei der IV erfolgte am 22. Juli 2014. Die IV-Stelle des Kantons Zürich gewährte A.________ Frühinterventionsmassnahmen in Form von Arbeitsvermittlung (Mitteilung vom 4. September 2014). Am 27. November 2014 ersuchte der Versicherte um Kostengutsprache für einen Gebärdensprachdolmetscher am Arbeitsplatz. Die IV-Stelle teilte ihm am 29. Dezember 2014 mit, sie werde die Kosten für die Dienstleistungen Dritter in Form von Gebärdensprachdolmetscher ab 1. November 2014 bis 31. Dezember 2019 übernehmen.  
 
A.c. A.________ sowie seine Arbeitgeberin beantragten am 27. November 2014 resp. am 10. Dezember 2014 die Übernahme von Gebärdensprachdolmetscherkosten für einen viertägigen Staplerfahrerkurs vom 8. bis 11. Dezember 2014. Diesen absolvierte der Versicherte erfolgreich. Mit Verfügung vom 5. Februar 2015 lehnte die IV-Stelle den Antrag gestützt auf die Auskünfte eines Sicherheitsingenieurs der Abteilung Arbeitssicherheit der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) vom 18. Dezember 2014 nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren ab.  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde von A.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 22. März 2016 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der Entscheid vom 22. März 2016 und die diesem zugrunde liegende Verfügung vom 5. Februar 2015 seien aufzuheben. Ihm seien die Dolmetscherkosten während der vom 8. bis 11. Dezember 2014 stattgefundenen, viertägigen Staplerfahrerschulung zu vergüten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.2. Die Verletzung von Grundrechten prüft das Bundesgericht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). In der Beschwerde ist klar und detailliert anhand der Erwägungen des angefochtenen Entscheids darzulegen, inwiefern die angerufenen Rechte verletzt worden sein sollen (BGE 141 I 36 E. 1.3 S. 41 mit Hinweisen).  
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz bundesrechtskonform entschied, die Invalidenversicherung habe die behinderungsbedingten Mehrkosten (Gebärdensprachdolmetscher) zur Erlangung der Ausbildung als Staplerfahrer im Rahmen der beruflichen Weiterausbildung (Art. 16 Abs. 2 lit. c IVG) nicht zu übernehmen. 
Im angefochtenen Entscheid wurden die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen, insbesondere auf Übernahme der invaliditätsbedingten zusätzlichen Kosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung und der - dieser gleichgestellten - beruflichen Weiterausbildung (Art. 8 in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 sowie Abs. 2 lit. c IVG; Art. 5 und 5 bis IVV) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt bezüglich Begriff und Ermittlung der zusätzlichen Kosten im Sinne von Art. 16 IVG (Art. 5 und 5 bis IVV). Darauf wird verwiesen.  
 
3.   
 
3.1. Das kantonale Gericht erwog, die Weiterausbildung zum Staplerfahrer sei für den gehörlosen Beschwerdeführer nicht geeignet und trage auch nicht dazu bei, seine Erwerbsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern. Somit bestehe kein Anspruch auf Vergütung der Gebärdensprachdolmetscherkosten für den Staplerfahrerkurs. Der Beschwerdeführer rügt, die Behauptung, er sei für die Ausbildung zum Staplerfahrer nicht geeignet, erweise sich als offensichtlich unrichtig und sei deshalb willkürlich. Soweit das kantonale Gericht zum Schluss komme, dass die Staplerfahrerausbildung generell für Gehörlose zu gefährlich sei, verletze dies Bundesrecht.  
 
3.2. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer eine viertägige Ausbildung zum Staplerfahrer bei einem von der Suva anerkannten Kursveranstalter erfolgreich absolvierte. Streitig ist die vom Bundesgericht frei zu prüfende Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_179/2016 vom 11. August 2016 E. 4.2.2; MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 35f zu Art. 105 BGG), ob die Ausübung der Tätigkeit als Staplerfahrer für gehörlose Menschen als geeignet im Sinne von Art. 8 Abs. 1 lit. a IVG bezeichnet werden kann.  
 
3.2.1. Die Vorinstanz stützte sich im angefochtenen Entscheid wesentlich auf Informationen der Suva zur Ausbildung von Staplerfahrern (abrufbar unter www.suva.ch), welche unter dem Titel "Auswahl der Staplerfahrer" insbesondere eine "körperliche Eignung (gutes Seh- und Hörvermögen, körperliche Beweglichkeit, gutes Reaktionsvermögen) " voraussetzen. Ebenfalls zog das kantonale Gericht zur Beurteilung die von der Beschwerdegegnerin eingeholten Auskünfte eines Sicherheitsingenieurs der Abteilung Arbeitssicherheit der Suva vom 18. Dezember 2014 bei. Dieser erklärte, dass Warnsignale, Zurufe und Maschinenklang anderer Fahrzeuge gehört werden sollten. Zudem sei das Gesichtsfeld durch Aufbauten am Fahrzeug, hohe seitliche Lageraufbauten und die Lasten selbst deutlich eingeschränkt, weshalb "die Akustik", insbesondere seitwärts, zwingend vorausgesetzt werde. Aus arbeitsmedizinischer Sicht sei das Staplerfahren für eine gehörlose Person mit einem hohen Risiko verbunden und diese für eine solche Tätigkeit als ungeeignet zu betrachten.  
 
3.2.2. Das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) hat sich im Urteil U 9/94 vom 29. Juni 1994 (in: RKUV 1994 Nr. U 203 S. 313) - in Zusammenhang mit einer Anordnung der Suva, eine Firma habe ihre Staplerfahrer hinreichend ausbilden zu lassen - mit den einschlägigen beruflichen Anforderungen auseinandergesetzt und erwogen, das Führen eines Staplers berge, insbesondere bei unsachgerechter Handhabung des Fahrzeugs, das Risiko erheblicher Verletzungsgefahren für den Fahrer selbst und für Dritte. Der Umstand, dass der Stapler für den Transport schwerer Lasten eingesetzt werde, sich meistens auf engem Raum bewege, und dass sich andere Personen in der Nähe aufhielten, lasse das Staplerfahren als gefährliche Arbeit im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten (VUV; SR 832.30) erscheinen (bereits zitiertes Urteil U 9/94 E. 4b). Das EVG berücksichtigte dabei unter anderem Ziff. 3.1 der Richtlinie der Suva über Flurförderzeuge vom Februar 1990, wonach Flurförderzeuge, zu welchen Fahrzeugen die Stapler gehören, nur durch ausgebildetes Personal bedient werden dürften.  
 
3.2.3. Die Vorgaben der Suva für die Auswahl eines Staplerfahrers sind zwar Empfehlungen, die für die Gerichte keinen verbindlichen Charakter haben. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass zu den Hauptaufgaben der Suva unter anderem gerade die Unfallverhütung (insbesondere auch Arbeitssicherheit zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten [Art. 81-87 UVG]) gehört und sie entsprechend in diesem Bereich spezialisiert ist. Die Empfehlungen enthalten fachspezifische Gesichtspunkte, denen in der hier zu beurteilenden Konstellation besonderes Gewicht zukommt, weil sich im Bereich der Unfallverhütung das Mass der im Einzelfall zu beachtenden Sorgfalt nach allgemein anerkannten Verkehrsregeln richtet, auch wenn diese von einem privaten oder halböffentlichen Verband erlassen wurden und keine Rechtsnormen darstellen (Urteil 6P.170/2006 und 6S.382/2006 vom 2. November 2006 E. 6.1 mit Hinweis auf BGE 130 IV 7 E. 3.3 S. 11).  
 
3.2.4. Nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung (vgl. statt vieler BGE 138 II 300 E. 3.6.2 S. 308) sind widersprüchliche Entscheide im Rahmen des Möglichen zu vermeiden. Die IV soll somit nicht eine Weiterausbildung zu einer Tätigkeit mitfinanzieren, deren Ausübung als Verstoss gegen die der Unfallverhütung dienenden Vorgaben der Suva qualifiziert werden könnte. Wenn die Vorinstanz die Weiterausbildung zum Staplerfahrer, welche zu einer im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Satz 1 VUV gefährlichen Arbeit gerechnet wird, gestützt auf die von der Suva erarbeiteten generellen Informationen und deren spezifische Auskünfte als grundsätzlich ungeeignet für gehörlose Menschen erachtet hat, ist ihr Entscheid bereits unter diesem Gesichtswinkel bundesrechtskonform. Wie das kantonale Gericht zu Recht erwog, ist zwar nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall eine gehörlose Person als Staplerfahrer tätig sein kann. Solches ist denkbar, wenn die konkrete Arbeitsumgebung für Gehörlose besonders risikoarm ist (z.B. in einem übersichtlichen Lager ohne grössere seitliche Lageraufbauten und keiner unangekündigten Präsenz von Drittpersonen etc.) oder das fehlende Hörvermögen durch spezifische sichtbare Warnsignale hinreichend kompensiert werden kann. Nachdem der Beschwerdeführer indes die Weiterausbildung nicht im Hinblick auf eine solche konkret geeignete Stelle absolviert hat, bleibt es dabei, dass die Vorinstanz zu Recht eine generelle Eignung der Staplerfahrerausbildung für gehörlose Personen verneint hat.  
 
3.3. Schliesslich ist die Eignungsbeurteilung nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz nicht auf die zeitlich beschränkten Umstände während der beruflichen Weiterausbildung, sondern auf deren Ziel zu beziehen. Es ist demnach zu fragen, ob die nach Abschluss der Weiterausbildung beabsichtigte und mögliche Ausübung des Berufes auch der Behinderung der versicherten Person angepasst ist (vgl. Urteil I 285/05 vom 23. Dezember 2005 E. 3.2.3). Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, er habe bereits den Tatbeweis erbracht, dass die Tätigkeit für ihn als gehörlose Person geeignet und nicht gefährlich sei, indem er den Kurs und die Abschlussprüfung mit sehr guter Bewertung und ohne Probleme bei einem von der Suva anerkannten Kursveranstalter bestanden habe, hat die Vorinstanz demgegenüber zu Recht festgehalten, dass die geordnete Ausbildungssituation nicht mit der täglichen Arbeit vergleichbar ist (vgl. Stellungnahme der Suva vom 18. Dezember 2014, E. 3.2.1 hievor). Dass der Kurs in einer anerkannten Ausbildungsstätte für Staplerfahrerschulung absolviert wurde, fällt für die Frage der gesundheitlichen Eignung der Ausbildung mit Blick auf die spätere Berufsausübung unter den durchschnittlichen Verhältnissen des Arbeitsmarktes (vgl. Art. 16 ATSG) nicht ins Gewicht.  
 
4.   
Die gerügten Verletzungen verfassungsmässiger Rechte (Gleichbehandlungsgebot, Diskriminierungsverbot und faktisches Berufsverbot), soweit sie überhaupt den erhöhten Begründungsanforderungen genügen (vgl. E. 1.2 hievor), und die geltend gemachte Verletzung von Art. 2 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG; SR 151.3) dringen nicht durch. Nach dem Gesagten beruht die Leistungsabweisung auf sachlichen Gründen. Damit bleibt es beim angefochtenen Entscheid. 
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Das Bundesgericht erkennt:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 20. September 2016 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Glanzmann 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber