Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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{T 0/2}
6B_724/2014
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Urteil vom 20. November 2014
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Denys, Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiberin Schär.
Verfahrensbeteiligte
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
Beschwerdeführerin,
gegen
X.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Rechtsmittellegitimation nach kantonalem Rückweisungsverfahren (schwere Körperverletzung usw.),
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 17. Juni 2014.
Sachverhalt:
A.
A.a. Das Geschworenengericht des Kantons Zürich verurteilte X.________ am 17. Dezember 2010 wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 6 Monaten. Dem Schuldspruch lagen schwerwiegende Kindsmisshandlungen zugrunde, die er während eines längeren Zeitraumes begangen hatte.
A.b. X.________ führte gegen das Urteil des Geschworenengerichts Beschwerde beim Kassationsgericht des Kantons Zürich. Dieses hiess die Beschwerde am 14. Mai 2012 wegen Verletzung des Anklageprinzips gut und überwies die Sache zur Neubeurteilung an das Bezirksgericht Pfäffikon, welches mittlerweile an die Stelle des Geschworenengerichts getreten war.
A.c. Das Bundesgericht trat am 6. November 2012 auf die Beschwerde der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen den Rückweisungsentscheid nicht ein.
A.d. Am 19. April 2013 überwies die Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich das Verfahren zufolge Vorbefassung des Bezirksgerichts Pfäffikon an das Bezirksgericht Winterthur zur Behandlung.
B.
B.a. Am 6. September 2013 sprach das Bezirksgericht Winterthur X.________ erneut wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung schuldig und bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 6 Monaten.
B.b. Gegen das Urteil des Bezirksgerichts Winterthur erhob die Staatsanwaltschaft Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich. Das Obergericht trat am 17. Juni 2014 auf die Berufung nicht ein.
C.
Die Oberstaatsanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 17. Juni 2014 sei aufzuheben, so dass die Vorinstanz auf die staatsanwaltschaftliche Berufung vom 9. September 2013 im Sinne der Berufungserklärung vom 24. Januar 2014 einzutreten habe.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, mangels Erfolgsaussichten habe sie gegen das geschworenengerichtliche Urteil kein Rechtsmittel ergriffen. Weder die Höhe der Strafe noch die Frage der Anordnung einer Verwahrung seien der kantonalzürcherischen Nichtigkeitsbeschwerde respektive der bundesrechtlichen Beschwerde in Strafsachen zugänglich gewesen. Seit dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung (SR 312.0) am 1. Januar 2011 sei gestützt auf die übergangsrechtliche Bestimmung des Art. 453 Abs. 2 Satz 1 StPO neues Prozessrecht anwendbar. Somit stehe gegen das Urteil des Bezirksgerichts Winterthur das vollkommene Rechtsmittel der Berufung zur Verfügung. Ergreife die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel zu Ungunsten des Beschuldigten respektive des Verurteilten, gelte das Verbot der reformatio in peius nicht. Das Berufungsgericht könne daher sowohl eine höhere Strafe aussprechen als auch die Verwahrung anordnen. Die Vorinstanz gehe fälschlicherweise davon aus, an das Verschlechterungsverbot gebunden zu sein. Der vorinstanzliche Beschluss sei bundesrechtswidrig und verstosse gegen Art. 391 Abs. 2 Satz 1, Art. 403 Abs. 1 und Art. 453 Abs. 2 Satz 1 StPO .
1.1. Die Vorinstanz erwägt, sowohl nach der alten kantonalen als auch nach der neuen Schweizerischen Strafprozessordnung sei das Verbot der reformatio in peius zu beachten. Dieses gelte im Rückweisungsverfahren wie auch im anschliessenden Berufungsverfahren. Aufgrund des gegenüber dem geschworenengerichtlichen Urteil geltenden Verschlechterungsverbots könne weder eine höhere Strafe verhängt noch die Verwahrung angeordnet werden. Dass mit der Berufung heute ein Rechtsmittel mit voller Kognition zur Verfügung stehe, stehe mit dem Verschlechterungsverbot in keinem Zusammenhang. Die Staatsanwaltschaft müsse sich entgegenhalten lassen, dass sie das Urteil des Geschworenengerichts nicht im Rahmen der möglichen Beschwerdegründe angefochten habe. Dies wäre auch bei eingeschränkter Kognition der Rechtsmittelinstanzen möglich gewesen. Woher die Staatsanwaltschaft die Gewissheit nehme, dass auf die Beschwerden gar nicht erst eingetreten worden wäre, sei nicht ersichtlich. Mit dem Verzicht habe sie die verhängte Strafe akzeptiert. Wenn die Staatsanwaltschaft nun eine längere Freiheitsstrafe und die Verwahrung fordere, verlange sie etwas Unmögliches. Es fehle ihr an der Rechtsmittellegitimation, weshalb auf die Berufung nicht eingetreten werden könne.
1.2. Seit dem 1. Januar 2011 ist die Schweizerische Strafprozessordnung in Kraft. Gemäss der übergangsrechtlichen Bestimmung von Art. 453 Abs. 2 Satz 1 StPO gilt neues Recht, wenn ein Entscheid von einer Rechtsmittelinstanz zur neuen Beurteilung zurückgewiesen wird. Sowohl im Rückweisungsverfahren als auch im Berufungsverfahren gelangt demnach das neue Recht zur Anwendung. Das Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung brachte für den Kanton Zürich einen Wechsel des Rechtsmittelsystems mit sich. Erstinstanzliche Strafentscheide sind seither mit dem einheitlichen Rechtsmittel der Berufung (Art. 398 ff. StPO) anfechtbar. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft das Urteil des Geschworenengerichts bereits unter der Geltung der zürcherischen Strafprozessordnung mittels der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde (§ 428 ff. der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919; StPO/ZH) oder der bundesrechtlichen Beschwerde in Strafsachen hätte anfechten können.
1.3. Nachdem die Staatsanwaltschaft - aus welchen Gründen auch immer - darauf verzichtet hat, gegen das erstinstanzliche Urteil des Geschworenengerichts ein Rechtsmittel zu ergreifen, gelangt das Verbot der reformatio in peius zur Anwendung. Der bereits dem früheren kantonalen Recht (§ 399 StPO/ZH) bekannte und heute in Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO verankerte Grundsatz besagt, dass Entscheide nicht zum Nachteil der beschuldigten oder verurteilten Person abgeändert werden dürfen, wenn das Rechtsmittel nur zu deren Gunsten ergriffen worden ist. Daraus folgt, dass die Staatsanwaltschaft, wenn sie eine schärfere Bestrafung erreichen will, selbst das entsprechende Rechtsmittel einzulegen hat ( NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, N. 1490 mit Hinweisen). Die ratio legis des Verbots der reformatio in peius besteht darin, dass die verurteilte Person nicht aus Angst vor einer strengeren Bestrafung von der Ergreifung eines Rechtsmittels abgehalten werden soll (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1311 Ziff. 2.9.1; BGE 139 IV 282 E. 2.4.3 S. 287 mit Hinweisen).
Das angefochtene Urteil des Bezirksgerichts Winterthur erging im Rahmen eines Rückweisungsverfahrens, nachdem der Beschwerdegegner allein ein Rechtsmittel eingelegt und das kantonale Kassationsgericht das seinerzeitige Urteil des Geschworenengerichts aufgehoben hatte. Das Verschlechterungsverbot gilt nicht nur in dem vom Beschuldigten allein initiierten Rechtsmittelverfahren, sondern gelangt auch im Fall der Neubeurteilung nach Rückweisung an die untere Instanz zur Anwendung ( VIKTOR LIEBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 8 zu Art. 391 StPO). Daran ändert auch das Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung nichts. Wie die Vorinstanz treffend ausführt, wurden die "Zähler" mit der Rechtsänderung und der darauffolgenden Rückweisung nicht "quasi wieder auf Null gestellt". Würde man die Berufung der Staatsanwaltschaft zulassen und eine höhere Strafe ausfällen oder die Verwahrung anordnen, liefe dies dem Grundgedanken des Verbots der reformatio in peius zuwider. War es doch einzig der Beschwerdegegner, welcher gegen das geschworenengerichtliche Urteil ein Rechtsmittel ergriffen hatte. Hätte er darauf verzichtet, wäre das Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen und er hätte keine Verschlechterung zu befürchten.
2.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem Beschwerdegegner ist keine Parteientschädigung auszurichten, da ihm im bundesgerichtlichen Verfahren keine Kosten entstanden sind.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, und Rechtsanwältin Gabriela Gwerder, Zürich, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 20. November 2014
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Mathys
Die Gerichtsschreiberin: Schär